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Warum meine Eltern besser nicht geheiratet hätten

Ein guter Rat, der zu spät kommt

Mein Vater hätte auf seine Eltern hören sollen. Seine Eltern rieten ihm von der Ehe ab. Sie meinten, Eisenbahner und Lehrerin, das passt nicht zusammen. In diesem Fall wäre meine Mutter nicht meine Mutter geworden. Strebsam, wie sie nun einmal war, hätte sie es womöglich zur Schulrätin oder sogar bis zur Abteilungsleiterin im Ministerium für Volksbildung gebracht, der Generationen von Volks- und Mittelschülern in Dankbarkeit gedenken würden.

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Die Frage, was dann aus meinem Vater geworden wäre, übergehe ich aus familiären Rücksichten. Jedenfalls hat er nicht auf seine Eltern gehört, und prompt fing der Ärger an. Die nächsten Jahre brachten wochenlange Aufenthalte in Flüchtlingslagern, zwei Dutzend Arbeitsplatzwechsel und diverse Umzüge.

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Als andere Familien längst mit dem eigenen Auto in den Sommerurlaub fuhren, obwohl der Vater auch Soldat und in Gefangenschaft gewesen war, führten wir noch immer eine Art Flüchtlingsdasein, mit allerlei Gebrauchtmöbeln auf Teerpappe, die den wohlklingenden Namen Stragula trug. Während wir in die Röhre guckten, zogen unsere Klassenkameraden am Samstagnachmittag, wenn die Mutter den Sonntagsbraten vorbereitete, mit ihren Vätern zum Fußballplatz, und abends versammelten sich alle vor dem Fernsehapparat und guckten gemeinsam Quizsendungen mit Heinz Maegerlein oder Krimis von Francis Durbridge, deren Ausgang am nächsten Tag auf dem Schulhof diskutiert wurde.

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Mein Bruder und ich waren zu jung, um in Vaters Rast- und Ruhelosigkeit die Ursache für die Unsicherheit unserer Lebensumstände zu erkennen. Wir nahmen sie nicht einmal als prekär wahr. Sollten wir doch darauf reagiert haben – ich durch eine Vielzahl von Erkrankungen und Unfällen, von Masern und Röteln bis zu Arm- und Beinbruch, mein Bruder durch einen schier grenzenlosen Erfindungsreichtum –, war uns der Zusammenhang keinesfalls bewusst. Dass den wochenlangen Abwesenheiten unseres Vaters einsame Entscheidungen vorausgingen, getroffen ohne Rücksicht auf das Familienwohl, lag weit außerhalb unseres Erkenntnisvermögens. Was geschah, geschah einfach, wie ein Naturereignis. 

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Zumal unsere Mutter in unserer Gegenwart nie ein Wort der Missbilligung über die Lippen brachte. Selbst noch nach seinem Tod verteidigte sie nicht nur seine ständigen Stellenwechsel, sondern sprach auch mit bemerkenswerter Gelassenheit über seine Seitensprünge (deren Häufigkeit sie wahrscheinlich unterschätzte). Als könnte sie einen anderen Befund nicht ertragen, gewann sie den Tatsachen ihrer Ehe auf sonderbare Weise Befriedigung ab.

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Der Tiefpunkt war mit der Pacht eines Dorfgasthofs ohne Kundschaft erreicht. Als Gevatter Tod meine Mutter bewusstlos im Müllheimer Städtischen Wannenbad liegen sah und sich schon anschickte, sie mitzunehmen, warf er zum Glück noch einen Blick in den Ochsen, wo wir andern gerade friedlich beim Mittagessen saßen, kam zu dem Schluss, hier liege wohl ein Irrtum vor, und verschwand fürs erste. Ich war sechs, mein Bruder zwölf Jahre alt.

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Danach wurde mein Vater, von dem es bis dahin hieß, dass er als Patissier für die Erzeugung köstlicher Desserts, Kuchen und Torten, von Eis und Feingebäck zuständig sei, in die Niederungen der Großküchen gezwungen, wo sich Bratfettdünste mit Dampfschwaden aus Geschirrspülern mischten und im bleichen Licht von Leuchtstoffröhren von einem Kollektiv Unzufriedener Wochenspeisepläne abgearbeitet wurden, das Mittagsmenü mit drei Gängen bei Hertie für 9 Mark 50.

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Erlösung aus dieser Knechtschaft fand er bei der Lektüre von Westernromanen, die er damals verschlang und bald auch schon zu imitieren begann. Mit ihnen füllte er die vielen leeren Augenblicke seiner Arbeitstage, von denen jeder einzelne eines neuerlichen Antriebs bedurfte. In Berlin wurde die Mauer gebaut, Hamburg erlitt eine schwere Sturmflut, in Dallas fiel Präsident Kennedy einem Attentat zum Opfer und auf Laos und Nordvietnam fielen Bomben. Derweil ließ unser Vater US-Kavallerie gegen aufmüpfige Cheyenne kämpfen, raubeinige Cowboys Blizzards und Banditen, Sandsturm und Starkregen trotzen, Sioux ein Massaker an verfeindeten Pawnees anrichten und immer wieder Männer mit Moral und Idealen an den Intrigen ihrer Vorgesetzten heldenhaft zugrunde gehen – zweifelhafte Mittel, um einem angeschlagenen Selbstbewusstsein auf die Beine zu helfen und ein zerrissenes Seelenleben wieder zusammen zu fügen.

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Und als er es endlich geschafft hatte, einige seiner Geschichten auf 64 Heftseiten gedruckt zu sehen, packte ihn auch schon die nächste Leidenschaft. Kaum dass mein Bruder über ein eigenes Auto verfügte, ließ er sich von ihm dorthin fahren, wo bergmännische Symbole auf alten Landkarten einen ungehobenen Schatz vermuten ließen, Silbererz oder ein anderes Edelmetall. Aber auch abseits ehemaliger Bergwerke winkte Wertvolles: eine Amphore mit römischen Goldmünzen, der Abdruck eines Ichthyosaurus in Ölschiefer oder ein Stück von einem Meteoriten aus den Tiefen des Weltalls. Die Sehnsucht danach erlosch nie.

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Zwischendurch fand er sogar noch Zeit, seinen Stammbaum weiter zu komplettieren. Weil er mit seiner Stammlinie nicht vorankam, was weniger der Unzuverlässigkeit der protokollierenden Pfarrer als der Unsesshaftigkeit seiner Vorfahren geschuldet war – eine Schwäche, die er nur allzu gut kannte –, verfolgte er abgelegene Nebenlinien und gab sich nicht eher zufrieden, als bis er eine Handvoll Ahnen mit Grundbesitz aufgestöbert hatte, die noch älter waren als Friedrich der Große.

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