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Sie trafen sich am nächsten Tag um viertel nach Elf auf dem Bahnhof; die Wartezeit verbrachten sie gegenüber in der Filiale einer Boulangerie-Kette. Als sie in den Zug stiegen, hellte der Himmel sich auf, und als der Zug die Ebene mit den Stationen Elzheim, Molsheim, Mutzig und Gresswiller hinter sich gelassen hatte, strahlte er in leuchtendem Blau.


Der Bahnhof von Fouday sah ausgesprochen niedlich aus, wie bei einer Spielzeugeisenbahn. An diesem Haltepunkt war die Strecke eingleisig. Es gab ein Wartehäuschen, aber nicht einmal einen Fahrkartenautomaten. Nur die gefüllten Vogelfutterautomaten in der Platane vor dem Bahnhofsgebäude verrieten, dass das Haus bewohnt war.


Sie folgten dem Schild „chemin de Waldersbach“, das sie oberhalb an einer Kirche vorbeiführte und im Zickzack auf einen Hügel leitete, wo die schmale, anfangs noch auf beiden Seiten mit Häusern bestandene Straße in einen Macadam-Fußweg überging. Bald umfing sie dichter Eichen-und Buchenwald, vereinzelt mit Fichten durchsetzt, dazwischen kräftige alte Haselnusssträucher.


Über einen zur Hügelseite hin mit großen Quadern befestigten Wiesenweg erreichten sie die ersten Gebäude des Dorfes, Wohnstallhäuser mit tief herabgezogenen Schindeldächern und sorgfältig behauenen Tür- und Fensterrahmen aus rotem Sandstein, einige davon mit einem Zinkblechmantel vor der Fassade. Auf einem Hügel stand die kleine, weiß verputzte Kirche mit dem Wetterhahn auf dem Schindeldach, daneben ein riesiger, uralter Lindenbaum. Hinter einem hohen Torbogen lag das Pfarrhaus, aus dessen Kamin gemächlich Rauch in den klaren Himmel stieg, und aus dem Brunnen vor der Hofeinfahrt plätscherte kristallklares Wasser in den bemoosten Sandsteintrog. Sie kamen sich vor wie Zeitreisende, die in einer fernen Vergangenheit angekommen waren. Andächtig blieben sie eine Weile in einiger Entfernung stehen und betrachteten die Idylle, ehe sie an der liebevoll gearbeiteten Tür des Pfarrhauses klingelten.


Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit kurzgeschnittenem, verblichenem blondem Haar und verblichenen blauen Augen unter steifen weißen Augenbrauen öffnete. Er musterte sie gründlich, dann sagte er: „Das Museum ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen.“


„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kim und neigte den Kopf zur Seite, „wir wussten gar nicht, dass es hier ein Museum gibt.“


Alexander gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. „Wir haben eine Frage zu den Kirchenbüchern.“


Über die Stirn des Mannes lief eine lange Falte. „Sie sind Familienforscher?“


„Oh nein“, erwiderte Alexander. „Ich bin Naturwissenschaftler.“


„Und Sie haben, wie man hört, eine weite Reise hinter sich. Woher kommen Sie? Aus England?“


„Aus Washington, USA. Aber meine Frau ist eine halbe Französin aus Paris.“


„Ich bin Benjamin Schweighaeuser, der Pastor dieser Gemeinde, und von Belmont und Bellefosse ebenfalls. Was kann ich für Sie tun?“


„Wir interessieren uns für einen bestimmten Sterbefall aus dem Jahr 1788. Wir wollten in den Kirchenbüchern nachsehen, ob es dort Informationen gibt.“


„Das ist sehr gut möglich. In dieser Zeit war Jean-Frédéric Oberlin hier Pastor, und er –“


Alexander schlug sich an die Stirn. „Daher kenne ich Waldersbach!“


„– und er hat die Register mustergültig geführt.“


„Du kennst den ehemaligen Pfarrer von Waldersbach?“, wunderte sich Kim.


