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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Am Sonntagnachmittag lässt sich Adenauer von Scharoun hinunter zum Rhein fahren; um 18 Uhr soll er ihn an gleicher Stelle, vor dem Hotel Bellevue, wieder abholen. Er hat lange überlegt, was die passende Kleidung für seinen Angelausflug wäre, und sich dann für einen seiner ältesten Anzüge, den er nur noch bei der Gartenarbeit trägt, und den hellgrauen Staubmantel entschieden. Aus seiner abgeschabten Aktentasche ragt die zerlegte Angelrute, die er gestern in Bonn gekauft hat. „Ein Anfängermodell“, hat ihm der Verkäufer erklärt, „genau das Richtige. Damit können Sie sofort loslegen.“


Hoffentlich sind die beiden Jungen von neulich heute hier. Ohne die bin ich aufgeschmissen.

 

Den Strohhut aus Cadenabbia tief ins Gesicht gezogen, stapft er durch den Biergarten des Hotels, wo im Laubschatten alter Kastanienbäume Kaffeegäste an Metalltischen sitzen. Gut, dass sie einem alten Mann keine Beachtung schenken.

 

Am Treppenabgang bleibt Adenauer einen Moment stehen. Das ist also die Welt der Angler, die Scharoun so gepriesen hat. Unter dem sanft blauen Himmel glänzt der Fluss wie mattes Silber. Dicht hintereinander schieben sich vor dem Rodderberg drei Schiffe den Rhein hinauf, Schüttgutkähne im Konvoi, schwerbeladen, den Bug knapp über dem Wasser, das nach dem heftigen Regen der vergangenen Wochen jetzt schneller fließt und höher steht als üblich.

 

Die Buhnen, Aufschüttungen aus gebrochenem Säulenbasalt, die hier zum Uferschutz in unregelmäßigem Abstand bis zu hundert Meter tief in den Fluss ragen, sind anscheinend beliebte Angelplätze. Überall kauern Gestalten, einzeln oder in Zweiergruppen, halten lange Angelruten in der Hand oder haben sie neben sich im Boden verankert. Einige sitzen auf Klappstühlen, rauchen und starren müßig ins Wasser oder scheinen zu dösen. Selbst der Schwimmanleger ist mit zwei Anglern besetzt. Weiter hinten wandert einer langsam das Ufer herab und hantiert dabei mit seiner Angel wie ein Kutscher, der die Peitsche über seinem Gespann schwingt. Will der die Fische zu seinen Kollegen scheuchen? Oder hat er eine ganz spezielle Fangtechnik entwickelt? Und wo zum Teufel sind die Jungens?

 

Gottseidank, da sind sie. Etwa in der Mitte der Buhne starren die beiden angestrengt ins Wasser, der Große mit der Angelrute, der Kleine mit dem Netz bewaffnet.

 

Eine Hand am Geländer, tappt er langsam die Stufen zum Rheinufer hinunter. Er freut sich auf das Abenteuer. Vorhin hat er noch einmal die Stelle im Matthäus-Evangelium nachgelesen, wo Jesus das Himmelreich mit einem Fischernetz vergleicht, mit dem, wie es in der Jüngerbelehrung wörtlich heißt, Fische aller Art gefangen werden.

 

Was für eine schöne, anschauliche Erzählung. Um sie nachvollziehen zu können, muss man nicht extra aufs Meer hinausgefahren sein. Sowas kann sich auch hier am Rhein zutragen. Als das Netz voll war, zogen sie es heraus an das Ufer, setzten sich und lasen die guten in Gefäße zusammen, aber die schlechten warfen sie weg. Die nach Karbol schmeckten. Wenn es damals schon Karbol gab. Wird am Rhein überhaupt noch mit Netzen gefischt? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht mit Harpunen. Dieser kleine Klugscheißer. Wie hießen die beiden noch? Der Kater hieß Konni, aber die Jungens? Ich habs vergessen. Wer zwei Dutzend Enkel in allen Preislagen hat, kann sich nicht jeden Namen merken.

