top of page

Alexander gähnte hinter vorgehaltener Hand. Für ihn war es höchste Zeit, die Unterhaltung wieder zum Thema zurückzuführen, dessentwegen sie gekommen waren.



„Was für Informationen gibt es in den Kirchenbüchern?“


„Wenn es um einen Sterbefall geht, kommen die Beerdigungsregister in Frage.“


Alexander hätte gern gefragt, ob er sie jetzt gleich einsehen dürfte, aber schon fuhr Schweighaeuser mit Leidenschaft fort.


„Es gab damals keine landesweiten Regeln, wie die kirchlichen Verzeichnisse zu führen waren. Oberlin hat es einfach auf seine Weise gemacht, und das hieß: die bestmögliche. Ausführlich und bis ins kleinste Detail genau. Name des Verstorbenen, Beruf, gegebenenfalls öffentliche Ämter, Name der Eltern, Geburtsort und -datum, sämtliche Eheschließungen mit Namen der Ehepartner und Heiratsdaten, Todesursache, Sterbedatum mit Uhrzeit, Ort und Datum der Beerdigung und Sterbealter. Anschließend noch Namen, Berufe und Unterschriften der Zeugen. Dass sie ihre Namen überhaupt schreiben konnten, war natürlich auch das Verdienst von Oberlin. Woanders hätten die Leute zu dieser Zeit bloß ein Kreuz gemacht.“


„Sie kennen sich ja hervorragend aus“, sagte Kim.


„Ja, ich bin einigermaßen informiert. Früher bekam ich ab und zu Anfragen zu einem Kind, das 1778 gestorben ist, und musste nachsehen.“


Alexander war plötzlich hellwach. „Ein Kind?


„Ja, ein kleines Mädchen in Fouday.“


„Es war nicht 1788?“


„Wie ich sagte, 1778, im Februar, als hier in diesem Pfarrhaus ein Besucher einquartiert war, ein Dichter.“


„Davon hatte ich keine Ahnung.“


„Die meisten Leute, die hier klingeln, kommen wegen diesem Herrn Lenz. Ein junger deutscher Dichter, mit Goethe befreundet. Er war drei Wochen zu Besuch bei Oberlin. Es war nicht einfach mit ihm, er war nämlich ein bisschen verrückt, dieser Lenz. Unter anderem hat er versucht, das tote Mädchen in Fouday zu erwecken. Wie Jesus im Markus-Evangelium.“


Jetzt mischte sich Kim ein.


„Gibt es etwas Besonderes an diesem Sterbefall, an das Sie sich erinnern können?“


„Ich kann mich sehr gut erinnern, ich habe für Wissenschaftler vor allem in Deutschland mehrfach Fotokopien anfertigen müssen. Es sind nur die üblichen Angaben, mit einer Ausnahme: Das Protokoll stammt nicht von Oberlin, weil er zu dieser Zeit verreist war, sondern vom Pastor in Rothau.“


 „Wissen Sie noch die Todesursache des Mädchens?“


„Der Vermerk von Pastor Schweighaeuser lautete: Es starb unter Krämpfen. Mehr wissen wir nicht.“


„Und wie alt war das Kind?“


„Kein halbes Jahr.“


„Nein, dann ist es nicht das, wonach wir suchen“, sagte Alexander. „Wir suchen einen Sterbefall aus dem Jahr 1788. Können wir die Beerdigungsregister bei Ihnen einsehen?“


„In dieser Hinsicht habe ich eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie“, antwortete Schweighaeuser. „Die schlechte zuerst: Die Kirchenbücher sind alle in Straßburg, in den Archives départementales, im schicken Neubau an der rue Philippe Dollinger. Wie übrigens der gesamte Nachlass von Oberlin. Das ist alles im Archiv. Wir haben hier gar nichts mehr, außer den letzten Jahrgängen ab etwa 1990.“


Er zögerte einen Moment, als ob er die Spannung erhöhen wollte.


