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Sie hatten das Kassenhäuschen am Eingang erreicht. Plötzlich hob Croqué den Kopf und sah an Alexander vorbei. „Was gibt’s?“


Alexander drehte sich zur Seite. Neben dem Eingangsportal stand einer der Museumswärter, flankiert von zwei Männern in hellbraunen Overalls und Schirmmützen in gleicher Farbe mit einem lila Schriftzug.


„Die Herren von der Spedition sind jetzt da“, sagte der Wärter.


Croqué lief rot an, schob sich an Alexander vorbei und baute sich vor den beiden Möbelpackern auf. „Sie waren für 8 Uhr bestellt! Verdammte Schlamperei!“


„Tut mir leid, Chef“, sagte der ältere der Möbelpacker und zuckte mit den Achseln. „Unsere Disposition hat den Auftrag falsch notiert.“ Der jüngere nickte bekräftigend.


Croqué schnaufte, dann wandte er sich an den Wärter. „Rufen Sie Dr. Bouchon an. Er soll sofort rüberkommen. Und den Hausmeister soll er auch mitbringen.“


Er drehte sich zu Alexander und zwang sich wieder ein Lächeln auf. Die kleine Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.


„Wie Sie sehen, Mr. Fairchild, läuft auch bei uns nicht alles rund. Und wie ist es bei ihnen? Wenn ich richtig unterrichtet bin, gehört ihr Museum zur Smithsonian Institution.“


Alexander nickte. „Das ist richtig“.


„Mit ihrem vorletzten Sekretär war ich ganz gut bekannt, er war zwei- oder dreimal bei uns zu Gast.“


„Mr. Swann?“


„Genau der. Er gilt, glaube ich, als erfolgreichster Fundraiser aller Zeiten am Smithsonian. Und wurde seinerzeit durch eine Intrige zu Fall gebracht, wenn ich richtig orientiert bin.“


Alexanders Lippen zuckten boshaft. „Laurence Swann war ein ausgesprochenes Arschloch“, sagte er mit ruhiger Stimme.


„So?“ Croqué schien verblüfft, aber vielleicht wunderte er sich auch nur über Alexanders drastische Ausdrucksweise. „Na ja, wenn man für ihn arbeiten musste, konnte er wahrscheinlich unangenehme Züge entwickeln.“


„Darum ging es bei seiner Abberufung nicht. Es ging um sein Finanzgebaren. Er pflegte einen, sagen wir mal, Dom-Perignon-Lebensstil.


„Dagegen ist doch gar nichts zu sagen. Der Mensch wird geboren, um die Schwingen auszubreiten und fliegen zu lernen übers Enge und Kleine hinaus.“


„Swann übertrieb es einfach ein bisschen mit der Definition seiner Repräsentationsaufgaben im eigenen Heim. Dabei war der Vorstand durchaus großzügig, er hat ihm sogar den Einbau einer Heizanlage in seinen Gartenteich genehmigt, damit seine Koi-Karpfen im Winter nicht frieren. Am Ende war es dann die Reinigung seines Kronleuchters, die er dem amerikanischen Steuerzahler aufbürden wollte. Das brachte das Fass zum Überlaufen und kostete ihn seinen Siebenhunderttausend-Dollar-Job.“


Resigniert verzog Croqué den Mund. „Ja, das ist die Neidsteuer, die unsereins zahlen muss“, sagte er seufzend. „Weil die Menschen nicht verstehen, wie sehr unser Leben auf Schönheit angewiesen ist. Jeder Mensch braucht sie, wie er Zehen und Finger braucht. Es sind Anhängsel, natürlich, und ohne sie ist das Leben nicht ganz unmöglich, aber doch erheblich schwieriger. Deshalb sollten wir sie hegen und pflegen und von Zeit zu Zeit vermehren.“


Er streckte Alexander seine Hand entgegen.


„So leid es mir tut, Mr. Fairchild – ich muss Sie leider verlassen. Die Schlitzaugen warten. Auf Wiedersehen!“ Damit eilte er zurück in die Ausstellung.


Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal zu Alexander um.


