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An sämtliche Einzelheiten seiner Rückkehr ins Hotel konnte sich Alexander nachher nicht mehr erinnern. Sein Gedächtnis setzte erst wieder in dem Moment ein, als er minutenlang unter der heißen Dusche stand. Bruchstückhaft konnte er sich vergegenwärtigen, dass er im Regen zur Tram-Haltestelle gewankt, ohne Fahrschein zurück in die Stadt gefahren, aus Versehen zu früh ausgestiegen und dann minutenlang herumgeirrt war, ehe er ein Taxi anhalten konnte.


Er hatte große Lust, sich zu betrinken, aber er wusste, dass Kim und seine Schwiegermutter auf seinen Anruf warteten, und deshalb beschränkte er sich auf das Angebot in der Mini-Bar. Mit dem kleinen Whisky fing er an. Danach fühlte er sich um einiges besser. Er überlegte, ob er Kim von seinem Beinahe-Unfall erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Warum sie im Nachhinein beunruhigen? Das machte keinen Sinn. Er öffnete sich ein Bier, legte sich auf die linke Hälfte des Doppelbetts, auf der gestern noch Kim gelegen hatte, schob sich ein zweites Kissen unter den Kopf und tippte in seinem Telefon auf den Kontakt „Hilde Hahneman“. Dann nahm er einen tiefen Schluck.


„Ja, Hahneman?“


„Hilde, hier ist Alexander.“


„Guten Abend, Alexander. Schön, dass Du Dich meldest. Wir hatten schon geglaubt, Du hättest uns vergessen.“


„Aber wie könnte ich meine Lieblings-Schwiegermutter vergessen?“


„Haha, freilich, das fiele Dir sicher schwer.“


„Wie geht’s Dir, Hilde? Alles gut?“


„Danke der Nachfrage. Und wie geht es Dir, ohne Frau an Deiner Seite?“


„Och –“


„Das bist Du doch gar nicht gewöhnt.“


„Stimmt. Ich vermisse sie schon.“


„Dann musst Du ganz schnell herkommen. Aber das wird wohl nicht möglich sein. Oder?“


„Doch. Ich komme morgen.“


„Morgen? Das ist ja bezaubernd. Soll Sheila Dich irgendwo aufsammeln… Ich meine: abholen?“ Hilde Hahneman hielt unbedingt am Taufnamen ihrer Tochter fest.


„Nein, das schaffe ich schon alleine. Aber Du kannst sie mir mal geben.“


„Mit Vergnügen. – Sheila? Dein Göttergatte.“


Den kurzen Moment, bis Kim übernahm, überbrückte Alexander, indem er die Flasche leerte.


„Alex?“


„Sheila, mein Liebling.“


„Lass den Quatsch. Wann kommst du?“


„Morgen nach dem Frühstück mit dem nächsten durchgehenden Zug.“


„Hast Du alles erreicht, was Du wolltest?“


„Ich habe am Nachmittag zufällig einen netten Universitätsmitarbeiter kennengelernt. Wir haben uns für den Abend verabredet, er wollte mir einen alten Bestandskatalog zeigen. Aber dann –“


Alex zögerte einen Moment, ehe er den Satz zu Ende brachte. „Dann haben wir uns verpasst.“


„Wie blöd. Dann bist Du ja ganz umsonst in Straßburg geblieben.“


„Und auf dem Weg wäre ich fast überfahren worden.“


Der Satz war ihm gegen seine Absicht herausgerutscht. Aber Kim hielt es zum Glück nur für eine seiner üblichen Übertreibungen.


„Du machst Sachen. Kaum lässt man Dich mal allein…“


„Das war wohl ein Zeichen. Ich soll die Finger davon lassen.“


„Du glaubst an Zeichen? Alex, wirst Du etwa auf Deine alten Tage noch religiös?“


„Du tust mir Unrecht. Ich versuche lediglich, den Phänomenen Sinn zu geben. Und mein Fazit ist, dass ich seit unserem Ausstellungsbesuch keinen Schritt weitergekommen bin. Wohin ich mich auch wende, überall beiße ich auf Granit. Ich weiß nur, dass das Objekt von 1788 ist und laut Exponat-Beschriftung aus einem Ort namens Waldbach stammt. Ich habe sogar zwei Orte dieses Namens gefunden, aber keiner davon liegt in Frankreich. Aus dieser Sackgasse führt kein Weg heraus.“


Er hatte wohl einigermaßen bekümmert geklungen, denn sofort veränderte sich Kims Tonfall.


