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Und so begriff auch Laroussi allmählich, dass er keine Rücksicht mehr auf den Mann zu nehmen brauchte, der sich fast schon als sein Ziehvater aufspielte, weil er ihm 1999 bereitwillig eine der Karrieretüren geöffnet hatte, nun aber anscheinend nicht davor zurückschreckte, ihm eine andere, größere gewissermaßen vor der Nase zuzuschlagen. Denn wenn es etwas werden sollte mit dem Ministeramt, das vielleicht nur die Vorstufe war zu den allerhöchsten Weihen, seinem Einzug in den Élysée-Palast, musste er als amtierender Universitätspräsident berufen werden, nicht als Ex. Allzu lange, schien es ihm jetzt, hatte er sich von diesem Mann einschüchtern lassen, der sich nun als trickreicher Blender und Gaukler herausstellte, als Bastard aus Indiana Jones und Baron Münchhausen, der mit seiner Kohlenstoff-Akrobatik sogar ausgewiesene Fachleute genarrt und in die Irre geführt hatte.


„Van Drongelen hat den Vorwurf, seinerseits unkorrekt gearbeitet zu haben, nicht auf sich sitzen lassen“, sagte Laroussi ernst. „Zusammen mit einem Paläontologen aus Erlangen hat er europaweit eine ganze Reihe von Fossilien nachuntersucht, die laut ihrer Expertise aus dem Jungpaläolithikum stammen. Soll ich Ihnen sagen, was dabei herausgekommen ist?“


„Sie sind jünger, stimmt’s? Natürlich. Weil er die gleichen Fehler wieder gemacht hat. Mit dem gleichen Gerät. Analysen aus dem Isotopenlabor in Groningen können Sie in der Pfeife rauchen.“


„Um jeden Irrtum auszuschließen, hat van Drongelen das Material gedrittelt und parallel von den C14-Laboren in Oxford und Köln untersuchen lassen. Und was soll ich Ihnen sagen? 80 Prozent davon sind zwischen zwanzig- und dreißigtausend Jahre jünger als von Ihnen gemessen. Zwanzig- bis dreißigtausend Jahre! Bei solch gravierenden Abweichungen kann man nicht mehr von Messfehlern sprechen.“


„Magnifizenz, das ist unmöglich“, sagte Croqué mit fester Stimme. „Die Kollegen haben die Knochenproben wahrscheinlich nicht sauber aufbereitet. Das passiert immer wieder. Wenn Sie das Polyvinylacetat von der Bergung nicht restlos entfernen, werden die Resultate natürlich verjüngt.“


„Es gibt bereits eine erste Reaktion der betroffenen Institutionen. Ich denke, sie wird nicht die einzige bleiben. Ich habe hier ein Schreiben aus Le Havre. Für das dortige Archäologische Museum haben Sie 2007 das Alter von zwei Skelettfragmenten bestimmt. Ihre Analysen ergaben 39 240 bzw. 36 500 Jahre. Alle drei Nachmessungen in Groningen, Oxford und Köln ergaben für beide Proben ein Alter von zirka 7.000 bis 7.300 Jahren.“


„Die Fremddaten sind alle falsch. Messen ist eine große Kunst. Ich kann ihnen versichern, dass bei uns stets alles mit rechten Dingen zugegangen ist.“


Laroussi überlegte, woher Croqué seine Selbstsicherheit und Überheblichkeit bezog. Offenbar war er schlicht größenwahnsinnig, krankhaft selbstberauscht. In Verbindung mit seiner Verschlagenheit machte ihn das stark und sicher. Er schien es als sein Recht anzusehen, einem anderen Schaden zufügen zu dürfen, wenn er selbst daraus Nutzen ziehen konnte; ein Grundrecht gewissermaßen, von dem nur ein Dummkopf keinen Gebrauch machte. Er unterdrückte ein Stöhnen und sagte: „Monsieur Croqué, drei renommierte Labore sind unabhängig voneinander zu gänzlich anderen Ergebnissen als Sie gekommen.“


„Ach, wir wissen doch beide, die Wissenschaft ist eine Hure, sie geht mit jedem.“