„Und grüßen Sie Mr. Swann, wenn Sie ihn zufällig einmal sehen sollten!“, rief er mit weitschallender Stimme. „Ich glaube, er ist ein besserer Mensch, als Sie denken!“


Alexander trat durch die große Drehtür ins Freie, ging die sechs flachen Steinstufen hinunter und quer über den Innenhof. Hinter dem breiten, geschwungen angelegten und mit religiösen Skulpturen geschmückten Hauptportal erstreckte sich der Schlossplatz, der den Palast mit dem Münster verband, der katholischen Hauptkirche aus rötlichem Sandstein, die eigentlich viel zu groß war für die engen Straßen des Zentrums. Ihr Hauptturm mit seinen 142 Metern Höhe hatte den Menschen, wie er aus dem Reiseführer wusste, einst als Weltwunder gegolten. Er wandte sich nach rechts, wo er bald die zur Ill hin errichtete Fassade des Palastes erreichte, vor der sich eine kleine Terrasse mit schmiedeeisernen Gittern zu beiden Seiten erstreckte.


Doch anstatt auf der Madeleinebrücke zum jenseitigen Ufer der Ill hinüber zu spazieren, setzte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Umrundung des Palastes fort. Er hatte sich nicht geirrt. Vor der Südwestseite des Palastes stand ein Renault Master der Spedition Artrans. Die beiden Möbelpacker, die vorhin am Eingang das Gefolge des Museumswärters gebildet hatten, trugen eben eine große Holzkiste auf die Ladefläche. Alexander erkannte Bouchon, der sich kurz mit einem der beiden unterhielt. Der Lieferwagen wurde verschlossen, die beiden Arbeiter stiegen ein und fuhren weg.


Als Alexander kurz darauf ein letztes Mal die Ausstellung besichtigte, erkannte er schon von weitem, dass im Saal mit den Schädelabnormitäten eine Veränderung vorgenommen worden war. Vor der Vitrine mit den Megalocephali wies ein Schild, das auf einen Metallständer montiert war, auf einen vorübergehenden Umbau hin. Das Skelett des Turricephalus fehlte. DOMINIQUE war verschwunden.

 

 
 
 

Während sie nebeneinander Richtung Ausgang schlenderten, vorbei an Reihen von Schaukästen mit in Formalin eingelegten Exponaten menschlicher Organe, Körperteile oder Missbildungen, knüpfte Croqué an Alexanders letzte Bemerkung an.


„Ein Lob aus dem Mund eines Kenners wie Ihnen bedeutet mir besonders viel. Andererseits neigen wir auch nicht dazu, unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Der Bedeutung nach rangiert unsere Sammlung weltweit an dritter Stelle. Das will schon etwas heißen. Vor uns liegen nur Peking und London. Setzen Sie das mal in Relation zu den Einwohnerzahlen. Wir können auf 400 Jahre Präparationsgeschichte zurückblicken.“


Er wies mit ausgestrecktem Zeigefinger nach rechts.


„Haben Sie in Saal 2 die mazerierten Testikel gesehen? Wir besitzen eine Schenkungsurkunde, die besagt, dass sie von Johannes Tauler stammen. Der Mann ist 1361 gestorben!“ Er lachte dröhnend. „Aber ich glaube es nicht, für einen Theologen sind die Eier zu groß.“


Alexander kam nicht dazu, etwas zu erwidern, weil Croqué in Höchstgeschwindigkeit fortfuhr.


„Oder die beiden Gänschen. Der einen ist ein Fuß aus dem Kopf gewachsen, der andern aus dem Rücken. Die Leute denken, es seien Montagen, aber es sind astreine Monstri.“


„Oh, ich habe keinen Augenblick gezweifelt. Dazu sind die Ansatzstellen zu sauber präpariert.“


„Eine gute Arbeit?“


„Eine sehr gute.“


„Korrekt beschrieben?“


„Sehr korrekt.“


„Dann bin ich erleichtert. Denn mein Assistent hat mir heute Morgen erzählt, Sie seien unzufrieden mit unseren Expertisen.“


„Unzufrieden? Aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich war höchst fasziniert. Ihr Assistent sagte, sie hätten etwa 13.000 Objekte in der Sammlung. Wie viele davon sind komplette Hominiden-Skelette?“


Croqué schien die Antwort irgendwo an der Decke zu suchen. „250... vielleicht auch 280.“


„Sie wissen es nicht genau?“ gab Alexander zurück.