„Du wirst doch jetzt nicht schlapp machen… Alex! Reiß Dich zusammen!“


Es war ihre Art, Leute zu ermutigen; sicher ein Erbteil ihrer Mutter, die auch mit 75 Jahren noch ein Muster an Selbstdisziplin darstellte.


„Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll. Es gibt nichts.“


„Doch. Deine Fotos. Deine Fotos von heute Morgen.“


Kim hatte Recht. An die Fotos hatte Alexander gar nicht mehr gedacht. Er hatte sie noch nicht einmal angesehen.


„Die Fotos, ja… Ich habe eins vom Registraturvermerk. Weil ich es auf die Entfernung nicht lesen konnte, habe ich es fotografiert. Auf den ersten Blick sagt es mir nichts.“


„Schick mir das Foto bitte. Die andern vom Skelett will ich gar nicht sehen. Die kannst Du Dir an den Hut stecken. Aber beim Entziffern und Interpretieren leisten Mutter und ich Dir gerne Beistand. Unser Ergebnis werden wir Dir morgen zum Mittagessen präsentieren.“


„Ich glaube kaum, dass ihr etwas herausbekommt.“


„Immer musst Du unken. Schick mir das Foto. Jetzt gleich. Und dann bis morgen. Je t’aime, mon amour!“


„Moi non plus“, knurrte Alexander, was Kim ihrerseits mit „Schuft“ quittierte. Dass er zur Entschuldigung noch das Wort „Zitat!“ hinterherschickte, hörte sie nicht mehr.


Nachdem Alexander Kim das Foto geschickt hatte, öffnete er sich eine zweite Flasche Bier. Während des Telefonats war ihm eingefallen, dass er es versäumt hatte, Angel zu verständigen, der vermutlich um halb neun an der Bushaltestelle vergeblich auf ihn gewartet hatte. Sollte er ihn jetzt noch anrufen? Dass er nicht gekommen war, hatte er ja selbst gemerkt. Allerdings gebot es die Höflichkeit, dass er sich für sein Ausbleiben entschuldigte. Was hatte Angel zum Abschied gesagt? „Rufen Sie mich an, falls etwas schiefgeht.“ Genau das würde er ihm jetzt sagen: Es ist leider etwas schiefgegangen. Er nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und wählte Angels Nummer. Doch statt eines Freizeichens kam die Ansage einer freundlichen Frauenstimme: „Die gewählte Rufnummer ist uns nicht bekannt.“

 

. . .

 

 
 
 

Die Zeit bis zu dem Treffen mit Pierre Angel vertrieb sich Alexander mit Zeitungslektüre in der legendären Patisserie Naegel in der Rue des Orfèvres, auf halbem Weg zwischen dem Institut und dem Hauptbahnhof. Er bestellte einen großen Kaffee und ein Stück Kuchen mit dem Namen Conversation, was er nach den Erlebnissen dieses Tages für sehr passend hielt. Weil es sich aber als Gebäck aus Blätterteig mit Marzipan- und Baiser-Füllung herausstellte, musste es umgehend mit einem doppelten Calvados und einem weiteren Kaffee neutralisiert werden, und erstmals seit Monaten bereute es Alexander, sich das Rauchen abgewöhnt zu haben.


Ursprünglich hatte er dem Tomi Ungerer-Museum noch einen Besuch abstatten wollen, aber ein Blick nach draußen verriet ihm, dass der Regen wieder eingesetzt hatte. So ging er gleich zum Abendessen über und bestellte einen Salade Niçoise und ein Sandwich, dessen Belag auf der Speisekarte minimalistisch als Rosbif bezeichnet wurde, trank dazu ein Pression und surfte durch das Online-Angebot der amerikanischen Presse.


Dann fiel ihm ein, dass er nach einem Ort namens Waldbach suchen könnte. Er tippte den Namen in die Google-Suchmaske ein, womit er 287.000 Treffer erzielte, wählte die Ergebnisse für Google Maps, bekam jedoch keinen Treffer aus Frankreich angezeigt, sondern nur zwei Gemeinden dieses Namens in Deutschland und Österreich. Um halb acht ließ er sich die Rechnung bringen und machte sich, vom Alkohol beschwingt, auf den Weg zum Bahnhof. Er zog am Automaten eine Fahrkarte, von der er hoffte, dass sie dem geforderten Tarif entsprach, und begab sich zum Bahnsteig. In kurzen Abständen fuhren Trams verschiedener Linien vorüber, die mit ihren großen, gewölbten Frontscheiben futuristisch anmuteten.