 

Als kleine Kinder hatten wir mal die Idee, an den Rhein zu gehen und zu angeln. August kann nicht älter als sieben gewesen sein. Da war ich also drei. Mutter hat es uns aber verboten. Sie hatte Angst, wir würden ins Wasser fallen. Mutter war eine ängstliche Frau. Jedenfalls nicht unängstlich. Wenn ein Gewitter drohte, schloss sie sofort alle Fensterläden, damit der Blitz nicht im Zimmer einschlug. „Ihr könnt zum Fenster raus angeln“, sagte sie. Konnte ja nicht ahnen, dass wir sie beim Wort nehmen würden. Unsere Angeln bestanden aus je einem Besenstiel, einem Stück Schnur und einer Sicherheitsnadel. Die hielten wir dann so zum Fenster raus, dass die Nadelspitzen knapp über den Köpfen der Passanten unten auf dem Bürgersteig schwebten. Dauerte nicht lange, da klingelte es und Schnäuzekowski trat auf den Plan, unser Polizeiwachtmeister. „Frau Adenauer“, sagte Schnäuzekowski, „dat jeht nit“. Und damit war das Angelabenteuer beendet.

 

Auf dem Uferstreifen macht sich zwischen Schwemmsand und Kieseln wilder Bewuchs breit: Erlen, Weidengebüsch, Wolfsmilch, Bärenklau, Blutweiderich; letzterer eingehüllt in eine summende Wolke winziger Mücken. Ihre Wurzeln sind in den pflasterartigen Basaltbelag eingedrungen und haben überall Fugen aufgesprengt. Dazwischen Totholz, Muschelschalen, Vogelfedern. Rostige Dosen und Flaschenscherben liegen verstreut um schwarze, niedergebrannte Feuerstellen. Dazu der typische Flussgeruch und das Geräusch der Wellen.

 

Unbequemes Terrain, diese Buhnen. Veralgte Steinquader, einige von der Gewalt der Wassermassen aus dem Mosaikverbund gelöst, die Löcher verfüllt mit Treibgut, zwischendurch Inseln aus dürrem, vertrocknetem Gras. Vorsichtig einen Fuß vor den andern setzend, nähert er sich den ersten beiden Anglern. Der eine hockt auf den Fersen, dreht ihm halb den Rücken zu und ist dabei, einen zappelnden glänzenden Fisch vom Haken zu lösen; der andere, in einer grünen Armeejacke, hat gerade die Schnur eingeholt und kontrolliert das blinkende Ende in seiner Hand.

 

„Guten Tag!“ begrüßt ihn Adenauer und stützt sich dabei auf seinen Gehstock.

 

Der Mann wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. Seine farblosen Augen sind überwildert von ergrauten Brauen, Bartstoppeln lassen sein verkniffenes Gesicht düster erscheinen. „Tag!“ erwidert er mürrisch, bevor er sich wieder auf seine Angel konzentriert.

 

„Und“, erkundigt sich Adenauer, „von Erfolg gekrönt?“

 

„Wat?“

 

„Ich meine: Fangen Sie was?“

 

„Geht so“, murmelt der Mann. „Nicht so wichtig.“

 

„Ist auch ein schönes Plätzchen“, stellt Adenauer fest.

 

„Wegen dem bin ich ja hier.“

 

„So friedlich“, ergänzt Adenauer.

 

„Jetzt nicht mehr“, erwidert der Mann trocken, dreht sich ein Stück zu Seite und spuckt in den Fluss.

 

„Na, Sie sind aber einer“, empört sich Adenauer.

 

„Ja, wat?“ sagt der Angler und hebt lauernd das Kinn. „Wat bin ich?“

 

Ein ungehobelter Kerl, ohne Manieren und ohne blassen Schimmer, wer da vor Ihnen steht, möchte Adenauer antworten. Stattdessen sagt er: „Ich wollte Ihnen gerade Gelegenheit geben, ihre ganze Fischfanggelehrsamkeit zu entfalten. Und stattdessen –“

 

„Moment, Männeken… Fischfangwat… Wie, entfalten? Wat wolln Se?“

 

„Ach, vergessen Sie‘s einfach“, erwidert Adenauer, stößt wütend seinen Spazierstock in den buckligen Untergrund und schreitet, ohne eine Entgegnung abzuwarten, eilig weiter.

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Die Dollendorfer Fähre ist erreicht. Kaum ist die Limousine an Bord gerollt, werden die Taue eingezogen und das Signal zur Abfahrt ertönt, obwohl noch nicht alle Plätze belegt sind. Die Fährleute wissen Bescheid.