„Monsieur Croqué, das Museum in Le Havre hat Anzeige wegen Betruges erstattet.“


„Und das nehmen Sie ernst? Das sind doch nur – Verpuffungen, die aus Überdruckventilen strömen. Es gibt eine Menge Kollegen, die mich hassen. Aber das geht mir sozusagen am Arsch vorbei. Denn ich werde sie überleben, diese Neidwürmer. Eines nicht mehr allzu fernen Tages verabschieden sie sich in den Ruhestand, einer nach dem andern – aber ich mache weiter! Sie kriegen Alzheimer – aber ich mache weiter! Sie krepieren – und ich werde immer noch da sein, leben und arbeiten für das Wohl unserer Wissenschaft.“


„Ich habe Anlass zu der Annahme, dass in ihrem Labor unkorrekt gearbeitet wird, und zwar systematisch. Ich möchte die Unterlagen zu Ihren Messungen sehen. Es gibt doch Unterlagen dazu?“


„Selbstverständlich gibt es zu jeder unserer Analysen ein Protokoll“, sagte Croqué so schneidig wie möglich.


„Sie werden sie mir unverzüglich aushändigen.“


Croqué rang sich ein Lächeln ab. „Das geht nicht.“


„So. Und warum?“


Croqué hob wehmütig die Hände. „Sie wurden gestohlen“, sagte er betrübt.


„Gestohlen?


„Jawohl. Ich habe den Einbruch der Polizei gemeldet, aber das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weil kein Täter ermittelt werden konnte.“ Croqué zog ein Etui aus der Innentasche seines Sakkos, klappte es auf, nahm eine Zigarre heraus und roch daran. „Hmm“, sagte er genießerisch, „Cohiba. Es gibt nichts Besseres. Verzeihung“, sagte er dann, an Laroussi gewandt, „möchten Sie auch?“ Er hielt ihm das Etui hin.


Laroussi winkte ab. „Auf dem gesamten Universitätsgelände besteht Rauchverbot“, sagte er. „Sie sollten es wissen.“


Croqué warf noch einen Blick auf die Zigarre, dann legte er sie in das Etui zurück und steckte es wieder ein. „Schade“, sagte er.


„Monsieur Croqué, auf meine Bitte hat Anfang des Monats ein Archäometriker vom Physikalischen Institut der Sorbonne ihre C14-Anlage im Keller des Instituts in Augenschein genommen. Nach seiner Aussage ist sie nicht gebrauchsfähig und offenbar seit langer Zeit nicht in Betrieb gewesen.“


Auf diese Attacke war Croqué nicht vorbereitet. Vielleicht konnte er den Präsidenten dadurch verunsichern, dass er sich auf keine Debatte einließ und stattdessen vollkommene Gleichgültigkeit an den Tag legte. „Richtig“, sagte er so gelassen wie möglich. „Die Anlage ist zurzeit defekt. Deswegen haben wir seit einigen Wochen keine Messungen mehr durchgeführt. Dafür hätten Sie keinen Spitzel aus Paris einschleusen müssen, sondern mich nur einfach zu fragen brauchen.“


„Seit einigen Wochen, sagen Sie? Es dürfte sich um Monate handeln, wenn nicht Jahre. Ich war selbst mit vor Ort. Die gesamte Apparatur ist von einer dicken Staubschicht bedeckt, einschließlich Display und Tastaturen.“

 

 
 
 

Auch die breithüftige „Venus von Sélestat“, von der nur Teile des Beckens, der Rippen und ein rechter Oberschenkel geborgen werden konnten, war in Wirklichkeit weitaus jünger als von Croqué gemessen. Statt wie angegeben „ca. 21.300 Jahre“ war sie nicht älter als 3.400 Jahre. Für das Naturhistorische Museum in Colmar war sie jedoch ein Publikumsmagnet und musste seither für alle Publikationen als Logo herhalten. T-Shirts und Tassen wurden mit dem Torso der „Venus“ bedruckt, und die Produktion von Schlüsselanhängern aus Kunststoff, Glas oder Zinkguss konnte kaum mit der Nachfrage Schritt halten.