„Nein, das wäre zu viel gesagt“, sagte Alexander und blickte erst Kim, dann den Pastor an. „Aber ich hatte einen lieben Kollegen in Bloomington, der kam aus Ohio und hatte am berühmten Oberlin College studiert. Er hat mir ein bisschen über diesen Mann erzählt. Er muss ein großer Menschenfreund gewesen sein. Und auch Wohltäter für die Menschen in dieser Gegend.“


„Das kann man sagen“, bestätigte Schweighaeuser. „Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass er die Zivilisation ins Steintal gebracht und die Leute aus ihrer Lethargie geholt hat. In Eigenregie wurden Sümpfe trockengelegt, Felsen gesprengt, Brücke und Straßen gebaut, Äcker und Wiesen neu angelegt, und Oberlin immer mittendrin mit Pickel und Spaten, als Seelsorger, Arzt und Handwerker in einer Person. Bis dahin war das Steintal eines der rückständigsten Gebiete in Frankreich gewesen. Man nannte es elsässisch Sibirien.“


„By the way“, warf Alexander ein, „wissen Sie vielleicht, ob es damals im Steintal Sitte war, den Säuglingen den Kopf zu bandagieren?“


Schweighaeuser sah ihn irritiert an. „Sie meinen als Schutz, damit sie sich nicht verletzen?“


„Nein, nicht als Schutz. Um das Wachstum des Kopfes zu beeinflussen. Er dehnt sich dann nach oben aus. Er wird länger.“


Schweighaeuser griff sich an den Kopf. „So wie meiner? Meine Mutter meinte immer, ich hätte einen richtigen Eierkopf, aber es sei nicht ihre Schuld gewesen.“


„In der Frühgeschichte der Menschheit war es sehr beliebt, die Form des Schädels zu manipulieren“, erklärte Alexander. „Man nimmt an, es diente zur Unterscheidung einer bestimmten privilegierten Gruppe oder Kaste.“


Der Pastor schüttelte den Kopf. „Das wäre hier fehl am Platze gewesen. Hier gab es nur ein paar armselige Kleinbauern und Handwerker, Tagelöhner und Waldarbeiter, alle mehr oder weniger arm. Wie kommen Sie darauf, dass hier so etwas praktiziert worden sein könnte?“


„Es war nur eine Vermutung“, sagte Alexander ausweichend.


„Wir haben im Museum in Straßburg eine Zeichnung gesehen“, kam ihm Kim zu Hilfe. „Das hat uns auf die Idee gebracht.“


„Davon habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch kein Volkskundler. Experten für dieses Thema finden Sie sicher in Straßburg. Nach Waldersbach kommen die Leute wegen Oberlin. Manche klingeln bei mir und fragen Dinge, die sie ebenso gut irgendwo nachlesen können. Und ganz Hartnäckige gibt es, die wollen mit mir diskutieren. Hier an der Haustür. Zurzeit ist das große Thema, wenn ich so sagen darf, Oberlins sogenanntes Geheimwissen.“


„Er hatte auch eine dunkle Seite?“ fragte Kim, die froh war, dass Schweighaeuser wieder zu einem eigenen Thema zurückgefunden hatte.


„Mit Okkultismus hatte es nichts zu tun“, erwiderte der Pastor. „Was da geschrieben wird, ist alles aufgebauschter Unsinn. Immerhin, es ist kein Geheimnis, nach dem Tod seiner Frau glaubte er über die Gabe des Geistersehens zu verfügen. Aber mit Spuk im üblichen Sinn hat das nichts zu tun. Es war nur eine weitere Facette seiner Frömmigkeit. Er glaubte, auf diese Weise Zeichen und Botschaften Gottes zu empfangen. Glaube entsteht ja nicht aus dem Wiederkäuen dogmatischer Lehren, sondern an der Schwelle zum Unausdenkbaren. Aber zugleich, und das ist viel bedeutsamer, war er ein Aufklärer, geradezu besessen von den Idealen der Vernünftigkeit und Nützlichkeit. Schulen hat er auch gegründet, und sie wurden sogar besucht. Es gab ja noch keine Schulpflicht in Frankreich. Die Kleinkinderschulen sind ebenfalls seine Erfindung.“

 

 
 
 

„Eine Inventarnummer“, fuhr Hilde mit geschlossenen Augen fort, „wird doch wohl vergeben, wenn eine Sache ins Inventar aufgenommen wird. Also sollte man annehmen, dass es eine Jahreszahl gibt und eine laufende Nummer. Weil wir die Jahreszahl bereits kennen, 1788 nämlich, müssen wir nicht lange herumrätseln, welche Ziffern was bedeuten. Die zweite Zahl kann nur die laufende Nummer sein. Skelett oder Objekt Nr. 36 im Jahr 1788.“



