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Plötzlich verspürt Adenauer Lust auf ein bisschen Musik. Und dazu kurz auf dem Sofa langlegen. Andere würden es ausruhen nennen, doch das Wort kommt ihm ungern über die Lippen. Konrad der Dynamische. Er geht hinüber ins Wohnzimmer, schaltet das Tonbandgerät ein, streift die Schuhe ab und streckt sich auf dem Sofa aus.

 

Nun merk' ich erst wie müd‘ ich bin,

Da ich zur Ruh‘ mich lege;

Das Wandern hielt mich munter hin

Auf unwirtbarem Wege.

 

Ein paar Noten, ein paar Worte, und schon ist man Teil der Szene. Eine fahle Winterlandschaft unter einem vollen Mond. Einsamer Wanderer, folge ich den Spuren, die das Wild im Schnee hinterlassen hat. Unklar, ob ich ein Fremder bin oder unter Fremden war. Habe kehrt gemacht, bin in die Dunkelheit geflohen, getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht.

 

Augen schließen und das Gehirn auf Null stellen. Erst mal das Bewusstsein von allem befreien, was nicht zur Empfindung dieses Augenblicks gehört. Gar nicht so einfach. Nur wenn einem das gelingt, entwickelt man ein echtes Gefühl für den Schmerz dieses Menschen. Zurückweisung und Einsamkeit hat er erlebt. Eine Schmerzkaskade, die niemand schöner singt als Karl Erb.

 

Da möchte man nicht der Fisch sein, hat Schwaderlapp gesagt. Ob ihm wohl bewusst ist, was er da Kluges ausgesprochen hat? Jedenfalls nichts Unkluges. Es ist tatsächlich alles eine Frage der Perspektive. Der kleine Weißfisch ist sich gewiss einen trügerischen Moment lang auch wie ein erfolgreicher Jäger vorgekommen. Bis er selbst zur Beute wurde. Und dem Zander erging es nicht anders. Vom Köder verführt, an den Haken gelockt. Am Ende ist es immer die Gier, die uns zur Strecke bringt.

 

Und ich? Bin nie Fisch, immer Angler gewesen. Nie vom Köder verführt und an den Haken gelockt.

 

Ach, dass die Luft so ruhig!

Ach, dass die Welt so licht!

Als noch die Stürme tobten,

War ich so elend nicht.

 

Wirklich nie vom Köder verführt? Vorbei ist es mit der Konzentration auf die Musik. Seine Gedanken schweifen ab, und die Erinnerung befördert unangenehme Fragen an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er steht auf, schaltet das Gerät aus und legt sich wieder hin, schließt die Augen und versucht, seinen Atem dem Rhythmus seines Herzschlags anzupassen.

 

Was, wenn sich herausstellte, dass seine ganze nervöse Regsamkeit zu Jahresbeginn, die Reisen, die Gespräche, die Vorträge und Interviews, wenn das alles letztlich nicht auf eigenem Wollen beruhte, sondern von einer unsichtbaren Hand mehr oder weniger arrangiert worden, wenn sein scheinbar bedachtes Handeln nichts anderes gewesen wäre als die Ausführung der Idee eines andern, nach der Devise: Lass den Alten nur machen, lange hält er das nicht durch, dann trifft ihn der Schlag und wir sind ihn los.

 

Für diese Annahme spricht nicht in erster Linie Plausibilität, sondern statistische Wahrscheinlichkeit. Treulosigkeit und Verrat: Nichts kommt öfter vor in der Menschheitsgeschichte. Die Bibel ist voll davon. Vom Treuebruch des Sündenfalls bis zur Niedertracht des Judaskusses. Muss er seine Feinde im Lager seiner Freunde suchen? Angebliche Freunde, versteht sich, die ihn eingewickelt haben mit dem Ziel, ihn zu ruinieren. Ist es möglich, dass man erneut eine Verschwörung gegen ihn eingefädelt hat, eine letzte, endgültige, gut getarnt durch Lobreden und Liebenswürdigkeiten? Gewiss haben die römischen Senatoren auch gelächelt, bevor sie Caesar ihre Dolche in den Leib rammten.