Erst als er in die Bahn der Linie C eingestiegen war, fiel ihm ein, Kims Beispiel zu folgen und im Internet nach Berichten über Croqué zu suchen. Sie hatte nicht übertrieben. Es handelte sich offenbar um einen handfesten Wissenschaftsskandal, der von zahlreichen Blättern aufgegriffen worden war. Mehrfach fiel der Name, den Croqué erwähnt hatte: Jos van Drongelen, Direktor des Archäologischen Instituts der Rijksuniversiteit Groningen. Der „Figaro“ zitierte aus seinem Artikel in der holländischen Tageszeitung „De Telegraaf“, in dem er Croqué von Schlampigkeit bis zur bewussten Täuschung alle nur erdenklichen Fahrlässigkeiten vorgeworfen hatte. Kein Wunder, dass Croqué auf van Drongelen nicht gut zu sprechen war.


Manche Zeitungen verbanden ihre Enthüllungen mit pikantem Promi-Klatsch. So fand es der „Nouvel Observateur“ erwähnenswert, dass Croqué in der Regel maßgeschneiderte Anzüge trug, gelegentlich aber auch in kariertem Holzfällerhemd und Flecktarnhose agierte und in seinem Büro neben einem Safe für wertvolle Präparate einen Humidor für seine Zigarren aufstellen ließ. Bei seiner Armbanduhr waren sich die Journalisten nicht sicher, ob es sich um eine Pilotenuhr der Firma Breitling handelte, wie „Le Monde“ schrieb, oder doch eine Rolex, wofür der „Figaro“ plädierte.


Erst als das Licht in der Tram ausging, bemerkte Alexander, dass niemand mehr außer ihm im Wagen war und dies die Endstation sein musste. Er stieg aus, überquerte einen Kiesweg und ein Stück nassen Rasen, folgte dem Schild SORTIE und stapfte schwerfällig eine lange Treppe hinauf. Er hätte es doch bei einem einfachen Calvados belassen sollen, dachte er. Bevor er den Schutz der Überdachung verließ, suchte er sich zu orientieren, aber der Regen dämpfte den Schein der gelben Straßenlaterne, und mehr als der Verlauf der Landstraße war nicht zu erkennen. Er schlug den Mantelkragen hoch, zog den Kopf ein und ging, die Hände in den Taschen, die Straße entlang, hart am Randstreifen, dort wo dieser in Rollsplitt überging. Die Straße war von unzähligen kleinen Rinnsalen überschwemmt, die sich gurgelnd neben ihm in einem Graben verliefen.


In breiten, in das Licht seiner Scheinwerfer getauchten Wasserwirbeln überholte ihn ein Auto, dessen Motorgeräusch sich rasch verlor. Er näherte sich dem Beginn der Kurve, und durch den Regenschleier hindurch sah er auch das kleine Haltestellenhäuschen, wo Pierre Angel ihn abholen wollte.


Das Auto, das mitten auf ihn zufuhr, sah er erst im allerletzten Moment. Offenbar hatte der Fahrer die Orientierung verloren und war zu weit nach rechts geraten. Nur mit einem Riesensatz konnte sich Alexander retten. Er stürzte die Böschung hinunter und landete auf den Knien im Straßengraben, die Hände weit vor sich ausgestreckt. Von oben war noch das Knirschen von Reifen auf dem Rollsplitt zu hören, dann ein schwächer werdendes Fahrgeräusch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Wagen ohne Beleuchtung unterwegs gewesen war.


Er wollte sich aufrichten, aber seine Beine gaben nach, und er stürzte erneut in den nassen Graben. Sein Herz schlug heftig, er atmete keuchend, und dann musste er sich plötzlich übergeben.

 
 
 

Nach dem Mittagessen rief Alexander Kim an. Sie war gerade am Bahnhof von Clamart angekommen und nun auf dem Weg zu ihrer Mutter.


„Alex. Was gibt’s Neues? Hast Du mit dem Institutschef gesprochen?“


„Mit Professor Croqué? Ja, er hat mich beim Fotografieren erwischt. Dann haben wir uns einigermaßen freundlich unterhalten, und kurz danach kamen schon die Möbelpacker und haben das Skelett weggebracht.“


„Aber die Fotos hast du?“


„Er hat mich fotografieren lassen.“


„Das wundert mich.“


„Wieso?“


„Hast Du Dich inzwischen mal über den Herrn kundig gemacht?“


„Ich hatte noch keine Gelegenheit. Dass er ein Angeber ist, habe ich auch so gemerkt.“