„Und die Buchstaben, BR und W und H?“


„Tja… Eine Inventarisierung geschieht nicht willkürlich, sondern folgt irgendwelchen Regeln. Was würdest Du draufschreiben? Überleg mal.“


Kim zog an ihrer Unterlippe und dachte nach. „Alles, was sich nicht unmittelbar aus der Anschauung ergibt. Aber auch nur das.“


„Das hast Du vorzüglich ausgedrückt. Und was gehört unbedingt dazu?“


„Der Fundort. Den kennen wir ja schon, nämlich Waldbach. Dafür steht das W. Und vielleicht der Name desjenigen, der das Skelett präpariert hat. Das dürfte jemand aus Straßburg gewesen sein.“


„Meines Erachtens kommt dafür der Buchstabe H zwischen den beiden Zahlen in Frage. Ein Monsieur H.“


„Wir brauchen also eine Liste aller Anatomen, die Ende des 18. Jahrhunderts in Straßburg tätig waren. Wenn die überhaupt selbst präpariert haben, und nicht ihre Gehilfen. Wie viele Leichenöffnungen macht man wohl in einem Jahr? Oder hat man damals gemacht?“


„Das musst Du Deinen Mann fragen. Ich bin bekanntlich kein Spezialist für Anatomie. Das wäre ja auch noch schöner, wenn ich auf alles eine Antwort wüsste.“


„Wenn W Waldbach bedeutet, was bedeutet dann BR? Das kriegen wir nie aufgelöst.“


„Immer langsam mit den jungen Pferden. Vielleicht sind es zwei verschiedene Kategorien… Das Größere und das Kleinere.“


„Mutter, Du sprichst in Rätseln.“


„Ich rätsele ja selbst noch. Wenn Waldbach tatsächlich ein Ort im Elsass ist, dann könnte BR für den Namen der Region oder des Départements stehen. Bas-Rhin. Es bleibt aber eine Vermutung.“


„Ich kann mir alle Gemeinden im Département Bas-Rhin anzeigen lassen.“


„Tu das, mein Kind.“


„Es sind 518.“


„Prost Mahlzeit. Das kommt heraus beim Internet. Man wird mit Informationen zugeschüttet“, sagte Hilde resigniert. Sie gähnte, aber vielleicht tat sie auch nur so. Dann nahm sie die beiden Rotweingläser und die Flasche vom Tisch und stand auf. „Ich mache mich schon einmal bettfertig.“


Kim gab erneut den Namen Waldbach in die Suchmaske ein, ergänzte ihn aber diesmal um das Wort Elsass. Unter den jetzt angezeigten Treffern waren vier, die auf einen Ort namens Waldersbach in den Vogesen verwiesen, für den früher die Schreibung Waldbach üblich gewesen war. Früher bedeutete: im 19. Jahrhundert. „Na bitte. Wer sagt‘s denn. Das hätte Alex auch selbst herausbekommen können“, murmelte sie vor sich hin.


Sie wechselte zu Google Maps. Die Entfernung von Waldersbach nach Straßburg betrug etwa 60 Kilometer. „Bingo!“ rief sie in Richtung Badezimmer, und als keine Reaktion erfolgte, noch einmal, mit verdoppelter Lautstärke: „BINGO!“


„Hast Du schon etwas gefunden?“ rief ihre Mutter zurück.


Kim erhob sich. „Der Ort heißt heute Waldersbach! 60 Kilometer von Straßburg!“


„Dann kannst Du Deinem Alexander ja eine Geschichte erzählen! Worauf wartest du?“