Jüngst war ihm vom Musée d’Ethnographie in Neuchâtel ein Calvarium übergeben worden, das 1967 beim Baggern im Uferschlamm des Neuenburger Sees in acht Meter Tiefe entdeckt worden war und seitdem eine traurige Existenz im Magazin fristete. Nach einem Wechsel in der Museumsleitung entschied die neue Direktorin, eine Knochenprobe von Croqués Straßburger Labor datieren zu lassen. Als Fachleute zur Probenentnahme den ersten Halswirbel aufschnitten, nahmen sie den klassischen Verwesungsgeruch wahr und schätzten das Alter auf 200 bis 400 Jahre. Umso überraschter waren sie, als Croqué den Schädel in das Jungpaläolithikum rückte: „17.500 Jahre, plus/minus 90“.


Zuletzt waren von Croqué einige verkohlte Knochenreste, die ihm ein Kurier in einem Stahlkoffer übergeben hatte, begutachtet worden. Der Legende nach handelte es sich bei dem Leichenbrand um die sterblichen Überreste der heiligen Anastasia, die um das Jahr 340 in Sirmium im heutigen Serbien den Märtyrertod gestorben war. Nachdem ein Theologieprofessor in Belgrad in einer großen Abhandlung, die auszugsweise von der führenden serbischen Tageszeitung „Politika“ nachgedruckt worden war, die Echtheit der seit fast 1.000 Jahren in der Anastasiakapelle in St. Gerold aufbewahrten Reliquie bestritten hatte, wollte sich der Vorsteher der Benediktinerpropstei im Großen Walsertal endlich Gewissheit verschaffen und beauftragte Croqué mit der Untersuchung. Dieser irrte nicht, wenn er annahm, dass die Propstei an einer Falsifizierung keine Freude haben würde. Deshalb legte er für seine rein mentale Analyse das Sterbedatum der Heiligen zugrunde (womit er fast an die realen Grenzen der Messbarkeit nach der Radiokarbonmethode stieß) und legte sich auf das Jahr 335 fest, „plus minus 20 Jahre“, wie es in seinem Gutachten hieß. Ein wenig Unschärfe konnte nicht schaden.


Seit einigen Wochen saß Croqué an einem Berg von Knochenresten, die bei Straßenbauarbeiten in der Nähe eines erloschenen Vulkans im Zentralmassiv entdeckt und ihm vom Départementalamt für Denkmalpflege in Clermont-Ferrand übergeben worden waren. Die Archäologen vermuteten ein Alter von etwa 1500 Jahren, aus der Merowingerzeit. Croqué würde die Zahl gerne mit 10, vielleicht sogar mit 15 multiplizieren: Eiszeitjäger! Die Tourismusmanager von Blanzat, Enval und Neschers würden ihm die Füße küssen.


Damit war es jetzt vermutlich vorbei. Nachmessungen würden ergeben, wie oft, und vor allem: wie weit er danebengelegen hatte. Vielleicht ließen sich im Vieraugengespräch Irrtum und Verdienst gegeneinander aufrechnen. Vielleicht! Für den Notfall hatte er immer noch einen Trumpf im Ärmel. Nicht für den Kampf mit van Drongelen & Co.; den würde er verlieren. Aber für die Auseinandersetzung mit Laroussi, diesem Saubermann. Doch so weit wollte er es möglichst nicht kommen lassen.


„Monsieur Croqué“, sagte Laroussi, nachdem die Sekretärin Kaffee und Mineralwasser auf den runden Tisch zwischen ihnen gestellt hatte, „bei unserem letzten Gespräch hatten wir uns über einen Artikel unterhalten, den Professor van Drongelen von der Reichsuniversität Groningen letztes Jahr veröffentlicht hat. Sie erinnern sich?“


„Natürlich“, antwortete Croqué, der Mühe hatte, das Gefühl gereizter Feindseligkeit zu unterdrücken. „Der alte Zausel glaubt, er misst besser. Die alte Rivalität zwischen Frankreich und den Niederlanden. Sie sind uns immer noch böse wegen Belgien.“


„Van Drongelen gilt anscheinend als einer der renommiertesten Archäologen unserer Zeit. Sein Aufsatz hat damals bedauerlich viel Aufsehen erregt, nicht nur in der Fachwelt. Sogar die Auslandspresse hat den Fall aufgegriffen.“