„Ich weiß jedenfalls, um was es sich handelt. Bei jedem einzelnen Stück. Das ist Originalmaterial von unschätzbarem Wert. Wäre es eine Privatsammlung, der Besitzer wäre vielfacher Millionär. Aber zum Glück gehört alles der Universität. – Sammeln Sie selbst auch?“ Croqués Frage kam unvermittelt.


Alexander schüttelte den Kopf. „Nein, um Gottes Willen... Ich hätte gar nicht den Platz dafür.“


„Aber vielleicht kaufen Sie manchmal etwas für andere Sammlungen an. Zum Beispiel für die Reichsuniversität Groningen?“ fragte Croqué lauernd.


„Groningen?“ wiederholte Alexander. „Ich muss erst einmal nachdenken, wo das liegt. In Deutschland?“


Croqués Gesicht hellte sich auf. „Falsch geraten. Seien Sie froh, dass Sie das nicht wissen. Ein ganz hässlicher Ort mit einer noch hässlicheren Universität. Dort sitzt einer meiner Hauptfeinde. Sie wissen ja: Jeder erfolgreiche Mensch hat Neider. Jos van Drongelen, Archäologieprofessor. Schon mal gehört?“


„Nein. Sagt mir nichts, der Name.“


„Gut. Sie sehen ja auch eigentlich ganz sympathisch aus.“


Wieder lachte Croqué dröhnend, wie ein Geschäftsmann über einen gelungenen Abschluss, und schlug Alexander kräftig auf die Schulter.


„Vergessen Sie diesen Namen. Er ist es nicht wert, dass man ihn sich merkt. Wahrscheinlich ist er auch nur der Strohmann für ganz andere Leute. Wie es auch wahrscheinlich gar nicht um mich geht. Ich bin nur der erste Stein, den man ins Rollen bringen will. Es geht um viel mehr, um unser Bild vom Menschen“, setzte er geheimnisvoll hinzu. „Aber vorher sprenge ich sie in die Luft.“


Er verzog den Mund und zeigte sein kräftiges Gebiss.


„Was glauben Sie, wie viele forensische Osteologen es in Frankreich gibt? – Zwei“, ergänzte er nach einer kurzen Pause.


Alexander war versucht, die Meinung zu äußern, dass er, Croqué, alle beide verkörpere, aber Croqué kam ihm zuvor.


„Mich und Jean-Pierre Lortholary in Marseille. Alle anderen wichtigen Leute kommen aus den USA. So wie Sie!“ Er lachte und tippte zweimal mit dem Zeigefinger auf Alexanders Brust. „Ich weiß, was ihr US-Boys von uns haltet.“


„Wirklich?“


„Ja. Ihr denkt, diese Froschfresser sind nur so lange intelligent, wie man ihre Sprache nicht versteht. Sobald man etwas davon übersetzt, ist es eine Dummheit.


„Sie tun uns unrecht.“


„Ich war vor Ort. Ich habe in Kalifornien promoviert.“

 
 
 

Über Nacht hatte sich das Wetter geändert. Der Himmel hatte die düstere Farbe von ungebleichtem Umweltschutzpapier angenommen, und ein kalter Wind blies von Westen. Als sie das Hotel verließen, fing es an zu regnen. Alexander brachte Kim zum Bahnhof und begleitete sie bis auf den Bahnsteig. Ihr Abschiedskuss war leidenschaftlich. Sie schien es ihm tatsächlich nicht übel zu nehmen, dass er noch einen Tag länger blieb.


Anschließend stieg Alexander in eines der vor dem Bahnhof wartenden Taxis und ließ sich zum Rohan-Palast fahren, wo er sich geduldig in die Reihe der Wartenden vor dem Kassenhäuschen einreihte. Offensichtlich zog die Aussicht auf „Schöne Biester“.


12 Uhr, hatte Bouchon gesagt, aber Alexander hielt es für schlauer, bereits um 10 an Ort und Stelle zu sein. Für das, was ihn interessierte, brauchte er Bouchon nicht.