„Die gute Nachricht: Alle Kirchenbücher in Frankreich wurden in den letzten Jahren digitalisiert und stehen online zur Verfügung. Kostenlos.“


„Kostenlos? Donnerwetter. Bei uns in den USA würde man damit Geld verdienen.“


„Die Website ist sehr übersichtlich und komfortabel. Dort finden Sie alles, was sie suchen.“

 

. . .

 

Weil der Zug nach Straßburg erst nach vier Uhr fuhr, ließen sich Alexander und Kim mit dem Rückweg Zeit. In den Vorgärten stritten Amselhähne um ihr Revier, Milchkühe trotteten gemächlich heimwärts. In Fouday besichtigten sie den Friedhof, auf den sie Pastor Schweighaeuser hingewiesen hatte. „PAPA OBERLIN“ stand auf dem schmiedeeisernen Kreuz, das die große, von oben bis unten beschriftete Steinplatte überragte, die das Grab bedeckte. Der achtungsvoll-zärtliche Name war ihm von seiner Gemeinde schon zu Lebzeiten verliehen worden. Erst 1826, im hohen Alter von 85 Jahren, war er gestorben, nach 59-jähriger Amtstätigkeit in Waldersbach, wozu sich auf dem Grabstein wieder die Namensvariante Waldbach fand.


Sie saßen kaum im Zug, als Alexander sein Telefon herausholte und auf die Website ging, die ihnen Schweighaeuser genannt hatte: Archives en ligne.


Kim sah aus dem Fenster. Bauernhöfe mit Nebengebäuden zogen an ihr vorbei und freistehende Häuser. Dann blickte sie zum Himmel, das Kinn auf die Hand gestützt. In jedem Wolkengebilde entdeckte sie die Spur von einem Turricephalus. Sie wechselte vom Platz gegenüber auf den Platz neben Alexander und stieß ihn an. „Bist Du aufgeregt?“


„Kein bisschen“, log er lächelnd.

 
 
 

Sie trafen sich am nächsten Tag um viertel nach Elf auf dem Bahnhof; die Wartezeit verbrachten sie gegenüber in der Filiale einer Boulangerie-Kette. Als sie in den Zug stiegen, hellte der Himmel sich auf, und als der Zug die Ebene mit den Stationen Elzheim, Molsheim, Mutzig und Gresswiller hinter sich gelassen hatte, strahlte er in leuchtendem Blau.


Der Bahnhof von Fouday sah ausgesprochen niedlich aus, wie bei einer Spielzeugeisenbahn. An diesem Haltepunkt war die Strecke eingleisig. Es gab ein Wartehäuschen, aber nicht einmal einen Fahrkartenautomaten. Nur die gefüllten Vogelfutterautomaten in der Platane vor dem Bahnhofsgebäude verrieten, dass das Haus bewohnt war.


Sie folgten dem Schild „chemin de Waldersbach“, das sie oberhalb an einer Kirche vorbeiführte und im Zickzack auf einen Hügel leitete, wo die schmale, anfangs noch auf beiden Seiten mit Häusern bestandene Straße in einen Macadam-Fußweg überging. Bald umfing sie dichter Eichen-und Buchenwald, vereinzelt mit Fichten durchsetzt, dazwischen kräftige alte Haselnusssträucher.


Über einen zur Hügelseite hin mit großen Quadern befestigten Wiesenweg erreichten sie die ersten Gebäude des Dorfes, Wohnstallhäuser mit tief herabgezogenen Schindeldächern und sorgfältig behauenen Tür- und Fensterrahmen aus rotem Sandstein, einige davon mit einem Zinkblechmantel vor der Fassade. Auf einem Hügel stand die kleine, weiß verputzte Kirche mit dem Wetterhahn auf dem Schindeldach, daneben ein riesiger, uralter Lindenbaum. Hinter einem hohen Torbogen lag das Pfarrhaus, aus dessen Kamin gemächlich Rauch in den klaren Himmel stieg, und aus dem Brunnen vor der Hofeinfahrt plätscherte kristallklares Wasser in den bemoosten Sandsteintrog. Sie kamen sich vor wie Zeitreisende, die in einer fernen Vergangenheit angekommen waren. Andächtig blieben sie eine Weile in einiger Entfernung stehen und betrachteten die Idylle, ehe sie an der liebevoll gearbeiteten Tür des Pfarrhauses klingelten.


Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit kurzgeschnittenem, verblichenem blondem Haar und verblichenen blauen Augen unter steifen weißen Augenbrauen öffnete. Er musterte sie gründlich, dann sagte er: „Das Museum ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen.“


„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kim und neigte den Kopf zur Seite, „wir wussten gar nicht, dass es hier ein Museum gibt.“


Alexander gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. „Wir haben eine Frage zu den Kirchenbüchern.“


Über die Stirn des Mannes lief eine lange Falte. „Sie sind Familienforscher?“


„Oh nein“, erwiderte Alexander. „Ich bin Naturwissenschaftler.“


„Und Sie haben, wie man hört, eine weite Reise hinter sich. Woher kommen Sie? Aus England?“


„Aus Washington, USA. Aber meine Frau ist eine halbe Französin aus Paris.“


„Ich bin Benjamin Schweighaeuser, der Pastor dieser Gemeinde, und von Belmont und Bellefosse ebenfalls. Was kann ich für Sie tun?“


„Wir interessieren uns für einen bestimmten Sterbefall aus dem Jahr 1788. Wir wollten in den Kirchenbüchern nachsehen, ob es dort Informationen gibt.“


„Das ist sehr gut möglich. In dieser Zeit war Jean-Frédéric Oberlin hier Pastor, und er –“


Alexander schlug sich an die Stirn. „Daher kenne ich Waldersbach!“


„– und er hat die Register mustergültig geführt.“


„Du kennst den ehemaligen Pfarrer von Waldersbach?“, wunderte sich Kim.


„Nein, das wäre zu viel gesagt“, sagte Alexander und blickte erst Kim, dann den Pastor an. „Aber ich hatte einen lieben Kollegen in Bloomington, der kam aus Ohio und hatte am berühmten Oberlin College studiert. Er hat mir ein bisschen über diesen Mann erzählt. Er muss ein großer Menschenfreund gewesen sein. Und auch Wohltäter für die Menschen in dieser Gegend.“


„Das kann man sagen“, bestätigte Schweighaeuser. „Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass er die Zivilisation ins Steintal gebracht und die Leute aus ihrer Lethargie geholt hat. In Eigenregie wurden Sümpfe trockengelegt, Felsen gesprengt, Brücke und Straßen gebaut, Äcker und Wiesen neu angelegt, und Oberlin immer mittendrin mit Pickel und Spaten, als Seelsorger, Arzt und Handwerker in einer Person. Bis dahin war das Steintal eines der rückständigsten Gebiete in Frankreich gewesen. Man nannte es elsässisch Sibirien.“


„By the way“, warf Alexander ein, „wissen Sie vielleicht, ob es damals im Steintal Sitte war, den Säuglingen den Kopf zu bandagieren?“


Schweighaeuser sah ihn irritiert an. „Sie meinen als Schutz, damit sie sich nicht verletzen?“


„Nein, nicht als Schutz. Um das Wachstum des Kopfes zu beeinflussen. Er dehnt sich dann nach oben aus. Er wird länger.“


Schweighaeuser griff sich an den Kopf. „So wie meiner? Meine Mutter meinte immer, ich hätte einen richtigen Eierkopf, aber es sei nicht ihre Schuld gewesen.“


„In der Frühgeschichte der Menschheit war es sehr beliebt, die Form des Schädels zu manipulieren“, erklärte Alexander. „Man nimmt an, es diente zur Unterscheidung einer bestimmten privilegierten Gruppe oder Kaste.“


Der Pastor schüttelte den Kopf. „Das wäre hier fehl am Platze gewesen. Hier gab es nur ein paar armselige Kleinbauern und Handwerker, Tagelöhner und Waldarbeiter, alle mehr oder weniger arm. Wie kommen Sie darauf, dass hier so etwas praktiziert worden sein könnte?“


„Es war nur eine Vermutung“, sagte Alexander ausweichend.


