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Nach wenigen Klicks hatte Alexander das Beerdigungsregister der evangelischen Kirche in Waldersbach für die Zeit von 1775 bis 1792 aufgerufen. Es begann mit einem sauberen zweispaltigen Namensregister, von A wie André bis Z wie Zéhender. Erst danach folgte das Titelblatt:

 

REGISTRE

DES

ENTERREMENS

faits

dans la Paroisse de

VALDERSBACH

AU COMTÉ DU BAN DE LA ROCHE

Commencée

avec

L’ANNÉE 1775

Pendant

le Ministère

de

JEAN FRÉDÉRIC OBERLIN.

 

„Das Menü zeigt insgesamt 198 Doppelseiten an“, sagte Alexander. „Entweder wir arbeiten uns da durch –“


„Ich kann das übernehmen“, sagte Kim.


„– oder wir gehen erst einmal das Register durch. Das sind nur ein paar Seiten.“


„Machen wir das“, pflichtete Kim ihm bei.


„Im Institut in Straßburg nennen sie das Skelett übrigens DOMINIQUE, weil es ihnen die Festlegung auf das Geschlecht erspart. Mal sehen, was uns unter D erwartet.“


Die Doppelseite mit den Namen D bis G war nur zur Hälfte beschrieben; unter D waren Daeppen, Dobs und Dorschy verzeichnet. Alexander klickte die nächste Doppelseite an, überflog sie, klickte weiter. Auf der letzten Seite des Registers wurde er fündig. In der leeren Spalte neben dem Buchstaben Z, worunter nur zwei Namen registriert waren, stand Individu inconnu und daneben die Seitenzahl: p. 267.


„Hier!“ rief er. „Das könnte es sein.“


Er reichte Kim das Telefon. „Davor sind noch zwei Wörter durchgestrichen. Was kann da gestanden haben?“


Kim vergrößerte den Ausschnitt. „Das zweite Wort ist beim besten Willen nicht mehr zu entziffern. Und das erste –“


Als Zeichen ihrer Unsicherheit bewegte sie den Kopf hin und her.


„– das erste Wort sieht aus wie englische. Ja, ich glaube, es heißt englische. Vielleicht nahm Oberlin vorübergehend an, dass der Tote aus England stammte“, sagte sie unschlüssig. „Aus welchem Grund auch immer. Macht das Sinn? Wurden in England solche künstlichen Schädeldeformationen praktiziert?“ Sie gab Alexander das Telefon zurück.


„Nirgendwo in Europa nach dem 7. Jahrhundert“, sagte Alexander und beugte sich über die Vergrößerung. „Immerhin ist das Wort ja auch gestrichen. Schauen wir mal, was auf Seite 267 steht.“


Draußen hatte sich die Landschaft verändert, Bauernhöfe und Weiden waren Industrieanlagen mit komplizierten Namen in großen Buchstaben auf den Fassaden gewichen. Die Ruine eines Fabrikschornsteins glitt vorüber. Dann verlangsamte der Zug wieder einmal seine Fahrt. Kim erkannte mehrere Fischteiche und unmittelbar an den Geleisen ein Sägewerk mit riesigen Stapeln von zugeschnittenem Holz. Der Zug hielt. Urmatt.


Ein paar Klicks hatten Alexander auf die angegebene Doppelseite geführt. Das linke Protokoll stammte vom 18. November, das rechte vom 21. November. Beide waren in Oberlins schöner gleichmäßiger Schrift geschrieben und mit seiner Unterschrift versehen. Im Eintrag auf der linken Seite waren der Name, Nicolas Loux, und das Alter des Verstorbenen, 63 Jahre, unterstrichen. Beide Angaben fehlten im Eintrag gegenüber. Auf dem breiten Rand standen in großen Ziffern die Seitenzahl und das Datum der Beisetzung, daneben ein kurzer Text, von dem einzelne Wörter durch größere Buchstaben hervorgehoben waren. Kim nahm sich das Telefon und las vor:

 

Unbekanntes Individuum, unbestimmten Alters, nach glaubhafter Anzeige von Didier Marchal, Köhler zu Bellefosse, verstorben im Jahre des Herrn eintausend siebenhundert acht und achtzig, Mittwoch, den 19. Novembris, um drei Uhr nachmittags auf dem Hochfeld, beerdigt vom Unterzeichneten am darauffolgenden Freytag auf dem Kirchhofe zu Waldersbach. Zeugen: Joseph Conseurant, Fossoyeur zu Waldersbach, René Regenass, Landmann zu Belmont.

