„Und wie heißt Du?“ fragt Jakob und stupst Adenauer vorsichtig an.
„Ich? Na… Hermann Josef“, antwortet er nach kurzer Überlegung. Es ist die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze.
„Das ist aber kein Indianername.“
„Stimmt“, räumt Adenauer ein. „So heiße ich nur, wenn ich in Deutschland bin. Meine Leute drüben kennen mich als Häuptling Layadaholu. Das ist indianisch und heißt Weiser Anführer.“
„Du, Hermann Josef…“ sagt Jakob zögernd, „als du noch Indianerhäuptling warst…“
„Ja“, seufzt Adenauer. Nun bereut er es doch, das Indianerthema angeschlagen zu haben.
„Hast du da oft kämpfen müssen?“
„O ja!“
„Eine Million Mal?“
„So ungefähr.“
„Au au au au“ ruft Jakob und hüpft vor Aufregung hin und her, woraufhin der Kater erneut Adenauers Nähe sucht, der ihn geduldig an seinem Gehstock schnüffeln lässt.
„Ohne Kampf ist das Leben ja auch langweilig“, erklärt Adenauer. „Wenn man den Kampf verliert, ist das natürlich bitter. Aber besiegt zu werden, ist kein Unglück. Wichtig ist, dass man den Kampf annimmt und sein Bestes gibt, um zu gewinnen. Und wenn man tatsächlich siegt… Ja, das ist herrlich. Und selbstverständlich waren nicht alle Kämpfe so schwer wie der gegen den Dampfenden Büffel.“
„Warum denn?“ fragt Jakob.
„Dazu müsst ihr folgendes bedenken: Bei uns Indianern wird der Häuptling alle vier Jahre von einer Ratsversammlung gewählt. In der Ratsversammlung zu sitzen ist eine hohe Ehre. Aber der Dampfende Büffel war damit nicht zufrieden. Er wollte noch höher hinaus. Vor lauter Ehrgeiz konnte er schon nicht mehr schlafen. Immer dachte er nur daran, was er noch mehr werden könne.“
„Wie beim Fischer und seiner Frau!“ ruft Jakob aufgeregt.
„Genau“, pflichtet Adenauer ihm bei. „Eines Tages kam er zu mir und sagte –“
„Ich will werden wie der liebe Gott!“ schreit Jakob dazwischen.
„Mensch Jakob, halt doch die Klappe“, schimpft Andreas. „Ich will hören, wie es weitergeht!“
„– kam er zu mir und sagte: ‚Pass mal auf, Layadaholu, du bist schon alt und wir müssen demnächst einen Nachfolger für dich wählen. Von allen in der Ratsversammlung bin ich derjenige, der am längsten dabei ist, deshalb habe ich Anspruch darauf, Häuptling zu werden.‘“
Diesmal ist es Andreas, der es genauer wissen will. „Und was haben Sie dann gesagt?“
„Ich hatte berechtigte Zweifel daran, dass der Dampfende Büffel ein guter Häuptling sein würde. Ich kannte ihn ja schon viele Jahre aus den Ratsversammlungen. Ein Häuptling darf sich nicht nur um das eigene Wohlergehen und das seines Stammes kümmern. Er muss auch ein gutes Verhältnis zu den Nachbarstämmen pflegen. Also, um es mal bildlich auszudrücken: Nicht immer nur dicke Zigarren, sondern ab und zu auch mit den anderen Stammesführern die Friedenspfeife rauchen. Ohne deren Vertrauen können wir unser Land gegenüber unseren Feinden nicht halten. Wir alle brauchen Freunde, dass wisst ihr doch auch.“
Die Jungen nicken. Dass gleichzeitig der Kater miaut, ist nur dem Zufall geschuldet.