Kim lehnte ihren Kopf an die geschlossene Badezimmertür. „Was meinst du?“


„Ruf ihn an!“


„Was, jetzt? Es ist gleich Mitternacht!“


„Ja und? Ein Forscher ruht nie, selbst wenn er schläft. Also los jetzt!“


Kims Anruf weckte Alexander, den ihre Quicklebendigkeit in seiner jetzigen Verfassung überforderte. Als sie ihm von ihrer Entdeckung berichtete, reagierte er unerwartet einsilbig und meinte lediglich, dass ihm der Name Waldersbach irgendwie bekannt vorkäme. Kim nahm daraufhin an, dass er ihre Leistung schmälern wollte, wenn auch nur unbewusst, und fügte hinzu, dass es sich um ein winziges Dorf in einem abgelegenen Seitental der Vogesen handle; es sei daher wohl möglich, dass sich dort die Sitte, Neugeborenen den Kopf zu bandagieren, bis ins 18. Jahrhundert erhalten habe. Statt Lob oder Zustimmung zu äußern, gähnte Alexander vernehmlich, doch als sie vorschlug, den mysteriösen Monsieur H. mit Hilfe eines Namensverzeichnisses berühmter Straßburger Mediziner aus dem 18. Jahrhundert zu identifizieren, erklärte er grimmig, das sei überflüssig, der berühmteste Straßburger Anatom des 18. Jahrhunderts sei Friedrich Himly, und um diesen dürfte es sich handeln. Kim war nahe daran, das Gespräch vorzeitig zu beenden und Alexander eine geruhsame Nacht zu wünschen. Aber dann sagte er, vielleicht nur aus einer Laune heraus, dass er sie vermisse, und daraufhin überraschte sie ihn doch noch mit der Mitteilung, dass sie morgen mit einem frühen Zug nach Straßburg zurückkomme, um mit ihm nach Waldersbach zu fahren, weil es jetzt gelte, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hatte sogar schon die Verbindung herausgesucht: 12:55 Uhr ab Strasbourg Gare. Dann entweder bis Rothau und von dort weiter mit dem Taxi, oder bis Fouday und von dort eine Dreiviertelstunde zu Fuß.


„Zu Fuß natürlich“, sagte Alexander, womit er auch ihren Wunsch traf.

 

 
 
 

Alexanders Anruf hatte Mutter und Tochter Hahneman mitten in einer angeregten Unterhaltung erreicht, die sie anschließend nicht fortsetzten. Stattdessen sahen sie sich gemeinsam auf ARTE eine Dokumentation mit dem Titel „Erfundene Krankheiten“ an, die Hildes Verdacht bestätigte, dass die Pharmaindustrie nicht nur Medikamente herstellte, um Krankheiten zu heilen, sondern auch Krankheiten erfand, um Medikamente zu verkaufen.


„Das kann man sich doch denken“, meinte Kim, als sie den Fernseher ausschaltete. „Die Investitionen in Forschung und Entwicklung sollen sich möglichst schnell rentieren, nicht erst in ferner Zukunft. Das verlangt die Logik der kapitalistischen Produktion.“


So weit mochte Hilde keinesfalls gehen. Das Wort Kapitalismus war ihr noch nie über die Lippen gekommen, sie sah überall nur Charaktere am Werk, gute und böse Menschen, Ehrliche und Betrüger. Zu letzteren zählte sie alle Geschäftsleute und die meisten Ärzte. „Weil Profit im Spiel ist“, pflegte sie zu ihrer Rechtfertigung zu sagen. Zwar versäumte sie keine der vorgeschriebenen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, weigerte sie sich aber, etwas anderes als Blutverdünner einzunehmen. Für ihre Gesundheit sorgte sie selbst, und dazu gehörte, dass sie täglich ein gekochtes Ei aß und jeden zweiten Tag eine Pampelmuse.


 „Mutter“, sagte Kim, während sie den Rest aus der Rotweinflasche auf ihre beiden Gläser verteilte, „hast Du Lust auf ein bisschen Knobelei?“


Hilde war nicht sehr begeistert. „Kind, weißt du, wie spät es ist? Meine grauen Zellen haben sich zusammen mit dem Fernseher abgeschaltet!“


„Nur ein Viertelstündchen. Bis die Gläser leer sind.“


„Na ja, meinetwegen… Aber bitte kein Sudoku! Dafür habe ich nämlich kein Talent.“


„Nein, es handelt sich um eine Art Kryptoanalyse.“


„Ich weiß zwar nicht, was das ist, ich hoffe aber, dass es dabei seriöser zugeht als bei der Psychoanalyse.“


„Oh, es ist außerordentlich seriös, Mutter. Um genau zu sein, handelt es sich um die Entzifferung rätselhafter Abkürzungen. Es ist so: Alex hat in einer Ausstellung in Straßburg ein interessantes Skelett entdeckt.“