Der Saal mit den Schädelabnormitäten war unverändert. Seite an Seite standen da die Kleinköpfe, darunter ein hübscher Schiefkopf mit gerade einmal 16 Zähnen im Kiefer, und die Großköpfe, umgeben von einigen geöffneten Schädeln mit zahlreichen Varietäten akzessorischer Knochen in der Naht zwischen Scheitel- und Hinterhauptbein. Des Weiteren die Kurz-, die Dick-, die Schmal-, die Tief- und die Dünnköpfe und schließlich die Turmköpfe.


Auch DOMINIQUE war da, das Streitobjekt. Der Acryl-Aufsteller mit der Exponatbeschriftung war zwar verschwunden – vielleicht wurde er gerade überarbeitet –, aber auf dem ihm zugewandten Oberschenkelknochen entdeckte Alexander ein rechteckiges weißes Feld mit einer Beschriftung, die aus Buchstaben und Zahlen zu bestehen schien. Mit dem Zoom seines Telefons würde sie sich entziffern lassen.


Fast gleichzeitig mit Alexander war auch Professor Croqué vor Ort, um sich davon zu überzeugen, dass sein Auftrag ausgeführt worden war. Gemessenen Schrittes, leicht in den Knien federnd, bewegte er sich durch die Ausstellung. Seine Ausstellung. Wichtige Zeitzeugen standen oder lagen hier herum, nackt bis auf die Knochen gewissermaßen, Innereien, getrocknet oder in Spiritus eingelegt. Die Schau war, daran gab es nicht den geringsten Zweifel, ein Leckerbissen für Fachleute und ein Vergnügen für Laien. Vor allem aber war sie ein Aufbewahrungsort des Wissens, eine Schatzkammer, mit ihm als Wächter, ohne den die Vergangenheit weggespült werden würde wie vor ein paar Jahren ein Teil der Île d’Oléron. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er ohne Vergangenheit, ohne diese Sammlung, ebenfalls nicht existieren würde. Er bedurfte ihrer Existenz, wie sie der seinen. Beide waren sie vom Verlust bedroht. Doch er war gierig genug, um sich daran festzuklammern. Wenn es sein musste, würde er sich selbst in einen dieser Schaukästen, in eine dieser Vitrinen einschließen und zur Schau stellen.


Zielsicher steuerte er auf die Vitrine mit den Großköpfen zu, vor der gerade ein Besucher sein Telefon aus der Gesäßtasche zog. Hinter ihm ragte die bleiche Silhouette von DOMINIQUE auf. Den Wutschrei, der sich seiner Brust entringen wollte, konnte Croqué gerade noch unterdrücken.


Alexander war gerade dabei, auf die Beschriftung zu zoomen, als in seinem Rücken eine sonore Stimme sagte: „Sie wollen doch nicht etwa fotografieren?“


Alexander drehte sich um und sah sich einem großen, schlaksigen, Selbstzufriedenheit ausstrahlenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber. Croqué trug einen stahlblauen Kammgarnanzug, darunter ein eierschalfarbenes Hemd mit anthrazitfarbener Krawatte und dazu weiße Schuhe mit schwarzen Kappen. Sein Gesicht war sonnengebräunt, blasse Augen standen dicht neben einer fleischigen Nase. Der schmale Strich seines Schnurrbarts war viel röter als seine unter der Baseballkappe straff zurückgekämmten Haare.


„Nein, ich... ich erwarte einen Anruf“, sagte Alexander verlegen.


„Telefonieren ist hier ebenfalls verboten. Wir haben überall große Verbotsschilder aufgestellt, haben Sie die nicht gesehen?“ Croqué deutete auf eines.


„Oh, entschuldigen Sie. Ich werde nach draußen gehen.“


„Aber wenn Sie wollen, dürfen Sie beides. Ich erlaube es Ihnen. Sie sind der Mann aus Washington, stimmts?“


„Ja. Und Sie sind –“


„Guy Croqué, Professor an der hiesigen Universität, Institutsdirektor und Kurator dieser Ausstellung.“


Sie reichten sich die Hände. Croqués Hand war groß und gepflegt, mit rötlichen Haaren auf dem Rücken und einem großen Siegelring am Mittelfinger.