 

Caesar hieß auch sein Rottweiler. War genauso alt wie die Bundesrepublik. Hat meinen Sturz aber nur um ein Jahr überlebt. Paul und die Frauen hatten sich zusammengetan und gemeinsam das Todesurteil gefällt. Sie meinten, er sei alt und verbraucht. Beinahe jeden Tag lagen sie mir in den Ohren: „Der Arme leidet doch Schmerzen, keine Treppe kann er mehr laufen, eigentlich quält er sich nur noch herum.“ Es kam mir vor, als würden sie über mich reden. Dabei fraß der Caesar immer noch mit gutem Appetit, und bei Sonnenschein lag er liebend gern draußen auf dem weichen Rasen vor der Hütte. „Kommt ja gar nicht in Frage“, verkündete er in scharfem Ton, „Caesar und ich halten einander die Treue.“

 

Daraufhin wurde beschlossen, den Hund ohne seine Einwilligung einschläfern zu lassen. Die Prillwitz musste bei mir vorfühlen. Es war ein Sommerabend, wir hatten eben eine Partie Boccia gespielt (ich 13, die Prillwitz 8 Punkte). Kann mich beim Bocciaspiel gut abreagieren. Besonders in kritischen Zeiten. In unkritischen auch. Wir saßen auf der Terrasse, Caesar zu meinen Füßen, eine Pfote über meinen Schuhen.

 

„Wenn der Caesar eines Tages doch einmal tot ist“, fragte die Prillwitz mit sanfter Stimme, „möchten Sie dann wieder einen Hund haben, Herr Bundeskanzler?“

 

Eine Frage, die auf leisen Pfoten herangeschlichen kam, aber mit dem tödlichen Atem eines Tigers. Deshalb verweigerte er auch jede Antwort. Stattdessen beugte er sich herunter, strich dem Hund liebevoll über das Fell und sagte: „Armer Caesar. Da spricht man von deinem Nachfolger, und du lebst noch und willst auch leben.“

 

Als er wenige Tage später abends nach Hause kam und nicht mit dem gewohnten Bellen begrüßt wurde, wusste er gleich Bescheid. Wieder ein schmählicher Verrat. Nicht einmal eine Gnadenfrist hatten sie dem armen Hund gegönnt. Wir waren beide alt. Wenn Gott den Menschen gnädig ist, dann doch vielleicht auch meinem Cäsar, diesem treuen Tier. Dachte ich. Stattdessen haben sie ihn einfach töten lassen. Aus dem Weg geräumt. Vergangen, vergessen, vorbei.

 

Mit Cäsars Vorgänger Rolf ist es ihm noch schlimmer ergangen. Benannt nach dem berühmten Mannheimer Terrier aus den zwanziger Jahren. Konnte angeblich Sprechen und Rechnen. Soll sich durch Klopfen mit der Pfote verständlich gemacht haben. Ein Mensch in Hundegestalt. Davon war mein Rolf weit entfernt. Dafür aber die treueste Hundeseele, die man sich vorstellen kann. Litt rundum an Altersschwäche. Für den war der Tod eine Erlösung. Aber bis dahin war er eben ein Rottweiler. Scharf und aufmerksam bis zuletzt. Den Tierarzt mit der Todesspritze in der Hand ließ er nicht an sich heran. Ich selbst musste ihm die Henkersmahlzeit beibringen, ein Stück vergiftetes Fleisch. Musste ich wieder dran denken, als ich den Parteivorsitz abgeben sollte. Meine letzte wichtige Funktion.

 
 
 

„Das Angeln hat Ihnen gewiss Freude bereitet, Herr Bundeskanzler“, sagt Schwaderlapp, als er Adenauer zuhause aus dem Mantel hilft.

 

„Danke der Nachfrage“, entgegnet Adenauer. „Vergnügungen, die Geduld oder Gewandtheit oder sogar beides erfordern, sind mein Fach schon immer gewesen. Mit dem Angeln ist es wie mit der Kunst. Ein gewisses Talent –“

 

Er macht eine Pause, um dem Privatsekretär Gelegenheit zu geben, den Gedanken zu Ende zu führen; Schwaderlapp jedoch, der den Mantel gerade auf einen Bügel und den Bügel an einen Garderobenhaken gehängt hat, missversteht sein Zögern. Überzeugt, dass der Alte den Faden verloren hat, wiederholt er sanft: „Ein gewisses Talent –“, womit er gedanklich auf der Stelle tritt.

 

Adenauer bleibt nichts anderes übrig, als den Satz selbst zu vollenden: „Gehört dazu.“

 

Obwohl die dünne Aktentasche nicht gerade auf einen Angelerfolg schließen lässt, glaubt Schwaderlapp, aus dieser Antwort den gegenteiligen Schluss ziehen zu müssen. „Da darf man Ihnen also gratulieren, Herr Bundeskanzler.“

 

„Dürfen Sie. Es war allerdings ein hartes Stück Arbeit. Man muss jeden Schritt genau bedenken. Und vor allem muss man dem andern, in diesem Fall also dem Fisch, immer eine Nasenlänge voraus sein.“

 

„Da möchte man nicht der Fisch sein“, sagt Schwaderlapp.