„Ich weiß, Magnifizenz. Es war Sommer, Sauregurkenzeit. So ein angeblicher Skandal findet immer Aufmerksamkeit. Man muss die Journalisten verstehen. Damit sichern sie ihre Arbeitsplätze. Heute kräht kein Hahn mehr danach. Schnee von gestern.“


„Sie haben mir damals glaubhaft versichert, dass Ihre Messwerte korrekt und die Abweichungen durch Verunreinigungen im Groninger Labor zustande gekommen seien.“


„Höchstwahrscheinlich. Oder die Messgeräte wurden nicht richtig bedient. Das ist ja auch nicht jedermanns Sache. Leider haben die meisten Anthropologen nicht Chemie und Physik studiert und können deshalb kein fachliches Urteil abgeben.“


„Ich habe mich damals mit Ihrer Erklärung zufriedengegeben und Professor van Drongelen eine entsprechende Mitteilung zukommen lassen.“


„Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet. Sie sind ein hochanständiger Mensch, Monsieur Laroussi, das wusste ich schon, als Sie sich vor acht Jahren für die Stelle des Fakultätsdirektors beworben haben. Deswegen habe ich mich damals ja auch für Sie eingesetzt.“


Es traf zu, dass Laroussi die Wahl Croqué verdankte, der an die versammelten 33 Mitgliedern des Fakultätsrats appelliert hatte, im Sinne der Qualitätssicherung endlich ein Signal zu setzen. „Angesichts der wachsenden Studierendenzahlen und immer komplexeren Verwaltungsprozesse reicht es nicht“, hatte Croqué unmittelbar vor der Abstimmung mit einem Seitenblick auf die zur Wiederwahl angetretene Humanbiologin Villetard erklärt, „einmal in der Woche ins Fakultätsbüro zu kommen, schnell die Unterschriftenmappe durchzuarbeiten und sich dann wieder in den Lehrstuhlbetrieb zu verabschieden. Was wir brauchen, ist ein professioneller Doyen, der nicht nur Preise verleiht und schöne Reden hält, sondern dem erhöhten Entscheidungsbedarf Rechnung trägt. Wenn unsere Humanwissenschaftliche Fakultät sich ihre, und ich glaube sagen zu dürfen: von uns allen genossene, Autonomie erhalten will, bedürfen wir eines hauptamtlichen Direktors.“ Damit hatte sich die erneute Kandidatur von Madame Villetard erledigt und Laroussi wurde mit 30 Ja-Stimmen bei zwei Gegenstimmen und einer Enthaltung gewählt.


Zwei Jahre später dann war die in Croqués Augen übereilte Wahl Laroussis zum Président d’université erfolgt. In der geheimen Wahl hatte er diesmal nicht für ihn gestimmt, obwohl er im Nachhinein das Gegenteil behauptete und sich zu einem entschiedenen Parteigänger Laroussis erklärte. Tatsächlich passte ihm dessen Aufstieg nur deswegen nicht, weil er ohne sein Zutun zustande gekommen war und daher nicht mit einem Gefühl von Verpflichtung einherging. Alle Entscheidungen, die Laroussi seither in seinem neuen Amt getroffen hatte, wurden von Croqué mit Skepsis beäugt und im Nachhinein so gut wie immer als „verfehlt“, „unrealistisch“ oder „überflüssig“ abgetan. Nach dessen Wiederwahl vor zwei Jahren, die Croqué im Vorfeld nicht hatte verhindern können, weshalb er anschließend durchblicken ließ, dass „der Tunesier“ nicht sein Favorit gewesen sei, kam es immer häufiger vor, dass Croqué hinter Laroussis Rücken gegen diesen Front zu machen versuchte und sich bei Abstimmungen auf die Seite seiner Widersacher, von denen es immer welche gab, schlug. Zuletzt machte er gar keinen Hehl mehr aus der Tatsache, dass er seine frühere Parteinahme für Laroussi bereute.

 

 
 
 

 

Croqué saß in diesem Augenblick, als sein Name fiel, im mit üppigen Polstermöbeln ausgestatteten Besprechungszimmer von Chekif Laroussi, Professor für Psychopathologie und im sechsten Jahr Präsident der Université Sébastien Brant.