 

Früher kam es nach dem Ablegen häufig zu einer Begegnung zwischen Adenauer und den Fährpassagieren. Viele lösten ihr Ticket überhaupt nur mit der Absicht, während der fünfminütigen Überfahrt ein Autogramm zu ergattern. Manche hatten sogar ein konkretes persönliches Anliegen. Beide Parteien kamen öfter auf ihre Kosten: Den Autogrammjägern kritzelte er seinen Namenszug auf die durchs Wagenfenster gereichten Unterlagen, die Bittsteller bekamen entweder die Auskunft, an wen sie sich in ihrer Angelegenheit zu wenden hatten oder wurden kurz und verbindlich mit der Zusicherung beschieden: „Wir werden der Sache nachgehen“. Manchmal passierte es auch, dass plötzlich jemand hervortrat, nach seiner Hand griff, sie festhielt und irgendeinen Dank stammelte, Dank für etwas, das er für uns Deutsche getan habe. Noch häufiger aber blieb das Wagenfenster verschlossen, weil er in die Lektüre von Zeitungen oder Dokumenten vertieft war oder zumindest so tat.

 

Mittlerweile sind solche Zufallsbegegnungen mit dem Wahlvolk selten geworden. Wie gut tat es ihm, als ihn einmal auf der Fähre ein Herr ansprach, sich als Textilkaufmann aus Gelsenkirchen vorstellte, sich kurz nach seinem Befinden erkundigte und dann sofort loswetterte: „Herr Bundeskanzler, wissen Sie was, die machen uns alles kaputt in Bonn. Die zerschlagen alles, was von Ihnen so mühsam aufgebaut worden ist. Es ist eine Schande, dass ein Genie, wie Professor Erhard es sein soll, so schlecht beraten wird. Ohne Sie ist der Laden nicht mehr das, was er mal war.“

 

Heute aber interessiert sich niemand für den Insassen des auffälligen Fahrzeugs. Auch nicht der Kassierer, der inzwischen mit seinem Rundgang begonnen hat.

 

Adenauer lässt die Seitenscheibe herunter. Der Fahrer des Sportwagens vor ihm ist für die kurze Überfahrt ausgestiegen, lehnt mit dem Rücken gegen sein Cabrio und lässt sich von der Vormittagssonne bescheinen. Angezogen wie ein Italiener. Zerknitterter Leinenanzug, darunter ein dunkelblaues Hemd, zweifarbige Sommerschuhe und die Sonnenbrille im dunklen, nach hinten gekämmten Haar. Ein Tourist auf Rheintour? Eher ein Gigolo, auf Eroberung aus. Oder ein Restaurantbesitzer aus Bonn. Der Kassierer händigt ihm zusammen mit dem Wechselgeld seinen Fahrschein aus und ist schon unterwegs zum nächsten Fahrzeug, als der Gigolo ihm hinterherruft: „Wissen wie geht Cancelliere?“

 

Der Kassierer dreht sich kurz um und starrt sein Gegenüber verständnislos an. Der wiederholt die Frage, diesmal zugespitzt: „Isse kaputt, Adenauer?“

 

Der Kassierer zuckt mit den Achseln und widmet sich dem nächsten Tauschgeschäft; der Gigolo macht eine wegwerfende Handbewegung und dreht sich auf dem Absatz herum. Im selben Moment ruft der Fahrer des blauen Opel Rekord rechts vor ihnen, dessen ausgestreckter Arm mit dem Fahrschein zwischen den Fingern lässig in der Fensteröffnung liegt, in Richtung des Italieners: „Was sagen Sie? Der Adenauer ist gestorben?“

 

Als Adenauer bemerkt, wie Scharoun den Blick hebt, um durch den Rückspiegel Kontakt mit ihm aufzunehmen, bringt er ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. Gebannt beobachtet er, wie der Kassierer aus der Hand des Mannes im Opel den Fahrschein entgegennimmt, einen prüfenden Blick darauf wirft, ein Loch hineinknipst und ihn wieder zurückreicht, bevor er um das Fahrzeug herumgeht und aus seinem Blickfeld verschwindet.