 

„Nicht? Ja, der hat seine Lektion gelernt. Ich schätze, der passt beim nächsten Mal besser auf.“

 

„Sie haben ihn wieder – zurückgesetzt?“

 

„Ich war so frei. Ein Fünfpfünder, so lang wie mein Arm. Hätten Sie ihn gern als Trophäe über ihrem Bett gehabt?“

 

Die Frage, insbesondere wegen der Verbindung mit seiner Schlafstätte, lässt Schwaderlapp erröten. „Ich – nein“, stottert er, bevor er wieder in seine übliche Rolle zurückfindet. „Sie haben Ihre Entscheidung gewiss nach Abwägung aller Argumente getroffen.“

 

„Allerdings“, bestätigt Adenauer, dreht dem Privatsekretär den Rücken zu und stapft die Treppe in den ersten Stock hinauf, gerade als die wuchtige Standuhr in der Ecke des Flurs, die nur der Hausherr aufziehen darf, 19 Uhr schlägt.

 

Nachher beim Abendessen ruft sich Adenauer wieder das Angelerlebnis vom Nachmittag ins Gedächtnis. Er hat einen großen Fisch gefangen, im Kampf Mann gegen Mann. Weil er geschickt manövriert, jeden Schritt genau bedacht hat. Genau wie der alte Santiago. Santiago! Das ist der Name! Na bitte!

 

Als er fertig gegessen hat, geht er hinüber ins Arbeitszimmer, das zur Hälfte von einem großen Perserteppich aus Isfahan eingenommen wird (Geschenk des Schahs zum Staatsbesuch 1957). Auf dem nierenförmigen Schreibtisch stapeln sich Rechnungen, Honorargutschriften, Einladungen und Prospekte; Banalitäten, die er mit einem verächtlichen Blick streift.

 

Gegenüber auf der Anrichte aus Nussbaumfurnier steht, ohne jede Nachbarschaft, weil es, wie er gern erklärt, so klein es auch ist, den ganzen Raum braucht, das Bild einer Kreuzigungsgruppe. Es ist auf Goldgrund gemalt, ein düsteres Gegenstück zur Madonna im Rosenhag im Kölner Museum. Italienische Schule des 15. Jahrhunderts, hat ihm sein Kunsthändler versichert. Es ist noch schlichter, noch weniger auf Wirkung bedacht als das Altarbild im Schlafzimmer mit dem sterbenden Gekreuzigten, der vom warmen Rot göttlichen Erbarmens umfangen wird.

 

Grausame Hoffnungslosigkeit geht von dem kleinen Bild aus. Gerade darum liebt er es besonders. Der Maler ist ehrlich gewesen. Das Leben ist kein Paradiesgarten. Im Vordergrund Maria und Johannes, zwei vom Schmerz gezeichnete Gestalten in kahler Felsenlandschaft, einsam hoch über ihnen ein Christus am Kreuz in leidvoller Ergebenheit, umschwebt von vier Engelsgestalten, die sein Blut in Kelchen auffangen. Sonst keinerlei Beiwerk. Nichts soll von der erschütternden Szene ablenken. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Prägnanter ist das Thema grenzenloser Einsamkeit kaum darzustellen.

 
 
 

„Der Russe an sich“, verkündet Adenauer, um sich das heikle Thema vom Hals zu schaffen, „ist ja im Allgemeinen friedliebend.“

 

„Ich weiß“, nickt das Mädchen.

 

„Ja?“

 

„Sie kommt aus der Ostzone“, erklärt Andreas, woraufhin sich Angelas Gesicht noch eine Spur dunkler färbt. „Können wir jetzt bitte gehen?“, sagt sie und dreht sich, zum Zeichen, dass sie entschlossen ist, den Rückweg anzutreten, halb um. „Wir sind nämlich spät dran.“

 

„Natürlich“, sagt Adenauer und schiebt sich an ihre Seite. „Wir gehen. Bis zum Hotel komme ich noch mit.“ Alle vier setzen sich in Bewegung.

 

„So, aus der Ostzone kommst du. Wann seid ihr denn rüber?“ fragt Adenauer das Mädchen. „Wann seid ihr denn geflüchtet?“

 

„Wir sind nicht geflüchtet“, antwortet das Mädchen kopfschüttelnd. „Wir sind zu Besuch hier.“

 

„Besuch aus der Ostzone, soso“, murmelt Adenauer. „Ich wusste gar nicht, dass das so einfach geht. Und ihr wollt wirklich wieder zurück?“

 

„Übermorgen. Übermorgen fahren wir zurück. In die Deutsche Demokratische Republik. Eine Ostzone gibt es nicht“, sagt das Mädchen und presst die Lippen zusammen.