 

„Dazu noch drei Unterschriften, von Oberlin und von den beiden Zeugen. Ziemlich ungelenke Handschriften.“


„Was ist ein Fossoyeur, Kim?“


„Das ist der Totengräber.“


„Dass ein Totengräber und ein Bauer überhaupt schreiben können, ist ja auch nicht selbstverständlich in dieser Zeit. Dafür hat wahrscheinlich Oberlin gesorgt.“


„Ganz unten auf der Seite gibt es noch ein Postskriptum. Moment, ich muss es vergrößern, die Schrift ist zu fein.“ Kim las auch diesen Text vor.

 

M. Marchal sagt, er habe den Unglücklichen todt vor der Feuerstelle seines Kohlenmeilers aufgefunden, er sei vollkommen nackt gewesen und habe übrigens keine Zeichen einer Verletzung aufgewiesen. Von den Aelteren in meiner Gemeinde, welche ich (tactvoll) auf diese Sache angesprochen, konnte sich kein Einziger auf die Geburt eines derart missgestalteten Kindes in den letzten 30 Jahren besinnen. Der Leichnam wurde hier in der Stille beigesetzt, und es ist nach Absprache mit meinem Amtsbruder Pastor Joh. Friedr. Schweighaeuser in Rothau auch keine Mitteilung an den Maire M. Dietrich ergangen. Denn allem Subordinationsverhältnisse und den daraus hervorgehenden Decreten ohngeachtet bleibt der Diener Gottes doch immer souverain in seinem Wirkungskreise, und kein behördlicher Befehl kann ihn zu einer Handlung zwingen, die er nicht mit seiner eignen Ueberzeugung und seiner eignen Verantwortung in Uebereinstimmung findet. Ergo muss verhindert werden, dass dieß Individuum einer übereifrigen Wissenschaft als Object fernerer Untersuchungen dient, als Sensation in Spiritus gesetzt und auf dem Jahrmarkte ausgestellt wird. J. Fr. O., Pastor des Steinthals

 

Kim grinste. „Das klingt, als wenn das speziell an Dich adressiert wäre. Lassen Sie die Finger von DOMINIQUE, Mr. Fairchild!“


Alexander ignorierte ihre Ironie und wies stattdessen auf das Display. „Vor der Unterschrift sind einige Wörter gestrichen. Kannst Du das trotzdem lesen?“


Kim starrte auf das Display. „Die Schrift ist so verdammt klein. Der letzte Satz war ursprünglich länger. Hier, diese Wörter kann man gut lesen: ‚Speculationen’, ‚Nahrung’, ‚in der Folge’. Aber der Rest?“

 

 
 
 

Alexander gähnte hinter vorgehaltener Hand. Für ihn war es höchste Zeit, die Unterhaltung wieder zum Thema zurückzuführen, dessentwegen sie gekommen waren.



„Was für Informationen gibt es in den Kirchenbüchern?“


„Wenn es um einen Sterbefall geht, kommen die Beerdigungsregister in Frage.“


Alexander hätte gern gefragt, ob er sie jetzt gleich einsehen dürfte, aber schon fuhr Schweighaeuser mit Leidenschaft fort.


„Es gab damals keine landesweiten Regeln, wie die kirchlichen Verzeichnisse zu führen waren. Oberlin hat es einfach auf seine Weise gemacht, und das hieß: die bestmögliche. Ausführlich und bis ins kleinste Detail genau. Name des Verstorbenen, Beruf, gegebenenfalls öffentliche Ämter, Name der Eltern, Geburtsort und -datum, sämtliche Eheschließungen mit Namen der Ehepartner und Heiratsdaten, Todesursache, Sterbedatum mit Uhrzeit, Ort und Datum der Beerdigung und Sterbealter. Anschließend noch Namen, Berufe und Unterschriften der Zeugen. Dass sie ihre Namen überhaupt schreiben konnten, war natürlich auch das Verdienst von Oberlin. Woanders hätten die Leute zu dieser Zeit bloß ein Kreuz gemacht.“


„Sie kennen sich ja hervorragend aus“, sagte Kim.