„Und nicht genug“, fährt Adenauer fort, „dass der Dampfende Büffel in meinen Augen unfähig war, die alten Bündnisse zu pflegen – er war auch drauf und dran, sie regelrecht zu untergraben, mein Lebenswerk zu zerstören. Außerdem war ich überzeugt, dass es dem Dampfenden Büffel an Kraft und – ja, auch an Strenge mangelte. Ein Häuptling muss streng sein, sonst wird ihm das von den eigenen Leuten als Schwäche ausgelegt. Und dann tanzen sie einem auf der Nase herum. Respekt hat man immer nur so viel, wie man sich selber verschafft. Das habe ich dem Dampfenden Büffel auch alles genau so gesagt, und seitdem waren wir Gegner. Oh ja, wir haben oft die Klingen gekreuzt. Lange war ich der Sieger. Aber eines Tages war es dann doch soweit. Da hatte er die Mehrheit der Stimmen in der Ratsversammlung und wurde zum Häuptling gewählt, ohne dass ich es verhindern konnte.“
„Aber wie hat er das geschafft“, fragt Andreas. „Wenn Sie doch der Häuptling und außerdem stärker als er waren?“
Der unvermutete Scharfsinn macht Adenauer vorübergehend sprachlos. Dann nickt er anerkennend. „Das ist eine sehr gute Frage, Andreas. Wie alt bist du?“
„Elf“, sagt Andreas.
„Erst elf, aber klüger wie manch einer, der von sich behauptet, er verstünde etwas von Politik. – Ja, wie hat er das geschafft? Es war kein offener Kampf. Mehr so… hintenherum. Als Häuptling hat man jeden Tag viele wichtige Dinge zu erledigen. Da kriegt man so manches, was sich hinter seinem Rücken tut, nicht mit. Ich habe einfach nicht gemerkt, dass der Dampfende Büffel und seine Freunde mich abhalftern wollten.“
„Was ist abfaltern?“ fragt Jakob.
„Abhalftern, das heißt soviel wie: zum alten Eisen werfen. Abservieren. Kaltstellen…“
„Das ist gemein!“ ruft Jakob.
„Ja, ist es“, erwidert Adenauer und starrt düster vor sich hin. Für einen Moment versinkt er in Schweigen. War bestimmt kein Zufall, dass sofort ein Schlager herauskam, wo es im Refrain hieß, der Herr mit dem Pepitahut würde jetzt ‘ne ruhige Kugel schieben. Also ich. Den Text soll ein Berliner geschrieben haben. Wundert mich nicht im Geringsten. Zum Glück ist die Musik so miserabel, dass das Lied kaum im Radio gespielt wurde. Trotzdem wird es augenzwinkernd hinter meinem Rücken gesungen. Warum, lieber Gott, hast du mir das Gift der Gehässigkeit in so großen Portionen zukommen lassen? Aber ich weiß schon, es sind die Prüfungen, aus denen Stärke erwächst. Erstaunlich, wie verdammt lebendig die Gefühle der Vergangenheit nach so langer Zeit noch sind. Die tiefsten Wunden heilen wohl nie. „Aber natürlich gibt auch noch höhere Dinge als wie Kampf“, sagt er schließlich.
„Was denn zum Beispiel?“ fragt Andreas und zieht den Kater, der vor Langeweile angefangen hat, das Netz mit den Pfoten hin und her zu schieben, näher zu sich heran.
„Arbeit.“
„Ach so“, sagt Andreas.
„Nicht: ach so“, sagt Adenauer. „Auch ein junger Mensch kann schon seine Pflicht erfüllen. Brav zur Schule gehen, fleißig lernen, Schularbeiten machen.“ Der Gedanke lässt ihn stutzen. „Wieso seid ihr eigentlich nicht in der Schule?“
„Wir haben doch noch Ferien. Und mein Bruder –“
„Ich muss noch nicht zur Schule!“ kräht Jakob dazwischen. „Weil ich noch nicht sechs bin. Vier, fünf, sechs!“ Jede Zahl betont er durch einen Hüpfer. Danach wird er von einem neuen Hustenanfall geschüttelt.