- Jan-Christoph Hauschild
- 3. März
- 4 Min. Lesezeit
Plötzlich verspürt Adenauer Lust auf ein bisschen Musik. Und dazu kurz auf dem Sofa langlegen. Andere würden es ausruhen nennen, doch das Wort kommt ihm ungern über die Lippen. Konrad der Dynamische. Er geht hinüber ins Wohnzimmer, schaltet das Tonbandgerät ein, streift die Schuhe ab und streckt sich auf dem Sofa aus.
Nun merk' ich erst wie müd‘ ich bin,
Da ich zur Ruh‘ mich lege;
Das Wandern hielt mich munter hin
Auf unwirtbarem Wege.
Ein paar Noten, ein paar Worte, und schon ist man Teil der Szene. Eine fahle Winterlandschaft unter einem vollen Mond. Einsamer Wanderer, folge ich den Spuren, die das Wild im Schnee hinterlassen hat. Unklar, ob ich ein Fremder bin oder unter Fremden war. Habe kehrt gemacht, bin in die Dunkelheit geflohen, getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht.
Augen schließen und das Gehirn auf Null stellen. Erst mal das Bewusstsein von allem befreien, was nicht zur Empfindung dieses Augenblicks gehört. Gar nicht so einfach. Nur wenn einem das gelingt, entwickelt man ein echtes Gefühl für den Schmerz dieses Menschen. Zurückweisung und Einsamkeit hat er erlebt. Eine Schmerzkaskade, die niemand schöner singt als Karl Erb.
Da möchte man nicht der Fisch sein, hat Schwaderlapp gesagt. Ob ihm wohl bewusst ist, was er da Kluges ausgesprochen hat? Jedenfalls nichts Unkluges. Es ist tatsächlich alles eine Frage der Perspektive. Der kleine Weißfisch ist sich gewiss einen trügerischen Moment lang auch wie ein erfolgreicher Jäger vorgekommen. Bis er selbst zur Beute wurde. Und dem Zander erging es nicht anders. Vom Köder verführt, an den Haken gelockt. Am Ende ist es immer die Gier, die uns zur Strecke bringt.
Und ich? Bin nie Fisch, immer Angler gewesen. Nie vom Köder verführt und an den Haken gelockt.
Ach, dass die Luft so ruhig!
Ach, dass die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
War ich so elend nicht.
Wirklich nie vom Köder verführt? Vorbei ist es mit der Konzentration auf die Musik. Seine Gedanken schweifen ab, und die Erinnerung befördert unangenehme Fragen an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er steht auf, schaltet das Gerät aus und legt sich wieder hin, schließt die Augen und versucht, seinen Atem dem Rhythmus seines Herzschlags anzupassen.
Was, wenn sich herausstellte, dass seine ganze nervöse Regsamkeit zu Jahresbeginn, die Reisen, die Gespräche, die Vorträge und Interviews, wenn das alles letztlich nicht auf eigenem Wollen beruhte, sondern von einer unsichtbaren Hand mehr oder weniger arrangiert worden, wenn sein scheinbar bedachtes Handeln nichts anderes gewesen wäre als die Ausführung der Idee eines andern, nach der Devise: Lass den Alten nur machen, lange hält er das nicht durch, dann trifft ihn der Schlag und wir sind ihn los.
Für diese Annahme spricht nicht in erster Linie Plausibilität, sondern statistische Wahrscheinlichkeit. Treulosigkeit und Verrat: Nichts kommt öfter vor in der Menschheitsgeschichte. Die Bibel ist voll davon. Vom Treuebruch des Sündenfalls bis zur Niedertracht des Judaskusses. Muss er seine Feinde im Lager seiner Freunde suchen? Angebliche Freunde, versteht sich, die ihn eingewickelt haben mit dem Ziel, ihn zu ruinieren. Ist es möglich, dass man erneut eine Verschwörung gegen ihn eingefädelt hat, eine letzte, endgültige, gut getarnt durch Lobreden und Liebenswürdigkeiten? Gewiss haben die römischen Senatoren auch gelächelt, bevor sie Caesar ihre Dolche in den Leib rammten.
Caesar hieß auch sein Rottweiler. War genauso alt wie die Bundesrepublik. Hat meinen Sturz aber nur um ein Jahr überlebt. Paul und die Frauen hatten sich zusammengetan und gemeinsam das Todesurteil gefällt. Sie meinten, er sei alt und verbraucht. Beinahe jeden Tag lagen sie mir in den Ohren: „Der Arme leidet doch Schmerzen, keine Treppe kann er mehr laufen, eigentlich quält er sich nur noch herum.“ Es kam mir vor, als würden sie über mich reden. Dabei fraß der Caesar immer noch mit gutem Appetit, und bei Sonnenschein lag er liebend gern draußen auf dem weichen Rasen vor der Hütte. „Kommt ja gar nicht in Frage“, verkündete er in scharfem Ton, „Caesar und ich halten einander die Treue.“
Daraufhin wurde beschlossen, den Hund ohne seine Einwilligung einschläfern zu lassen. Die Prillwitz musste bei mir vorfühlen. Es war ein Sommerabend, wir hatten eben eine Partie Boccia gespielt (ich 13, die Prillwitz 8 Punkte). Kann mich beim Bocciaspiel gut abreagieren. Besonders in kritischen Zeiten. In unkritischen auch. Wir saßen auf der Terrasse, Caesar zu meinen Füßen, eine Pfote über meinen Schuhen.
„Wenn der Caesar eines Tages doch einmal tot ist“, fragte die Prillwitz mit sanfter Stimme, „möchten Sie dann wieder einen Hund haben, Herr Bundeskanzler?“
Eine Frage, die auf leisen Pfoten herangeschlichen kam, aber mit dem tödlichen Atem eines Tigers. Deshalb verweigerte er auch jede Antwort. Stattdessen beugte er sich herunter, strich dem Hund liebevoll über das Fell und sagte: „Armer Caesar. Da spricht man von deinem Nachfolger, und du lebst noch und willst auch leben.“
Als er wenige Tage später abends nach Hause kam und nicht mit dem gewohnten Bellen begrüßt wurde, wusste er gleich Bescheid. Wieder ein schmählicher Verrat. Nicht einmal eine Gnadenfrist hatten sie dem armen Hund gegönnt. Wir waren beide alt. Wenn Gott den Menschen gnädig ist, dann doch vielleicht auch meinem Cäsar, diesem treuen Tier. Dachte ich. Stattdessen haben sie ihn einfach töten lassen. Aus dem Weg geräumt. Vergangen, vergessen, vorbei.
Mit Cäsars Vorgänger Rolf ist es ihm noch schlimmer ergangen. Benannt nach dem berühmten Mannheimer Terrier aus den zwanziger Jahren. Konnte angeblich Sprechen und Rechnen. Soll sich durch Klopfen mit der Pfote verständlich gemacht haben. Ein Mensch in Hundegestalt. Davon war mein Rolf weit entfernt. Dafür aber die treueste Hundeseele, die man sich vorstellen kann. Litt rundum an Altersschwäche. Für den war der Tod eine Erlösung. Aber bis dahin war er eben ein Rottweiler. Scharf und aufmerksam bis zuletzt. Den Tierarzt mit der Todesspritze in der Hand ließ er nicht an sich heran. Ich selbst musste ihm die Henkersmahlzeit beibringen, ein Stück vergiftetes Fleisch. Musste ich wieder dran denken, als ich den Parteivorsitz abgeben sollte. Meine letzte wichtige Funktion.