„Das war ja klar, dass Dein Mann dahintersteckt. Er braucht immer Hilfskräfte. Im Delegieren ist er ein Genie.“


„Er meint, ohne unsere Intelligenz ist er verloren.“


„Wahrscheinlich stimmt das auch.“


„Also, er wüsste gerne mehr über dieses Skelett, aber die Experten vor Ort halten sich bedeckt und verweigern ihm weitere Auskünfte. Er weiß, von wann das Skelett ist, nämlich von 1788, und dass es aus Waldbach stammt. Alex hat aber keinen Ort in Frankreich gefunden, der so heißt.“


„Muss es denn ein Ort in Frankreich sein? Waldbach ist ein deutscher Name.“


„Na ja, das Skelett gehört zur alten Sammlung der Universität, genauer gesagt des Anthropologischen Instituts, und der erste Gedanke ist doch, dass es aus der Umgebung stammt.“


„Also aus dem Elsass, und das war bekanntlich früher einmal deutsch.“


Alex zückte ihr Telefon, googelte den Namen „Waldbach“ in Verbindung mit „Alsace“ und stöberte gedankenverloren in den Suchergebnissen, zum Missfallen ihrer Mutter.


„Sheila!“ sagte Hilde energisch.


Kim fuhr herum. „Ja?“


„Ist mein Einsatz noch erforderlich?“


„Ja, Mutter, unbedingt!“ Sie tippte zweimal auf das Fotomenü und gab das Telefon an ihre Mutter weiter. „Das ist ein Foto von der alten Beschriftung, mit rätselhaften Buchstaben und Zahlen.“


Hilde nahm ihre Brille ab und vertauschte sie mit einer anderen, die sie an einer Kette vor der Brust trug. „Buchstaben und Zahlen… Das klingt nach einer Inventarnummer. Geht das zu vergrößern?“


Kim griff mit zwei Fingern nach dem Display und spreizte den Ausschnitt.


„Hm“, sagte Hilde. „Also, soviel kann ich Dir schon mal sagen: Das Etikett ist bestimmt nicht von 1788. Das ist jünger. Aber lies mal vor, was Du da erkennst.“


„BR –“


„Ja. “


„Was ist das für ein Buchstabe?“


„Das ist ein W.“


„BR W. Dann eine 88. Das ist wahrscheinlich die Abkürzung für 1788.“


„Mag sein. Weiter.“


„H. 36. “

„So lese ich das auch. BR W 88 H. 36.“


„Was glaubst du, könnte das bedeuten?“


„Langsam. Da müssen wir Zug um Zug vorgehen. Das habe ich von Deinem Vater gelernt.“


Kims Vater war Architekt, aber auch Schachspieler auf Vereinsebene gewesen. Vielleicht hatte er auf beiden Gebieten eine Zug-um-Zug-Strategie zur Anwendung gebracht. Kim wusste es nicht, denn er war gestorben, bevor sie auf das Gymnasium kam. Wenn sie an ihn zurückdachte, war da wenig mehr als die Erinnerung, dass sie gegen ihn nicht ankam. Über seine Eigenschaften als Vater, seine menschliche Wärme, Güte und Zärtlichkeit, wusste sie nichts zu sagen. Es mochte sein, dass er all das in seinem Innern verborgen gehalten hatte, um es ihr eines Tages zu offenbaren, wie ein Geburtstagsgeschenk. Aber dazu war es nicht gekommen. Jetzt erinnerten noch drei Pokale im Bücherregal und ein großes gerahmtes Foto über dem Sofa an ihn. Es zeigte einen kräftig gebauten Mann mit kurzgeschnittenem Haar und markanten Gesichtszügen, der in seinem Tweedsakko sehr britisch wirkte. Manchmal wenn Kim das Bild anschaute, meinte sie noch den schwachen Duft seines Aftershave riechen zu können, aber vielleicht war es auch der Geruch seines Pfeifentabaks gewesen. Neben dem Porträt von Sammy Hahneman hing eine etwas kleiner gerahmte Fotografie, die Kim in einem Engelskostüm zwischen ihren Eltern zeigte, vor einer Schulaufführung, unsicher lächelnd. „Mehr Bengelchen als Engelchen“ pflegte ihre Mutter zu kommentieren, wenn jemand auf das Bild aufmerksam wurde.

 

 
 
 
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