Es war Laroussi, der um die Zusammenkunft gebeten hatte, und er hatte durch seine Sekretärin zugleich mitteilen lassen, die Sache sei „sehr dringlich“.


Chekif Laroussi war ein Mann der Tat. Das hatte er sich von seinem Vater abgeschaut, einem wortkargen Mann mit eisernen Grundsätzen aus der Hafenstadt Salakta, der mit 14 Jahren aus Tunesien nach Marseille gekommen und sich vom Handlanger eines Gemüsehändlers zu dessen Filialleiter hochgearbeitet, schließlich einen eigenen Laden aufgemacht, geheiratet und mit seiner Frau, einer gelernten Köchin, ein kleines Restaurant mit Spezialitäten aus dem Maghreb betrieben hatte, das ihm ein gutes, wenngleich nicht üppiges Auskommen bescherte. Sein Sohn aber, das stand für ihn fest, sollte Akademiker werden, Professor für irgendwas, egal ob Medizin oder Jura. Dafür legten er und seine Frau sich schließlich jahrelang krumm. Und tatsächlich zahlte ihnen Chekif jeden in seine Ausbildung investierten Cent zurück, in Form von beruflichem Erfolg und Anerkennung. Und ja, auch in Form von Ruhm für den verzweigten Familienclan. Denn Chekif Laroussi war nicht nur der jüngste Präsident einer elsässischen Hochschule, sondern zugleich der erste mit nordafrikanischen Wurzeln.


Und das nicht ohne Grund. Bereits mit 16 Jahren gewann er in seiner Altersklasse einen landesweit ausgeschriebenen Wettbewerb für den besten philosophischen Essay zum Thema „Zeit“. Die Aufnahmeprüfung für die Elitehochschule École normale supérieure in Paris, an der selbst noch höher Begabte häufig scheiterten, bestand er auf Anhieb. Seine Magisterarbeit schrieb er über „Determinanten des Kondomgebrauchs bei jungen Erwachsenen“. Nach seiner Promotion an der Université Paris Nanterre war er zwei Jahre lang Post-Doktorand an der Universität Cambridge. Es folgten mehrere Gastprofessuren, ehe er 1997 den Lehrstuhl für Psychopathologie an der Université Sébastien Brant erhielt. Zehn Jahre später hatte er die Direktion der neu errichteten Humanwissenschaftlichen Fakultät übernommen, und nur weitere zwei Jahre später war seine bisherige berufliche Laufbahn mit der Wahl zum Président d’université gekrönt worden. Unter der Hand war schon war die Rede davon, dass den Parteilosen der nächste Karrieresprung in das Amt des Wissenschafts-, vielleicht sogar des Innenministers befördern würde, und danach war alles möglich.


Croqué konnte sich denken, weswegen Laroussi ihn einbestellt hatte. Gerüchteweise war er bereits darüber informiert, dass van Drongelen in Groningen eine neue Schweinerei gegen ihn ins Werk gesetzt hatte. Sein Assistent Bouchon verfügte über freundschaftliche Beziehungen zu Wissenschaftlern in Deutschland, die ihrerseits eng mit Kollegen in den USA verbunden waren, die zu seinen Gegnern zählten. Aus dieser Quelle flossen seine Informationen. Deswegen hatte er heute als Garderobe seinen dunkelblauen Business-Anzug gewählt, einen Dreiteiler aus Schurwolle. Darunter trug er ein pastellfarbenes Hemd in Bleu mit glattem Kragen aus Sea-Island-Cotton, dessen Doppelmanschetten exakt 15 Millimeter aus dem Ärmel des Jacketts hervorschauten, und eine cremefarbene Seidenkrawatte.


Zweifellos ging es wieder um seine C14-Messungen. Die Anschaffung einer 3,5 Millionen Euro teuren Radiokarbonmessanlage zur Altersbestimmung von archäologischen Fundstücken war eines seiner frühen Meisterstücke an der Universität gewesen. Bezahlt wurde sie komplett aus einem Förderprogramm des Centre national de la recherche scientifique. Die Université Sébastien Brant stellte einen Teilchenphysiker mit einem Dreijahresvertrag ein und übernahm für diesen Zeitraum sämtliche Betriebskosten. Nach Ablauf der drei Jahre sollten die Analysen von Croqué bzw. seinen Mitarbeitern vorgenommen und die laufenden Kosten komplett über Einnahmen aus Messungen im Auftrag Dritter bestritten werden.