 

„Habe gehört“, ruft der Gigolo heckwärts in Richtung des Opelfahrers, „Adenauer letzte Jahr sehr kranke. Vielleicht kaputt! Wissen was?“

 

Der Andere beugt sich aus dem Fenster. Ein Mann auf dem Weg zum Dicksein, mit dem Ansatz eines Doppelkinns und beginnender Glatze. Zu seinem hellgrauen Jackett trägt er einen flammendroten Schlips.

 

„Nee, ich weiß nichts“, antwortet er. „Komm gerade erst vom Flughafen. Letztes Jahr soll er Lungenentzündung gehabt haben. Stand in allen Zeitungen.“

 

Scharoun hat bis dahin nervös auf dem Lenkrad herumgetippt. Jetzt dreht er sich entschlossen um. „Herr Bundeskanzler“, sagt er mit bittendem Blick, „soll ich nicht –“

 

„Wieso denn?“, unterbricht ihn Adenauer. „Vox populi, vox Rindvieh.“

 

„Aber es ist respektlos, in der Öffentlichkeit so über Sie zu reden“, rechtfertigt sich Scharoun. „Und außerdem ist es gefährlich, wenn derartige Gerüchte verbreitet werden.“

 

„Gefährlich?“ Adenauer setzt ein verschwörerisches Lächeln auf. „Um so wichtiger ist es, Zeuge der Entstehung solcher Gerüchte zu sein.“

 

„Ganz wie Sie meinen, Herr Bundeskanzler“.

 

Der Italiener macht ein paar Schritte auf den Opel zu. „Mein Schwester in Rhöndorf sage, Adenauer lange nicht mehr in Messe. Ist alte Mann, Cancelliere. Novanta anni e più. Für so alte Mann kann kommen Tod ganze schnell.“

 

„Sicher“, ruft der Opelfahrer und presst beide Hände aufs Lenkrad, wie wenn er es kaum abwarten könne, weiterzufahren. „Vorletztes Jahr hat er seinen Neunzigsten gefeiert. Trotzdem hätte ich dem alten Herrn noch ein paar Jährchen gegönnt.“

 

Wie nett, denkt Adenauer. Die beiden tun geradeso, als würde ich nur noch eine Scheinexistenz führen. „Bleiben Sie sitzen“, sagt er zu Scharoun, betätigt den Türöffner, setzt draußen erst das eine, dann das andere Bein auf die Erde, und richtet sich neben der Wagentür auf.

 

„Meine Herren“, ruft er, und sein Mund verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen. „Was reden sie denn da?“

 

Der Opelfahrer sieht über die Schulter in seine Richtung, aber weil Adenauer außerhalb seines Blickfeldes steht, bleibt er die gewünschte Antwort schuldig.

 

Der Italiener dreht sich zu ihm, schaut aber gegen die Sonne. Verunsichert, weil er den Sprecher nicht erkennen kann, weicht er auf eine Gegenfrage aus: „Sai qualcosa del dottor Adenauer?“, woraufhin sich der Opelfahrer erneut angesprochen glaubt: „Vielleicht ist das Gerede von Krankheit nur eine Intrige. Von seiner eigenen Partei, um ihn endgültig aufs Altenteil zu schicken. So eine Art Stubenarrest. Ich denke, der ist denen immer noch zu mächtig.“

 

„Era un profeta per l'Europa“, ruft der Italiener. „Avevamo sperato nel suo potere. Ma i capi lo fecero crocifiggere.“

 

Profeta und crocifiggere hat Adenauer verstanden. Der Mann meint es gut mit ihm. „Mein lieber Herr“, ruft er, „so ist das eben.“

 

Den Gedanken weiter auszuführen, gelingt ihm nicht, denn im selben Moment erreicht die Fähre das Ufer in Bad Godesberg. Die Dieselmotoren dröhnen stoßartig auf, die Schiffsschrauben verwirbeln kräftig das Wasser, und die Heckklappe der Fähre schiebt sich langsam auf die Betonrampe. Adenauers Gesprächspartner verzichten auf eine Erwiderung. Der Opelfahrer betätigt den Anlasser, der Italiener steigt wieder in seinen Sportwagen und tut es ihm nach, Adenauer nimmt wieder hinter Scharoun Platz. Der Kassierer und ein weiterer Mann springen an Land und machen die Taue fest. Dann rollen die ersten Wagen ins Freie.

