Seine Knie beginnen zu schmerzen, dazu ein stechender Schmerz in der Hüfte. Hoffen und Harren macht Manchen zum Narren. Und noch immer hält der Schwimmer unverändert seine Position, zielt mit seiner Achse auf die Rutenspitze.
Irgendwo muss mein großer Fisch sein. Aber vielleicht bin ich nicht so stark wie ich mir einbilde. Und ich kenne auch keine Tricks, die einem beim Angeln helfen können. Alles was ich habe ist ein starker Wille. Und Zähigkeit. Bis zu einem gewissen Grad wenigstens.
Dem alten Fischer hat es geholfen, dass er gebetet hat. Vaterunser und Ave-Marias, in einer Tour. Selbstgespräche hat er auch geführt. Er war ja auch mutterseelenallein. Ich hab wenigstens die Jungens.
Zuhause werde ich den Roman nochmal lesen. Wahrscheinlich gibt es da einen religiösen Aspekt, den ich seinerzeit nicht bemerkt habe. Bestimmt sogar. Der alte Mann ist gläubig, gut katholisch, also ist es der Verfasser auch. Das Ganze könnte eine Parabel sein. Der alte Mann ist jedenfalls eine echte Leidensfigur. Wird er nicht verhöhnt und verspottet von seinen Kollegen? Trägt er nicht Wunden davon? Die Haie sind natürlich das Böse. Und der Fisch… Der Fisch spielt im Christentum ja eine wichtige Rolle. Neben Lamm und Taube natürlich. Als Symbol für unseren Herrn und Heiland, und als Symbol für die Gläubigen.
In der Geschichte wechselt das Meer über den Tag seine Farbe. Himmelblau, dunkelblau, violett. Das Plankton färbt es rot, der Seetang gelb. Der Rhein sieht mehr oder weniger immer gleich grau aus. Hat wahrscheinlich mit der Tiefe zu tun. Ein Fluss ist ja nur eine Pfütze, verglichen mit dem Meer. Komisch, dass es für das Meer mehrere Ausdrücke gibt. Der Ozean. Die See. An der Nordsee sagen sie blanker Hans dazu. Der große Teich. Die Indianer nannten es das große Wasser. Für Fluss kann man auch Strom sagen. Aber damit hat es sich.
Auf einmal sieht es so aus, als würde der Schwimmer zittern. Es kann gar nicht anders sein: Etwas Lebendiges macht sich heimlich am anderen Ende der Schnur zu schaffen. Die sichtbare Gier. Die Gier, die blind macht gegenüber Täuschung und Verrat.
„Da!“ ruft er mit heiserer Stimme. „Ich glaube, da schnuppert einer am Wurm!“ Geh dran, Fisch. Geh dran. Bitte, geh dran.
Gebannt beobachtet er die Bewegungen des schlanken Korks, der für einen kurzen Augenblick mit ganzer Länge unter der Wasseroberfläche verschwindet, bevor er wieder in seine alte Lage zurückkehrt. Und so bleibt er auch.
Der Fisch wird doch nicht weg sein? Er hebt die Rute ein Stück an, aber er kann keinen Widerstand spüren. Der hatte wohl nur angefasst. Vielleicht war er früher schon einmal an einem Haken und hat sich daran erinnert. Enttäuscht richtet er sich wieder auf. Komm zurück. Riech doch mal. Lecker Wurm.
Ein leichtes Rucken an der Rute lässt ihn erneut aufmerken. Der Schwimmer beginnt, auf der Wasseroberfläche zu nicken und zu kreiseln.
„Da, er ist zurück! Er probiert es wieder!“, ruft er in Richtung der Jungen. Starr vor Spannung, mit zusammengekniffenen Augen, verfolgt er den Weg des rot-weißen Korks, der sich wie ein unruhiger Kompass hierhin und dorthin dreht, ab- und wieder auftaucht, erneut verschwindet und samt der Schnur wilde Kurven unter Wasser beschreibt, sodass die Rutenspitze mal in diese, mal in jene Richtung gelenkt wird und die Schnur mal schlaff, mal straff wie eine Bogensehne im Wasser steht. „Da! Er hat angebissen!“
„Ja, er hat angebissen“, freut sich Jakob neben ihm und hüpft aufgeregt hin und her. „Du bist ein Glückspilz, Herr Mann Josef!“
„Sie“, verbessert ihn Andreas, was Jakob mit einem beleidigten „Jaja, Herr Andreas“ quittiert.