„Ja, ich bin einigermaßen informiert. Früher bekam ich ab und zu Anfragen zu einem Kind, das 1778 gestorben ist, und musste nachsehen.“


Alexander war plötzlich hellwach. „Ein Kind?


„Ja, ein kleines Mädchen in Fouday.“


„Es war nicht 1788?“


„Wie ich sagte, 1778, im Februar, als hier in diesem Pfarrhaus ein Besucher einquartiert war, ein Dichter.“


„Davon hatte ich keine Ahnung.“


„Die meisten Leute, die hier klingeln, kommen wegen diesem Herrn Lenz. Ein junger deutscher Dichter, mit Goethe befreundet. Er war drei Wochen zu Besuch bei Oberlin. Es war nicht einfach mit ihm, er war nämlich ein bisschen verrückt, dieser Lenz. Unter anderem hat er versucht, das tote Mädchen in Fouday zu erwecken. Wie Jesus im Markus-Evangelium.“


Jetzt mischte sich Kim ein.


„Gibt es etwas Besonderes an diesem Sterbefall, an das Sie sich erinnern können?“


„Ich kann mich sehr gut erinnern, ich habe für Wissenschaftler vor allem in Deutschland mehrfach Fotokopien anfertigen müssen. Es sind nur die üblichen Angaben, mit einer Ausnahme: Das Protokoll stammt nicht von Oberlin, weil er zu dieser Zeit verreist war, sondern vom Pastor in Rothau.“


 „Wissen Sie noch die Todesursache des Mädchens?“


„Der Vermerk von Pastor Schweighaeuser lautete: Es starb unter Krämpfen. Mehr wissen wir nicht.“


„Und wie alt war das Kind?“


„Kein halbes Jahr.“


„Nein, dann ist es nicht das, wonach wir suchen“, sagte Alexander. „Wir suchen einen Sterbefall aus dem Jahr 1788. Können wir die Beerdigungsregister bei Ihnen einsehen?“


„In dieser Hinsicht habe ich eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie“, antwortete Schweighaeuser. „Die schlechte zuerst: Die Kirchenbücher sind alle in Straßburg, in den Archives départementales, im schicken Neubau an der rue Philippe Dollinger. Wie übrigens der gesamte Nachlass von Oberlin. Das ist alles im Archiv. Wir haben hier gar nichts mehr, außer den letzten Jahrgängen ab etwa 1990.“


Er zögerte einen Moment, als ob er die Spannung erhöhen wollte.


„Die gute Nachricht: Alle Kirchenbücher in Frankreich wurden in den letzten Jahren digitalisiert und stehen online zur Verfügung. Kostenlos.“


„Kostenlos? Donnerwetter. Bei uns in den USA würde man damit Geld verdienen.“


„Die Website ist sehr übersichtlich und komfortabel. Dort finden Sie alles, was sie suchen.“

 

. . .

 

Weil der Zug nach Straßburg erst nach vier Uhr fuhr, ließen sich Alexander und Kim mit dem Rückweg Zeit. In den Vorgärten stritten Amselhähne um ihr Revier, Milchkühe trotteten gemächlich heimwärts. In Fouday besichtigten sie den Friedhof, auf den sie Pastor Schweighaeuser hingewiesen hatte. „PAPA OBERLIN“ stand auf dem schmiedeeisernen Kreuz, das die große, von oben bis unten beschriftete Steinplatte überragte, die das Grab bedeckte. Der achtungsvoll-zärtliche Name war ihm von seiner Gemeinde schon zu Lebzeiten verliehen worden. Erst 1826, im hohen Alter von 85 Jahren, war er gestorben, nach 59-jähriger Amtstätigkeit in Waldersbach, wozu sich auf dem Grabstein wieder die Namensvariante Waldbach fand.


Sie saßen kaum im Zug, als Alexander sein Telefon herausholte und auf die Website ging, die ihnen Schweighaeuser genannt hatte: Archives en ligne.