„Wir haben im Museum in Straßburg eine Zeichnung gesehen“, kam ihm Kim zu Hilfe. „Das hat uns auf die Idee gebracht.“


„Davon habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch kein Volkskundler. Experten für dieses Thema finden Sie sicher in Straßburg. Nach Waldersbach kommen die Leute wegen Oberlin. Manche klingeln bei mir und fragen Dinge, die sie ebenso gut irgendwo nachlesen können. Und ganz Hartnäckige gibt es, die wollen mit mir diskutieren. Hier an der Haustür. Zurzeit ist das große Thema, wenn ich so sagen darf, Oberlins sogenanntes Geheimwissen.“


„Er hatte auch eine dunkle Seite?“ fragte Kim, die froh war, dass Schweighaeuser wieder zu einem eigenen Thema zurückgefunden hatte.


„Mit Okkultismus hatte es nichts zu tun“, erwiderte der Pastor. „Was da geschrieben wird, ist alles aufgebauschter Unsinn. Immerhin, es ist kein Geheimnis, nach dem Tod seiner Frau glaubte er über die Gabe des Geistersehens zu verfügen. Aber mit Spuk im üblichen Sinn hat das nichts zu tun. Es war nur eine weitere Facette seiner Frömmigkeit. Er glaubte, auf diese Weise Zeichen und Botschaften Gottes zu empfangen. Glaube entsteht ja nicht aus dem Wiederkäuen dogmatischer Lehren, sondern an der Schwelle zum Unausdenkbaren. Aber zugleich, und das ist viel bedeutsamer, war er ein Aufklärer, geradezu besessen von den Idealen der Vernünftigkeit und Nützlichkeit. Schulen hat er auch gegründet, und sie wurden sogar besucht. Es gab ja noch keine Schulpflicht in Frankreich. Die Kleinkinderschulen sind ebenfalls seine Erfindung.“

 

 
 
 

„Eine Inventarnummer“, fuhr Hilde mit geschlossenen Augen fort, „wird doch wohl vergeben, wenn eine Sache ins Inventar aufgenommen wird. Also sollte man annehmen, dass es eine Jahreszahl gibt und eine laufende Nummer. Weil wir die Jahreszahl bereits kennen, 1788 nämlich, müssen wir nicht lange herumrätseln, welche Ziffern was bedeuten. Die zweite Zahl kann nur die laufende Nummer sein. Skelett oder Objekt Nr. 36 im Jahr 1788.“



„Und die Buchstaben, BR und W und H?“


„Tja… Eine Inventarisierung geschieht nicht willkürlich, sondern folgt irgendwelchen Regeln. Was würdest Du draufschreiben? Überleg mal.“


Kim zog an ihrer Unterlippe und dachte nach. „Alles, was sich nicht unmittelbar aus der Anschauung ergibt. Aber auch nur das.“


„Das hast Du vorzüglich ausgedrückt. Und was gehört unbedingt dazu?“


„Der Fundort. Den kennen wir ja schon, nämlich Waldbach. Dafür steht das W. Und vielleicht der Name desjenigen, der das Skelett präpariert hat. Das dürfte jemand aus Straßburg gewesen sein.“


„Meines Erachtens kommt dafür der Buchstabe H zwischen den beiden Zahlen in Frage. Ein Monsieur H.“


„Wir brauchen also eine Liste aller Anatomen, die Ende des 18. Jahrhunderts in Straßburg tätig waren. Wenn die überhaupt selbst präpariert haben, und nicht ihre Gehilfen. Wie viele Leichenöffnungen macht man wohl in einem Jahr? Oder hat man damals gemacht?“


„Das musst Du Deinen Mann fragen. Ich bin bekanntlich kein Spezialist für Anatomie. Das wäre ja auch noch schöner, wenn ich auf alles eine Antwort wüsste.“


„Wenn W Waldbach bedeutet, was bedeutet dann BR? Das kriegen wir nie aufgelöst.“


„Immer langsam mit den jungen Pferden. Vielleicht sind es zwei verschiedene Kategorien… Das Größere und das Kleinere.“