„Was jetzt?“ ruft Adenauer in Andreas‘ Richtung.
„Kurz anschlagen!“ rät Andreas.
„Wie, anschlagen? Mit einem Ruck dagegenhalten?“
„Ja, genau.“
Natürlich. Man kann nicht siegen in der Defensive; man kann nur siegen in der Offensive. Er schlägt die Rute nach oben, aber seinem Anschlag folgt ein heftiges Plantschen, und mit einem Mal spürt er eine lebendige Kraft, die in die andere Richtung zieht. Die Kraft des unbekannten Gegenüber, das nicht heraus will aus seiner Welt. Muss ein gewaltiger Bursche sein, der mir an die Angel gegangen ist. Plötzlich bekommt er Angst, der Fisch könnte sich losreißen, mit oder ohne Vorfach, oder die Rute könnte durchbrechen. Er fühlt, wie sich überall auf seiner Haut ein dünner Schweißfilm ausbreitet, unter seinem Hut fängt es an zu jucken. Dann sieht er dicht unter der Oberfläche die grünlichen Schuppen eines großen Fischs blinken, und sein Puls gerät aus dem Takt.
„Da ist er“, schreit Adenauer. „Ein ganz großer!“ Aus den Augenwinkeln beobachtet er, wie sich Jakob eines Zipfels seines Sommermantels bemächtigt, als würde er sie beide auf diese Weise vor einem Sturz in den Fluss bewahren können.
„Ich komme“, ruft Andreas, zieht seine Angel ein und legt sie vorsichtig auf der Buhne ab, während Adenauer mit angehaltenem Atem den Bewegungen des Fischs folgt. Noch fester packt er die Rute, deren Spitze sich wild biegt und windet, die Leine zum Zerreißen gespannt. Wehrt sich nicht schlecht, der Bursche. Muss ein ordentlicher Karwenzmann sein. Will sein Domizil nicht aufgeben. Kann ich verstehen. Wer will das schon. Aber er muss.
Schlagartig überkommt ihn die Empfindung einer leichten Übelkeit. Als könne er sie auf diese Weise stoppen, legt er den Handrücken an den Mund. Das Metall am Ringfinger ist angenehm kühl an den Lippen. Das Gefühl flaut ab.
Ich muss so lange durchhalten wie der Fisch. Sogar ein kleines bisschen länger, wenn ich ihn besiegen will. Sich bloß nicht die Initiative nehmen lassen. Zieht, ihr Hände. Haltet durch, ihr Beine. Wie im Roman. Dann spuckt er kräftig in den Fluss, wie es der Sonderling vorhin vorgemacht hat. Was für ein kolossaler Blödmann. Hat Scharoun nicht behauptet, Angler hätten eine unzerstörbare gute Laune? Das war wohl früher so.
Wenn er sich nur mal zeigen würde. Der Fischer im Roman kriegt seinen Gegner wenigstens ab und an zu sehen. Ein riesiger Fisch, länger als sein Boot, mit einem langen Speer als Nase, die Schwanzflosse wie eine große Sensenklinge. Da kann er sich drauf einstellen. Ich wüsste auch gern, mit wem ich es zu tun habe. Vielleicht ist er kräftig genug, um mich mit einem Ruck ins Wasser ziehen. Ich an seiner Stelle würde es versuchen. Zum Glück bin ich nicht an seiner Stelle. Zum Glück kann er nicht wissen, dass er es mit einem alten Mann zu tun hat. Bestimmt folgt er bloß seinem Instinkt. Mit Instinkt kann ich nicht dienen. Ich brauche einen Plan, sonst verliere ich diesen Kampf. Will ich aber nicht.