- Jan-Christoph Hauschild

- 22. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Sie hatten das Kassenhäuschen am Eingang erreicht. Plötzlich hob Croqué den Kopf und sah an Alexander vorbei. „Was gibt’s?“
Alexander drehte sich zur Seite. Neben dem Eingangsportal stand einer der Museumswärter, flankiert von zwei Männern in hellbraunen Overalls und Schirmmützen in gleicher Farbe mit einem lila Schriftzug.
„Die Herren von der Spedition sind jetzt da“, sagte der Wärter.
Croqué lief rot an, schob sich an Alexander vorbei und baute sich vor den beiden Möbelpackern auf. „Sie waren für 8 Uhr bestellt! Verdammte Schlamperei!“
„Tut mir leid, Chef“, sagte der ältere der Möbelpacker und zuckte mit den Achseln. „Unsere Disposition hat den Auftrag falsch notiert.“ Der jüngere nickte bekräftigend.
Croqué schnaufte, dann wandte er sich an den Wärter. „Rufen Sie Dr. Bouchon an. Er soll sofort rüberkommen. Und den Hausmeister soll er auch mitbringen.“
Er drehte sich zu Alexander und zwang sich wieder ein Lächeln auf. Die kleine Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.
„Wie Sie sehen, Mr. Fairchild, läuft auch bei uns nicht alles rund. Und wie ist es bei ihnen? Wenn ich richtig unterrichtet bin, gehört ihr Museum zur Smithsonian Institution.“
Alexander nickte. „Das ist richtig“.
„Mit ihrem vorletzten Sekretär war ich ganz gut bekannt, er war zwei- oder dreimal bei uns zu Gast.“
„Mr. Swann?“
„Genau der. Er gilt, glaube ich, als erfolgreichster Fundraiser aller Zeiten am Smithsonian. Und wurde seinerzeit durch eine Intrige zu Fall gebracht, wenn ich richtig orientiert bin.“
Alexanders Lippen zuckten boshaft. „Laurence Swann war ein ausgesprochenes Arschloch“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„So?“ Croqué schien verblüfft, aber vielleicht wunderte er sich auch nur über Alexanders drastische Ausdrucksweise. „Na ja, wenn man für ihn arbeiten musste, konnte er wahrscheinlich unangenehme Züge entwickeln.“
„Darum ging es bei seiner Abberufung nicht. Es ging um sein Finanzgebaren. Er pflegte einen, sagen wir mal, Dom-Perignon-Lebensstil.“
„Dagegen ist doch gar nichts zu sagen. Der Mensch wird geboren, um die Schwingen auszubreiten und fliegen zu lernen übers Enge und Kleine hinaus.“
„Swann übertrieb es einfach ein bisschen mit der Definition seiner Repräsentationsaufgaben im eigenen Heim. Dabei war der Vorstand durchaus großzügig, er hat ihm sogar den Einbau einer Heizanlage in seinen Gartenteich genehmigt, damit seine Koi-Karpfen im Winter nicht frieren. Am Ende war es dann die Reinigung seines Kronleuchters, die er dem amerikanischen Steuerzahler aufbürden wollte. Das brachte das Fass zum Überlaufen und kostete ihn seinen Siebenhunderttausend-Dollar-Job.“
Resigniert verzog Croqué den Mund. „Ja, das ist die Neidsteuer, die unsereins zahlen muss“, sagte er seufzend. „Weil die Menschen nicht verstehen, wie sehr unser Leben auf Schönheit angewiesen ist. Jeder Mensch braucht sie, wie er Zehen und Finger braucht. Es sind Anhängsel, natürlich, und ohne sie ist das Leben nicht ganz unmöglich, aber doch erheblich schwieriger. Deshalb sollten wir sie hegen und pflegen und von Zeit zu Zeit vermehren.“
Er streckte Alexander seine Hand entgegen.
„So leid es mir tut, Mr. Fairchild – ich muss Sie leider verlassen. Die Schlitzaugen warten. Auf Wiedersehen!“ Damit eilte er zurück in die Ausstellung.
Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu Alexander um.
„Und grüßen Sie Mr. Swann, wenn Sie ihn zufällig einmal sehen sollten!“, rief er mit weitschallender Stimme. „Ich glaube, er ist ein besserer Mensch, als Sie denken!“
Alexander trat durch die große Drehtür ins Freie, ging die sechs flachen Steinstufen hinunter und quer über den Innenhof. Hinter dem breiten, geschwungen angelegten und mit religiösen Skulpturen geschmückten Hauptportal erstreckte sich der Schlossplatz, der den Palast mit dem Münster verband, der katholischen Hauptkirche aus rötlichem Sandstein, die eigentlich viel zu groß war für die engen Straßen des Zentrums. Ihr Hauptturm mit seinen 142 Metern Höhe hatte den Menschen, wie er aus dem Reiseführer wusste, einst als Weltwunder gegolten. Er wandte sich nach rechts, wo er bald die zur Ill hin errichtete Fassade des Palastes erreichte, vor der sich eine kleine Terrasse mit schmiedeeisernen Gittern zu beiden Seiten erstreckte.
Doch anstatt auf der Madeleinebrücke zum jenseitigen Ufer der Ill hinüber zu spazieren, setzte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Umrundung des Palastes fort. Er hatte sich nicht geirrt. Vor der Südwestseite des Palastes stand ein Renault Master der Spedition Artrans. Die beiden Möbelpacker, die vorhin am Eingang das Gefolge des Museumswärters gebildet hatten, trugen eben eine große Holzkiste auf die Ladefläche. Alexander erkannte Bouchon, der sich kurz mit einem der beiden unterhielt. Der Lieferwagen wurde verschlossen, die beiden Arbeiter stiegen ein und fuhren weg.
Als Alexander kurz darauf ein letztes Mal die Ausstellung besichtigte, erkannte er schon von weitem, dass im Saal mit den Schädelabnormitäten eine Veränderung vorgenommen worden war. Vor der Vitrine mit den Megalocephali wies ein Schild, das auf einen Metallständer montiert war, auf einen vorübergehenden Umbau hin. Das Skelett des Turricephalus fehlte. DOMINIQUE war verschwunden.