Tatsächlich konnte Croqué nach dem Ausscheiden des Messexperten mit dem 9 Meter langen, bleiummantelten elektrostatischen Tandem-Beschleuniger und den beiden Massenspektrometern wenig anfangen. Völlig hilflos stand er vor der Anlage, deren Funktionieren ihm ein Rätsel war und die er darum nie in Betrieb nahm. Um dennoch für die geforderten Einkünfte zu sorgen, ließ er Anzeigen in Fachzeitschriften schalten. Für gewöhnlich wurden von den C14-Laboren 250.- bis 300.- Euro pro Analyse berechnet; Croqué warb für seine Altersbestimmung homininer Fossilien und anderer Artefakte mit einem Kampfpreis von 199,00 Euro. Das verhalf ihm zu zahlreichen Aufträgen vor allem aus Frankreich, aber auch aus Deutschland, Spanien, Kroatien, der Türkei, dem Nordirak, Usbekistan und Tadschikistan.


Seitdem hatte er Dutzende menschliche Überreste auf seine Weise bestimmt, die so aussah, dass er sich einfach ein plausibles Alter ausdachte und an die Archäologen weiterreichte. Dabei handelte es sich keineswegs um Gefälligkeitsgutachten. Obgleich er sich dafür wohl kaum zu schade gewesen wäre, hätte keiner seiner Auftraggeber gewagt, ein derartiges Ansinnen an ihn zu stellen. Wenn er die ihm zur Bestimmung überlassenen menschlichen Überreste so alt wie möglich machte, geschah es stets aus eigenem Antrieb.


Gleichwohl wusste er sich immer in Übereinstimmung mit seinen Auftraggebern, deren heimliche Wünsche er damit erfüllte. Denn nie wurden ihm menschliche Überreste mit der Hoffnung übergeben, es handele sich dabei um Todesfälle der Neuzeit. Vielmehr wünschte jeder, er möge bestätigen, dass es sich um Relikte einer fernen Epoche handelte, um einen Schatz, der zur Attraktivität des Fundorts bzw. der ausstellenden Institution wesentlich beitragen würde. Das gewünschte Datum zu erraten, fiel Croqué nicht schwer: Aus den mitgelieferten Dokumenten konnte er in der Regel entnehmen, welche Expertise die Auftraggeber über die Maßen zufriedenstellen, ja: entzücken würde. Und je größer das Entzücken war, desto größer auch das Echo in den Medien, für die der smarte Professor längst zum begehrten Interviewpartner geworden war, der auch schon so manches Mal zusammen mit anderen Prominenten in Talkrunden gesessen hatte. Schon träumte er von einer eigenen Wissenschaftsshow.


All das wäre ohne ein bisschen Mogelei nicht passiert. Wen hätte es interessiert, wenn er dem Archäologischen Museum in Le Havre per Gutachten den Besitz von einem Haufen Knochen aus der Jungsteinzeit bescheinigt hätte, weniger als 10.000 Jahre alt. Keinen Hund hätte das hinter dem Ofen hervorgelockt. Stattdessen war er so großzügig gewesen, sie mit dem Skelettfragment des „Entenjägers von Étretat“ zu beschenken, so genannt wegen der in der Nähe gefundenen Entenknochen, einem Mischling zwischen Neandertaler und Homo sapiens, der laut Croqué vor rund 36.500 Jahren an der sogenannten Alabasterküste des Ärmelkanals lebte. Der 1925 in einer Kiesgrube entdeckten „Mademoiselle von Saint-Siméon“ verpasste Croqué ein würdiges Alter von 39.240 Jahren, was sie zusammen mit dem „Entenjäger“ zu einem Prunkstück der Sammlung machte. Dafür hatte er lediglich seinen Taschenrechner sein Geburtsjahr mit 20 multiplizieren lassen.

 

 
 
 
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