 

„Sagen wir mal: Ostdeutschland“, sagt Adenauer. „Mit dem Namen Deutsche Demokratische Republik habe ich so meine Schwierigkeiten. Ein Land, das seine Bevölkerung hinter einer Mauer einsperrt, ist ja wohl keine Demokratie.“

 

„Mein Vater sagt, das ist nur vorübergehend. Die Mauer kann auch wieder abgebaut werden, wenn die Zahl der Arbeitslosen in Westdeutschland weiter in die Höhe geht.“

 

„Dein Vater ist anscheinend Berufsoptimist“, stellt Adenauer amüsiert fest. „Beziehungsweise Pessimist, wenn man es von Westdeutschland aus betrachtet.“

 

„Und dass man daran sieht, dass die CDU längst abgewirtschaftet hat“, fährt das Mädchen unbeirrt fort.

 

„Jetzt aber mal halblang, junges Fräulein“, entgegnet Adenauer gelassen. „Die Rezession und die hohe Arbeitslosigkeit, das muss man als gesamteuropäisches Problem sehen. Die Schuld nur auf die CDU zu schieben, das bringt gar nichts.“

 

„Aber die CDU regiert doch.“

 

„Glaubst du etwa, es sähe anders aus, wenn die SPD regieren würde? Die CDU trägt momentan halt die Regierungsverantwortung.“

 

„Und deshalb wird sie auch dafür verantwortlich gemacht. Das ist doch logisch“, befindet das Mädchen.

 

Logisch ist es vielleicht, denkt Adenauer. Aber Politik ist zu kompliziert, um mit logischen Maßstäben gemessen werden zu können. Na ja, das Mädel ist Mathematikerin, also ist sie es gewohnt, logisch zu denken. Wenn sie aus einem kommunistischen Elternhaus kommt, um so mehr. Kann vielleicht gar nicht mehr anders. Was wohl ihr Vater von Beruf ist? Wahrscheinlich Politiker. Dürfte sie sonst mit ihrer Mutter in den Westen reisen? Was für eine Jugend wächst da hinter der Mauer bloß heran.

 

„Dann bist du wohl bei der Thälmannjugend und trägst die Einheits-Uniform?“, fragt er freundlich lächelnd.

 

 „Das sind die Jungen Pioniere“, erwidert das Mädchen. Die blauen Augen funkeln angriffslustig. „In anderen Ländern tragen die Kinder doch auch Uniformen, sogar in der Schule. Zum Beispiel in England.“

 

„Ich glaube, vor allem aber in China und Russland.“

 

„Das ist doch gut, dass das so einheitlich ist.“

 

„Dass alle so gleich aussehen?“

 

„Ja, weil niemand ausgeschlossen wird, bloß weil er nicht so tolle Anziehsachen hat. Dass es keine Rolle spielt, wieviel Geld die Eltern verdienen. Im Westen geht es immer nur ums Geld, sagt mein Vater. Da denkt jeder nur an sein eigenes Wohlergehen. Und das wäre für ein Volk im Ganzen nicht gut.“

 

„Das ist auch nicht gut. Da stimme ich ganz mit deinem Vater überein.“

 

„Mein Vater meint auch“, sagt das Mädchen mit fester Stimme, „wenn sich die Lage in Westdeutschland nicht bald bessert, dass dann radikale Parteien an die Macht kommen können.“

 

„Da hat er Recht, hundertprozentig Recht“, stimmt Adenauer zu. „Das deutsche Volk ist noch lange nicht im Gleichgewicht. Ich habe große Sorge, dass die Deutschen wieder dem Extremismus verfallen.“ Und nach kurzem Schweigen fügt er mit maliziösem Lächeln hinzu: „Die Gefahr besteht in Ostdeutschland natürlich nicht. Da haben sich alle Parteien auf den Kurs der Einheitspartei eingeschworen.“

 

„Und das ist gut so. Zum Beispiel ist bei uns der Faschismus verboten. Mein Vater meint, dass in Westdeutschland noch die alten Nazis mitreden. Deshalb ist er auch gegen eine Wiedervereinigung.“

 

Ich bin auch gegen eine Wiedervereinigung, denkt Adenauer, während sie, einer nach dem andern, die Steinstufen zum Hotel Bellevue hinaufsteigen. Solange drüben noch die alten Kommunisten mitreden. Vom KZ ins ZK, was soll dabei schon herauskommen. Die ersten freien Wahlen würden wir totensicher verlieren.

 

Oben angekommen, sagt er laut: „Das ist – aber schade.“ Das angestrengte Atmen nötigt ihn zu Zwangspausen beim Sprechen. „Ich glaube –, die Menschen – in Deutschland –, im Westen wie – im Osten –, wünschen sich – nichts sehnlicher.“

 

„Tja, Pech“, sagt das Mädchen. „Hier ist das Hotel. Auf Wiedersehen.“

 
 
 
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