„Im Netz findet man einige kritische Zeitungsartikel über ihn.“


„Ja, er deutete so etwas an. Er hat mich auch direkt gefragt, ob ich mit seinem Hauptfeind in Verbindung stehe.“


„Van Drongelen?“


„Das war der Name. Aber er machte auch Andeutungen über irgendwelche Hintermänner. Was wieder zu der Schmutzkampagne passt, von der sein Assistent gestern sprach.“


„Van Drongelen macht ihn laut ‚Le Monde‘ für absurde Fehler bei der Altersbestimmung von menschlichen Überresten verantwortlich. Anscheinend hat er im Labor einfach nur phantasiert.“


„Das ist ja wohl ein richtiger Halunke. Aber mich wundert es nicht. Ich habe viele solcher Existenzen wie diesen Croqué kennengelernt. Du musst nur hoch genug bluffen, dann stehen dir alle Türen offen und du fällst alle Treppen hinauf.“


„Erstaunlich, dass er in dieser Situation eine Ausstellung kuratiert.“


„Gar nicht erstaunlich. Wenn die Vorwürfe stimmen, hat er die Ausstellung vermutlich gemacht, um davon abzulenken.“


„Nicht zu fassen, dass so eine dubiose Figur ungehindert weiter agieren darf.“


„Wer gute Verbindungen hat, wird nicht so leicht fallen gelassen. Das ist –“


„Alex, ich bin da“, fiel ihm Kim ins Wort. „Lass uns heute Abend wieder telefonieren. Aber ruf Du bitte an und sprich selbst mit Mutter. Du weißt, es bedeutet ihr viel.“

  

Etwas später wurde Alexander erneut im Sekretariat des Anthropologischen Instituts vorstellig. Er rechnete nicht damit, Croqué dort anzutreffen. Aber vielleicht konnte er seinen Assistenten überreden, jetzt, wo er DOMINIQUE sogar im Beisein des allmächtigen Institutschefs hatte fotografieren dürfen, nähere Informationen preiszugeben, ihm vielleicht einen alten Katalog mit der Erstverzeichnung zur Einsicht zu überlassen.


Aus der Tatsache, dass die Institutssekretärin ihn auf Anhieb wiedererkannte, konnte er allerdings keinen Vorteil ziehen. Im Gegenteil zeigte sie ihm deutlich, wie ungelegen sein Besuch kam. Sie war gerade dabei, aus den großen braunen Metallschränken, die nebeneinander an einer Wand standen, Aktenordner herauszusuchen und unterbrach ihre Tätigkeit nicht, während sie verkündete, dass weder Professor Croqué noch Dr. Bouchon im Haus seien und er sich wegen eines Gesprächstermins telefonisch an das Institut wenden solle, um ihm künftig vergebliche Gänge wie diesen zu ersparen. Anschließend wandte sie ihm den Rücken zu und widmete sich wieder den Aktenordnern.


In der Caféteria zog sich Alexander am Automaten einen Kaffee und setzte sich an einen leeren Tisch. An den Fenstertischen saßen junge Leute vor ihren Getränkebechern und plauderten miteinander, bevor sie wieder in ihre Seminare zurückkehrten. Sie schienen entspannt und vergnügt, und Alexander beneidete sie dafür. Die Sonne warf kleine Flecken durch die große Scheibe, und auf der glänzenden Tischplatte zeichneten sich die Umrisse einiger Platanenblätter ab.


Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich ein schlanker, gutaussehender Mann vor ihm, dem trotz seines Jungengesichts anzusehen war, dass er nicht zu den Studierenden gehörte. Er trug eine graue Hose und einen etwas blasseren Kaschmirpullover und schien viel Zeit im Freien oder unter der Höhensonne zu verbringen. Sein dichtes blondes Haar war knapp über dem Kopf zu einem Zopf zusammengebunden.


„Entschuldigung, darf ich mich zu Ihnen setzen?“


„Bitte“, sagte Alexander und erhob sich. „Ich wollte sowieso gerade gehen.“


„Ich wollte Sie nicht vertreiben, Professor Fairchild.“


„Sie kennen mich?“ fragte Alexander verwundert und setzte sich wieder hin. „Arbeiten Sie auch am Institut?“


Der Mann ließ die Stuhllehne, die er bis dahin fest umklammert hatte, los und reichte Alexander auf geschmeidige Weise die Hand.