„Mutter, Du sprichst in Rätseln.“


„Ich rätsele ja selbst noch. Wenn Waldbach tatsächlich ein Ort im Elsass ist, dann könnte BR für den Namen der Region oder des Départements stehen. Bas-Rhin. Es bleibt aber eine Vermutung.“


„Ich kann mir alle Gemeinden im Département Bas-Rhin anzeigen lassen.“


„Tu das, mein Kind.“


„Es sind 518.“


„Prost Mahlzeit. Das kommt heraus beim Internet. Man wird mit Informationen zugeschüttet“, sagte Hilde resigniert. Sie gähnte, aber vielleicht tat sie auch nur so. Dann nahm sie die beiden Rotweingläser und die Flasche vom Tisch und stand auf. „Ich mache mich schon einmal bettfertig.“


Kim gab erneut den Namen Waldbach in die Suchmaske ein, ergänzte ihn aber diesmal um das Wort Elsass. Unter den jetzt angezeigten Treffern waren vier, die auf einen Ort namens Waldersbach in den Vogesen verwiesen, für den früher die Schreibung Waldbach üblich gewesen war. Früher bedeutete: im 19. Jahrhundert. „Na bitte. Wer sagt‘s denn. Das hätte Alex auch selbst herausbekommen können“, murmelte sie vor sich hin.


Sie wechselte zu Google Maps. Die Entfernung von Waldersbach nach Straßburg betrug etwa 60 Kilometer. „Bingo!“ rief sie in Richtung Badezimmer, und als keine Reaktion erfolgte, noch einmal, mit verdoppelter Lautstärke: „BINGO!“


„Hast Du schon etwas gefunden?“ rief ihre Mutter zurück.


Kim erhob sich. „Der Ort heißt heute Waldersbach! 60 Kilometer von Straßburg!“


„Dann kannst Du Deinem Alexander ja eine Geschichte erzählen! Worauf wartest du?“


Kim lehnte ihren Kopf an die geschlossene Badezimmertür. „Was meinst du?“


„Ruf ihn an!“


„Was, jetzt? Es ist gleich Mitternacht!“


„Ja und? Ein Forscher ruht nie, selbst wenn er schläft. Also los jetzt!“


Kims Anruf weckte Alexander, den ihre Quicklebendigkeit in seiner jetzigen Verfassung überforderte. Als sie ihm von ihrer Entdeckung berichtete, reagierte er unerwartet einsilbig und meinte lediglich, dass ihm der Name Waldersbach irgendwie bekannt vorkäme. Kim nahm daraufhin an, dass er ihre Leistung schmälern wollte, wenn auch nur unbewusst, und fügte hinzu, dass es sich um ein winziges Dorf in einem abgelegenen Seitental der Vogesen handle; es sei daher wohl möglich, dass sich dort die Sitte, Neugeborenen den Kopf zu bandagieren, bis ins 18. Jahrhundert erhalten habe. Statt Lob oder Zustimmung zu äußern, gähnte Alexander vernehmlich, doch als sie vorschlug, den mysteriösen Monsieur H. mit Hilfe eines Namensverzeichnisses berühmter Straßburger Mediziner aus dem 18. Jahrhundert zu identifizieren, erklärte er grimmig, das sei überflüssig, der berühmteste Straßburger Anatom des 18. Jahrhunderts sei Friedrich Himly, und um diesen dürfte es sich handeln. Kim war nahe daran, das Gespräch vorzeitig zu beenden und Alexander eine geruhsame Nacht zu wünschen. Aber dann sagte er, vielleicht nur aus einer Laune heraus, dass er sie vermisse, und daraufhin überraschte sie ihn doch noch mit der Mitteilung, dass sie morgen mit einem frühen Zug nach Straßburg zurückkomme, um mit ihm nach Waldersbach zu fahren, weil es jetzt gelte, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hatte sogar schon die Verbindung herausgesucht: 12:55 Uhr ab Strasbourg Gare. Dann entweder bis Rothau und von dort weiter mit dem Taxi, oder bis Fouday und von dort eine Dreiviertelstunde zu Fuß.


„Zu Fuß natürlich“, sagte Alexander, womit er auch ihren Wunsch traf.

 

 
 
 
bottom of page