 

Der Rhein hat jetzt die Farbe von geschmolzenem Blei, große Ölflecken glänzen in Regenbogenfarben. Am Ufer hat das Wasser kleine, mit dichtem Gebüsch gesäumte Buchten geformt und mit Sand und Schlamm gefüllt. Treibholz, verrostete Blechdosen und Flaschen liegen an ihren Rändern.

 

Wie bedauerlich, dass der Fluss nicht nur das Licht des Himmels, sondern auf seinem langen Weg auch allen Schmutz seiner Anlieger einzusammeln scheint. Überall Niedergang und Verfall. Überall Erinnerung an das Vergangene, Verlorene, Zugrundegerichtete.

 

Wenige Augenblicke später fährt die Limousine an der Rückseite der Villa Hammerschmidt, dann an der Front des Kanzlerbungalows vorbei. Posten bewachen die freie Einfahrt, dahinter Gewächshäuser, Rasenflächen, üppig bepflanzte Beete und Rabatten. Sollen wohl Ruhe und Frieden vorgaukeln. Palais Schaumbad hat der Volksmund das Ding getauft. Wegen dem eingebauten Swimmingpool. Mit seiner Rundumverglasung unter dem Flachdach sieht der Kasten ja auch aus wie ein Schwimmbad. Zwei Millionen soll der Spaß gekostet haben. Das haben die Steuerzahler der Repräsentationssucht des Dicken zu verdanken. Teuer bezahlte drei Amtsjahre. Scheußlich und unbehaglich. Wenns nach mir ginge, müsste der Architekt dafür mit drei Jahren Gefängnis büßen. Solche Leute gehören aus dem Verkehr gezogen und durch Baumeister mit wahrem Augenmaß ersetzt.

 

Geradeaus erhebt sich der Turm von St. Cyprian, der Kirche der Altkatholiken. Kein Deut besser. Im Hässlichkeitswettbewerb der neueren Sakralbauten sticht der Betonklotz sämtliche Rivalen aus. Sogar St. Mariä Heimsuchung in Rhöndorf, und das will was heißen. Wieso überhaupt Altkatholiken? Neuprotestanten wäre der angemessene Name. Kein Papst, kein Zölibat, kein Latein. Wie weit soll der Reformirrsinn eigentlich noch gehen?

 

Hier biegt Scharoun links ab, um nach weiteren anderthalb Kilometern unweit des Hauptbahnhofs vor einem schmalen vierstöckigen Wohnhaus mit verspielter Gründerzeitfassade zu halten. Im Erdgeschoss befindet sich ein Ladengeschäft, dessen Schaufenster von einer Markise und einem breiten Rahmen eingefasst ist. ANGELGERÄTE ACKERMANN steht in großen Antiquabuchstaben über der Eingangstür.

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Seit seinem Autounfall vor gut fünfzig Jahren ist es Adenauer nie mehr gelungen, fremder Fahrkunst zu vollen hundert Prozent zu vertrauen. Selbst im Zustand großer Müdigkeit und Abgespanntheit gilt ein Teil seiner Aufmerksamkeit immer dem Mann hinter dem Steuer. Dass Scharoun, wie damals sein Chauffeur in Köln, den Wagen gegen eine entgegenkommende Straßenbahn lenkt, ist allerdings nicht zu befürchten.

 

Die Bundesstraße nach Bonn verläuft zunächst parallel zur Eisenbahnlinie, zwischen Rhöndorf und Königswinter eingeklemmt zwischen Berg und Fluss. Erst kurz vor der Drachenfelsbahn löst sie sich aus der Kameradschaft der Bahngeleise. Bis zu Adenauers Rücktritt sorgte ein eskortierendes Polizeifahrzeug mit Blaulicht dafür, dass der Wagen morgens die engen Straßen von Königswinter und Dollendorf ungehindert passieren konnte. Und auch die Fähre in Niederdollendorf, von der Polizei informiert, stand stets abfahrbereit, um den Bundeskanzler unverzüglich ans andere Ufer zu befördern. Inzwischen dauert die Fahrt zum Bundeshaus jedes Mal über eine halbe Stunde, und weil das Autotelefon inzwischen meistens stumm bleibt, sieht sich Adenauer mehr und mehr veranlasst, das eine oder andere Wort an seinen Chauffeur zu richten. Zu einer echten Unterhaltung lässt er es nicht kommen. Scharoun wäre nicht der erste Angestellte, der als Pensionär mit einem Enthüllungsbuch aufwartet. Oder die Prillwitz. EXKLUSIV IN DER NEUEN QUICK: ADENAUERS CHAUFFEUR UND SEINE PRIVATSEKRETÄRIN PACKEN AUS. Hat während unserer Besprechungen ein bisschen viel in ihre Kladde stenografiert, die Prillwitz. Sogar meine schlechten Scherze und Zornausbrüche eifrig in ihre Hieroglyphen gebracht. Hält sich hoffentlich nicht für meinen Eckermann.