„Ich bin Pierre Angel.“ Er zog den Stuhl zu sich heran und setzte sich Alexander gegenüber. „Ich bin der hiesige Kommunikationsbeauftragte.“


„Aha. Also kein Mitarbeiter von Monsieur Croqué.“


„Oh, sagen Sie niemals Monsieur Croqué. Wo er sich so viel Mühe mit seinen Titeln gemacht hat. Sagen Sie immer Professor Croqué. Er verzeiht es nicht, bloß als Monsieur Croqué angesprochen zu werden. Als Amerikaner wissen Sie vermutlich nicht, dass croque-monsieur etwas zu essen ist.“


„Doch, jetzt wo Sie es sagen.“ Alexander nahm einen letzten Schluck Kaffee. „Also gut, Monsieur Angel“, sagte er dann. „Verraten Sie mir bitte, wie Sie meinen derzeitigen Status an ihrem Institut einschätzen.“


„Ihr Auftreten hat für einen beträchtlichen Wirbel gesorgt. Man nimmt an – ob zu Recht oder zu Unrecht, muss ich dahingestellt lassen – dass Sie gekommen sind, um mit ihrem ganzen Renommee als amerikanischer Fachgelehrter Croqué quasi den Todesstoß zu versetzen.“


„Und womit, bitteschön?“


„Indem Sie von Ihrem erhabenen wissenschaftlichen Standpunkt aus die Korrektheit seiner Expertisen in Zweifel ziehen.“


Alexander legte die Hände auf der Tischplatte übereinander und sah Angel starr in die Augen. Sie waren von einem milchigen Blau, als wären Himmel und Wolken darin zusammengeflossen.


„Nichts liegt mir ferner. Ich bin als Tourist zusammen mit meiner Frau ganz zufällig in die Ausstellung gekommen. Vorher waren wir zwei Wochen wandern in den Vogesen. Am Samstag kamen wir nach Straßburg, wo uns gleich das wunderbare Ausstellungsplakat ins Auge fiel, und gestern waren wir drin. Das ist die ganze Wahrheit.“


„Und doch haben Sie mit Kennerblick sofort ein falsches Tagging erkannt.“


„Tagging? Meine Generation nennt es Deskription. Aber egal. Sagen wir mal, ich wurde stutzig und meldete Zweifel an. Ich habe wirklich nicht vor, mich in irgendwelche Auseinandersetzungen einzumischen. Ich habe Interesse an einem einzigen Objekt, an DOMINIQUE, wie ihr Kollege Bouchon es zu nennen pflegt. Sie wissen, was ich meine.“


„Allerdings.“


„Was ich zuallererst gern hätte, wäre die Beschreibung im Bestandskatalog.“


„Nichts leichter als das. In der Institutsbibliothek gibt es Bestandskataloge aus drei Jahrhunderten, ungefähr ein Dutzend.“


„Mir geht es um die Erstverzeichnung.“

„DOMINIQUE ist von 1788, also kommt der große Katalog von 1803 in Frage, vielleicht auch ein älterer. Das werden Sie dann selbst feststellen.“


„Wo kann ich die Kataloge einsehen?“


„Im Magazin des Instituts. Das sich aber nicht hier auf dem Campus befindet, sondern in einem Gebäude am Rheinhafen. Zufällig verfüge ich über einen der drei Schlüssel. Wenn Sie wollen, können Sie schon heute Abend ihren Wissensdurst stillen. Und zwar ganz ungestört. Ich weiß nämlich aus zuverlässiger Quelle, dass Croqué und Bouchon um Acht mit zwei Gästen aus Taiwan zum Abendessen im Rebstock verabredet sind. Kennen Sie sich in Straßburg aus?“


„Nicht besser als jeder andere Tourist.“


„Es ist ganz einfach. Nach Neuhof fährt die Tram C von der Gare Centrale. Sie nehmen die Bahn um 20:05 Uhr. Dann sind Sie um 20:32 in Neuhof. Sie fahren bis zur Endstation, Allée Reuss. Die Haltestelle liegt unterhalb der Straße. Sie gehen die Treppen hoch und halten sich links. Nach etwa 200 Metern macht die Straße eine Kurve. Dahinter befindet sich eine Bushaltestelle. Dort werde ich Sie mit dem Auto abholen. Einverstanden?“


Alexander nickte.


„Für alle Fälle schreibe ich Ihnen noch meine Mobilnummer auf.“


Aus seinen Hosentaschen förderte Angel einen zerknüllten Kassenbon zutage, strich ihn glatt, notierte darauf ein paar Ziffern und schob ihn zu Alexander, der die Nummer seinen Kontakten hinzufügte.


„Wenn etwas schiefgeht, rufen Sie mich an.“

 
 
 
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