„Alexander Fairchild, aus Washington.“


„Ich weiß, ich weiß, vom Nationalmuseum für Naturgeschichte“, sagte Croqué mit dem Lächeln eines Mannes, der von Berufswegen jederzeit seine Überlegenheit zeigen muss. „Sehr erfreut, Herr Kollege. Also, bitte sehr. Fotografieren Sie, was und wen Sie wollen. Es ist meine Ausstellung. Ich habe nichts zu verbergen.“


Alexander richtete sein Telefon erneut ein und fotografierte das Skelett, die Beschriftung in der Vitrine und die alte Beschriftung auf dem Oberschenkel. Croqué stand lächelnd neben ihm, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt.


„Okay.“ Alexander nickte ein paar Mal, um zu signalisieren, dass er mit seiner Arbeit fertig war. „Vielen Dank.“


„Sonst noch etwas?“ fragte Croqué und spähte dabei in das Gesicht seines Gegenüber.


„Nein, ich war ja schon am Sonntag mit meiner Frau hier. Wir hatten ausreichend Gelegenheit, Ihre exquisite Ausstellung zu bewundern.“


„Gut, dann begleite ich Sie noch zum Ausgang. Gleich kommen nämlich zwei Herren von der Nationaluniversität in Taipeh. Sie heißen beide Chen, sind aber nicht miteinander verwandt. Na ja, so ist das bei denen halt. Sie brauchen meinen Rat in Sachen Radiokarbon. In Taiwan steht man mit Kohlenstoff-Isotopen und der Kunst der C-14-Kalibrierung anscheinend noch auf dem Kriegsfuß. Erstaunlich eigentlich. In Rotchina ist man schon weiter. Na, mir soll‘s recht sein. Konkurrenz belebt das Geschäft. Wahrscheinlich zieht sich das bis in den Abend. Hier entlang bitte.“


Anlass für Croqués Zusammenkunft mit den Herren Chen aus Taipeh war keineswegs ein Fachgespräch über Altersbestimmungen nach der Radiokarbonmethode. In Wahrheit waren seine Gesprächspartner Geschäftsführer von Formosa Siliconware, einem mittelständischen Unternehmen, das seit 45 Jahren auf die Produktion von Anatomischen Lehrmodellen spezialisiert war und mit dem Slogan warb: „Bǐ dà zìrán gēng xiángxì / More detailed than nature“. Croqués Idee war, aus den über den ganzen Globus verteilten Neandertaler-Fragmenten ein komplettes Skelett, wie es bisher noch nie geborgen werden konnte, in Kunststoff zu rekonstruieren und mit Hilfe von Formosa Siliconware als Gelenkskelett, das durch einen Elektromotor in fließende Bewegung versetzt werden konnte, auf den Markt zu bringen. Deshalb hatte er sich auf internationalen Kongressen bei den abendlichen Zusammenkünften gern von seiner spendablen Seite gezeigt und mit vielen Kollegen Brüderschaft getrunken. Zahlreiche Forscher und Museumsleute hatten daraufhin seinen Herzenswunsch erfüllt und ihm leihweise die Sicherheitskopien ihrer Neandertaler-Fossilien überlassen: Die Dordogne und Kroatien stellten Abgüsse von Schädeln und Extremitäten zur Verfügung, Museen in Spanien, Israel und der Türkei von Brustkorb und Becken, Kollegen aus Gibraltar von Fingern und Zehen. Von allen hatte er heimlich Kopien gemacht und so nach und nach die weltweit größte Sammlung von Neandertalerfossilabgüssen aufgebaut.


Angst vor einem Skandal hatte er nicht. Sollten seine „Freunde“ protestieren, würde er dagegenhalten, dass das Ganze stets mehr sei als die Summe seiner Teile und damit außerhalb kleinlicher Besitzansprüche stehe. Zudem würde er auf den Erkenntnisgewinn seiner Rekonstruktion verweisen, auch wenn er noch nicht wusste, worin er bestehen könnte. Vielleicht stellte sich heraus, dass der Rumpf des Neandertalers nicht, wie bisher angenommen, die Form einer Tonne hatte, sondern eher mit einer Glocke zu vergleichen war. Vielleicht auch ließ sich behaupten, dass die Frühmenschen nicht nur kräftig und untersetzt, sondern deutlich kleiner als bisher vermutet waren. In der Fachwelt mochte sein Mixskelett vielleicht umstritten sein. So what? Glänzend verkaufen würde es sich auf jeden Fall.

 

 
 
 
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