 

Weil er durch das Herunterfahren der Trennscheibe darauf vorbereitet ist, angesprochen zu werden, erschrickt Scharoun kaum, als Adenauer ihn unvermittelt fragt, ob er schon einmal geangelt habe.

 

„Geangelt? Ähem – früher ja, Herr Bundeskanzler. Vor meiner Heirat.“

 

„Am Rhein?“

 

„Hauptsächlich am Rhein, Herr Bundeskanzler. Als er noch sauber war.“

 

„Und jetzt ist er nicht mehr sauber?“ hakt Adenauer nach und betrachtet amüsiert Scharouns verlegene Miene im Rückspiegel. „Na, sagen Sie schon.“

 

„Die Fische aus dem Rhein kann man praktisch nicht mehr essen“, erklärt Scharoun, zwischen dem Blick auf die Straße und dem Blick in den Rückspiegel nervös hin und her wechselnd. „Egal ob Aal, Barsch, Zander oder Hecht.“

 

„Bei mir gibt es an Weihnachten immer Lachs“, erklärt Adenauer.

 

„Aber bestimmt nicht aus dem Rhein, Herr Bundeskanzler, oder?“

 

„Aus dem Laacher See. Schmeckt immer ganz hervorragend. Und die Fische aus dem Rhein schmecken nach Moder?“

 

„Schlimmer, Herr Bundeskanzler. Den letzten Rheinfisch habe ich vor bald zehn Jahren bei meinem Schwager gegessen. Er war so stolz… Nach wer weiß wie langer Zeit endlich mal wieder einen Lachs gefangen… Er hat ihn noch eine Woche lang in sauberem Wasser schwimmen lassen, und trotzdem schmeckte er nach Karbol. Wegen der Abwässer aus den Fabriken. Auch über die Nebenflüsse kommt viel Gift.“

 

„Der Lachs hat ja viel Fett. Da lagern sich solche Stoffe natürlich stärker an als bei einem kleineren Fisch. Sagen wir mal, als bei einem Hecht.“

 

„Auf jeden Fall, Herr Bundeskanzler.“

 

„Und dann kommt es auch darauf an, wovon ernährt sich der Fisch. Der Aal zum Beispiel treibt sich doch vornehmlich herum in trüben Gewässern.“

 

„Das ist korrekt, Herr Bundeskanzler.“

 

„Ich habe zwar noch nie geangelt, Herr Scharoun, aber das gehört ja zur Allgemeinbildung.“

 

„Sie wissen sehr viel mehr als die gewöhnlichen Sterblichen, Herr Bundeskanzler.“

 

Die Heuchelei ist so offenkundig, dass Adenauer sich mit einem verlegenen Lächeln zur Seite wendet. „Wenn Sie das sagen…“ Draußen flimmern die Straßenbäume vor dem Graublau des Himmels, Pappelflaum wirbelt durch die Luft. Aber das Thema ist noch nicht erschöpft.