Kim sah aus dem Fenster. Bauernhöfe mit Nebengebäuden zogen an ihr vorbei und freistehende Häuser. Dann blickte sie zum Himmel, das Kinn auf die Hand gestützt. In jedem Wolkengebilde entdeckte sie die Spur von einem Turricephalus. Sie wechselte vom Platz gegenüber auf den Platz neben Alexander und stieß ihn an. „Bist Du aufgeregt?“


„Kein bisschen“, log er lächelnd.

 
 
 

Sie trafen sich am nächsten Tag um viertel nach Elf auf dem Bahnhof; die Wartezeit verbrachten sie gegenüber in der Filiale einer Boulangerie-Kette. Als sie in den Zug stiegen, hellte der Himmel sich auf, und als der Zug die Ebene mit den Stationen Elzheim, Molsheim, Mutzig und Gresswiller hinter sich gelassen hatte, strahlte er in leuchtendem Blau.


Der Bahnhof von Fouday sah ausgesprochen niedlich aus, wie bei einer Spielzeugeisenbahn. An diesem Haltepunkt war die Strecke eingleisig. Es gab ein Wartehäuschen, aber nicht einmal einen Fahrkartenautomaten. Nur die gefüllten Vogelfutterautomaten in der Platane vor dem Bahnhofsgebäude verrieten, dass das Haus bewohnt war.


Sie folgten dem Schild „chemin de Waldersbach“, das sie oberhalb an einer Kirche vorbeiführte und im Zickzack auf einen Hügel leitete, wo die schmale, anfangs noch auf beiden Seiten mit Häusern bestandene Straße in einen Macadam-Fußweg überging. Bald umfing sie dichter Eichen-und Buchenwald, vereinzelt mit Fichten durchsetzt, dazwischen kräftige alte Haselnusssträucher.


Über einen zur Hügelseite hin mit großen Quadern befestigten Wiesenweg erreichten sie die ersten Gebäude des Dorfes, Wohnstallhäuser mit tief herabgezogenen Schindeldächern und sorgfältig behauenen Tür- und Fensterrahmen aus rotem Sandstein, einige davon mit einem Zinkblechmantel vor der Fassade. Auf einem Hügel stand die kleine, weiß verputzte Kirche mit dem Wetterhahn auf dem Schindeldach, daneben ein riesiger, uralter Lindenbaum. Hinter einem hohen Torbogen lag das Pfarrhaus, aus dessen Kamin gemächlich Rauch in den klaren Himmel stieg, und aus dem Brunnen vor der Hofeinfahrt plätscherte kristallklares Wasser in den bemoosten Sandsteintrog. Sie kamen sich vor wie Zeitreisende, die in einer fernen Vergangenheit angekommen waren. Andächtig blieben sie eine Weile in einiger Entfernung stehen und betrachteten die Idylle, ehe sie an der liebevoll gearbeiteten Tür des Pfarrhauses klingelten.


Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit kurzgeschnittenem, verblichenem blondem Haar und verblichenen blauen Augen unter steifen weißen Augenbrauen öffnete. Er musterte sie gründlich, dann sagte er: „Das Museum ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen.“


„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kim und neigte den Kopf zur Seite, „wir wussten gar nicht, dass es hier ein Museum gibt.“


Alexander gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. „Wir haben eine Frage zu den Kirchenbüchern.“


Über die Stirn des Mannes lief eine lange Falte. „Sie sind Familienforscher?“


„Oh nein“, erwiderte Alexander. „Ich bin Naturwissenschaftler.“


„Und Sie haben, wie man hört, eine weite Reise hinter sich. Woher kommen Sie? Aus England?“


„Aus Washington, USA. Aber meine Frau ist eine halbe Französin aus Paris.“


„Ich bin Benjamin Schweighaeuser, der Pastor dieser Gemeinde, und von Belmont und Bellefosse ebenfalls. Was kann ich für Sie tun?“


„Wir interessieren uns für einen bestimmten Sterbefall aus dem Jahr 1788. Wir wollten in den Kirchenbüchern nachsehen, ob es dort Informationen gibt.“


„Das ist sehr gut möglich. In dieser Zeit war Jean-Frédéric Oberlin hier Pastor, und er –“


Alexander schlug sich an die Stirn. „Daher kenne ich Waldersbach!“


„– und er hat die Register mustergültig geführt.“


„Du kennst den ehemaligen Pfarrer von Waldersbach?“, wunderte sich Kim.