 

„Gestatten Sie mir die Frage, Herr Scharoun: Warum haben Sie überhaupt geangelt? Eigentlich ist es doch pure Zeitverschwendung. Man kann sich genauso gut einen leckeren Fisch auf dem Markt kaufen.“

 

„Tja“, sagt Scharoun und löst für einen Moment eine Hand vom Lenkrad, um sich an der Schläfe zu kratzen, „ich glaube, es ist gerade wegen der Zeitverschwendung. Man ist draußen, unter freiem Himmel, weit weg von dem Gerenne und Gejage und dem ganzen Wahnsinn. Und der Fluss, das Fließen und Schwappen… Für die Nerven gibt es nichts Entspannenderes.“

 

„So? Na, dann ist das ja genau das Richtige für mich.“

 

„Bestimmt, Herr Bundeskanzler. Von den Schiffen mal abgesehen, nur Ruhe und Frieden. Man sitzt ganz still da, konzentriert auf die eine Sache, und wartet.“

 

„Eben, diese Warterei. Ist das nicht schrecklich langweilig?“

 

„Ich glaube, das kommt ganz darauf an.“

 

„Worauf kommt es an?“

 

„Wie man an die Sache herangeht. Als Angler kommt man mit einer gewissen Erwartung. Man sitzt da und stellt sich vor, was vor einem herumschwimmt oder herumschwimmen könnte. Beißt er, beißt er nicht? Und wenn es dann soweit ist, wird es richtig spannend. Für den Außenstehenden ist kaum etwas zu erkennen. Aber dem aufmerksamen Auge zeigt der Schwimmer genau an, was unter Wasser vorgeht.“

 

„Und ich dachte immer, Angeln sei etwas für Phlegmatiker.“

 

„Vollkommen richtig, Herr Bundeskanzler. Es kann aber auch sehr aufregend sein. Wenn am anderen Ende ein fetter Karpfen zerrt, mit dem man eigentlich nicht gerechnet hat, treibt das den Puls ganz schön in die Höhe.“

 

„Und die Angelbrüder? Was sind das für Leute? Charakterlich, meine ich.“

 

„Wie soll ich das sagen... Es sind ruhige, friedliche Menschen.“

 

„So wie Sie, Herr Scharoun.“

 

„Nun, äh, also“, stottert Scharoun und lacht unsicher. „An mich habe ich dabei nicht gedacht, Herr Bundeskanzler.“

 

„Ich weiß“, sagt Adenauer besänftigend. „Das Angeln ist eine edle Kunst, das wollten Sie sagen.“

 

„Jawohl. So ähnlich. Zum Beispiel angelt man doch nicht wegen dem Geld, sondern zur Erholung. Und das geht in den Charakter über. Man wird ruhig, gelassen und zufrieden.“

 

„Kaum zu glauben, lieber Herr Scharoun. Ich war mir sicher, Angeln sei eher was für nervöse Leute. Leute, die gern rauchen und trinken. Wie der Herr Brandt zum Beispiel. Der fährt ja im Sommer immer nach Norwegen, in seine alte Heimat, zum Forellenangeln. Der soll ganz scharf auf Forellen sein.“

 

„Der Herr Brandt ist sicher kein typischer Angler, Herr Bundeskanzler. Gerade wenn er so auf Forellen aus ist... Forellen angeln sich nicht so leicht. Bestimmt hat er dafür seine Leute. Dem echten Angler ist es völlig egal, ob er etwas fängt. Manch einer geht bloß angeln, weil er dann von zuhause wegkommt.“

 

„Allemal besser, als Gaststätten aufzusuchen“, stimmt ihm Adenauer zu. Ihm fällt ein, dass in der Bibel auch vom Fischefangen die Rede ist. Unser Herr und Heiland hat die Sache durch seine Gegenwart mehr als einmal gesegnet. Und einfache Fischer als Jünger angenommen. Steht, glaube ich, bei Lukas. Muss ich mal wieder nachlesen. 

 

 „Und wo waren Ihre – Fischgründe, Herr Scharoun? Sagt man das so?“

 

„Jawohl. An den Anlegestellen der Fähren in Königswinter und Niederdollendorf, da habe ich gern geangelt. Auch an den Bootsanlegern. Zander und Barsche waren da immer gut. Manchmal hat es auch mit Hechten geklappt. Vor allem nachts. Dann kommt der Hecht nah ans Ufer. Er ist ja ein Räuber. Das Hafenbecken hinter der Fußgangerbrücke am Honnefer Hafen war auch interessant. Wenn sonst nichts ging, war da schon noch der eine oder andere Fisch zu kriegen.“

 

„Und in Rhöndorf?“

 

„Die Buhnenfelder am Hotel Bellevue sollen auch gut sein. Hab ich gehört. Wenn die Sonne das Wasser am Ufer wärmt, halten sich bestimmt viele Fische dort auf.“

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