„Nein, das wäre zu viel gesagt“, sagte Alexander und blickte erst Kim, dann den Pastor an. „Aber ich hatte einen lieben Kollegen in Bloomington, der kam aus Ohio und hatte am berühmten Oberlin College studiert. Er hat mir ein bisschen über diesen Mann erzählt. Er muss ein großer Menschenfreund gewesen sein. Und auch Wohltäter für die Menschen in dieser Gegend.“


„Das kann man sagen“, bestätigte Schweighaeuser. „Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass er die Zivilisation ins Steintal gebracht und die Leute aus ihrer Lethargie geholt hat. In Eigenregie wurden Sümpfe trockengelegt, Felsen gesprengt, Brücke und Straßen gebaut, Äcker und Wiesen neu angelegt, und Oberlin immer mittendrin mit Pickel und Spaten, als Seelsorger, Arzt und Handwerker in einer Person. Bis dahin war das Steintal eines der rückständigsten Gebiete in Frankreich gewesen. Man nannte es elsässisch Sibirien.“


„By the way“, warf Alexander ein, „wissen Sie vielleicht, ob es damals im Steintal Sitte war, den Säuglingen den Kopf zu bandagieren?“


Schweighaeuser sah ihn irritiert an. „Sie meinen als Schutz, damit sie sich nicht verletzen?“


„Nein, nicht als Schutz. Um das Wachstum des Kopfes zu beeinflussen. Er dehnt sich dann nach oben aus. Er wird länger.“


Schweighaeuser griff sich an den Kopf. „So wie meiner? Meine Mutter meinte immer, ich hätte einen richtigen Eierkopf, aber es sei nicht ihre Schuld gewesen.“


„In der Frühgeschichte der Menschheit war es sehr beliebt, die Form des Schädels zu manipulieren“, erklärte Alexander. „Man nimmt an, es diente zur Unterscheidung einer bestimmten privilegierten Gruppe oder Kaste.“


Der Pastor schüttelte den Kopf. „Das wäre hier fehl am Platze gewesen. Hier gab es nur ein paar armselige Kleinbauern und Handwerker, Tagelöhner und Waldarbeiter, alle mehr oder weniger arm. Wie kommen Sie darauf, dass hier so etwas praktiziert worden sein könnte?“


„Es war nur eine Vermutung“, sagte Alexander ausweichend.


„Wir haben im Museum in Straßburg eine Zeichnung gesehen“, kam ihm Kim zu Hilfe. „Das hat uns auf die Idee gebracht.“


„Davon habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch kein Volkskundler. Experten für dieses Thema finden Sie sicher in Straßburg. Nach Waldersbach kommen die Leute wegen Oberlin. Manche klingeln bei mir und fragen Dinge, die sie ebenso gut irgendwo nachlesen können. Und ganz Hartnäckige gibt es, die wollen mit mir diskutieren. Hier an der Haustür. Zurzeit ist das große Thema, wenn ich so sagen darf, Oberlins sogenanntes Geheimwissen.“


„Er hatte auch eine dunkle Seite?“ fragte Kim, die froh war, dass Schweighaeuser wieder zu einem eigenen Thema zurückgefunden hatte.


„Mit Okkultismus hatte es nichts zu tun“, erwiderte der Pastor. „Was da geschrieben wird, ist alles aufgebauschter Unsinn. Immerhin, es ist kein Geheimnis, nach dem Tod seiner Frau glaubte er über die Gabe des Geistersehens zu verfügen. Aber mit Spuk im üblichen Sinn hat das nichts zu tun. Es war nur eine weitere Facette seiner Frömmigkeit. Er glaubte, auf diese Weise Zeichen und Botschaften Gottes zu empfangen. Glaube entsteht ja nicht aus dem Wiederkäuen dogmatischer Lehren, sondern an der Schwelle zum Unausdenkbaren. Aber zugleich, und das ist viel bedeutsamer, war er ein Aufklärer, geradezu besessen von den Idealen der Vernünftigkeit und Nützlichkeit. Schulen hat er auch gegründet, und sie wurden sogar besucht. Es gab ja noch keine Schulpflicht in Frankreich. Die Kleinkinderschulen sind ebenfalls seine Erfindung.“

 

 
 
 
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