Im neuen Jahr war die Krankheit erneut aufgeflackert, was Adenauer aber nicht davon abhalten konnte, sich mit frischem Eifer an die Arbeit zu machen: Rund um die Uhr traf er sich mit Politikern und Journalisten, erledigte Korrespondenz, signierte Bücher und arbeitete sogar, wenngleich widerwillig, am dritten Band seiner Memoiren. Dabei gab es Signale seines Körpers, auf die er hätte hören müssen. Als er in der Woche vor Ostern in seinem Bonner Büro eine Mitarbeiterin des „Kölner Stadt-Anzeigers“ zu einem Interview empfing, fühlte er sich kraftlos und abgespannt. Die Fragen der jungen Frau registrierte er mit abwesendem Gesichtsausdruck, und bei jeder seiner Antworten zog er sich hinter seine geschlossenen Lider zurück. Im Zwielicht der schwachen Deckenbeleuchtung wirkten die langen und tiefen Falten seines Gesichts wie indianische Kriegsbemalung. Als sich die Reporterin verwundert zeigte, dass er in seinem Alter nicht den Wunsch verspüre, einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, gestand Adenauer ein, dass er schon öfter drauf und dran gewesen sei. „Aber es ist wie ein Zwang. Wenn man einmal im Geschirr ist, kann man nicht mehr heraus.“
Danach hatte er, das Taschentuch an den Mund gepresst, gegen einen Hustenreiz ankämpfen müssen. Anschließend schob er sich ein Optipect-Dragee in den Mund, zerkaute es sorgfältig und stellte in der kurzen Gesprächspause fest, dass es sich bei dem Frollein von der Zeitung um eine ganz sympathische Person handelte, angenehm munter, mit himmelblauen Augen im ungeschminkten, frischen Gesicht. Auf der mit Sommersprossen gesprenkelten winzigen Nase trug sie eine kleine, runde Nickelbrille, wie sie in den dreißiger Jahren Mode war. Alles kommt wieder. Warum also nicht auch ich?
Seit langem ist er daran gewöhnt, dass sich in der dunklen Jahreszeit aus jeder zweiten harmlosen Erkältung eine Bronchitis entwickelt, die seine Gesundheit zwischen November und März mehr oder minder beeinträchtigt. Sie hat auch ihr Gutes, diese chronische Bronchitis. Als jungen Mann hat sie ihn vor dem Militärdienst bewahrt und später Lebensversicherungen davon abgehalten, einen Vertrag mit ihm zu schließen. Welch enorme Summe an Mitgliedsbeiträgen er dadurch gespart hat! Und bislang haben sich seine Lungen während des üblichen Frühjahrsaufenthalts in Oberitalien stets wieder beruhigt. In den letzten Jahren ist er immer nach Cadenabbia am Comer See gefahren, und so ist es auch für dieses Jahr geplant gewesen. Dann aber, in der Nacht zum Osterdienstag, plötzlich dieses auf den ganzen Körper ausgreifende Unwohlsein, Mattigkeit und Kälte in den Gliedern, und beim Frühstück unvermittelt dieser unmäßige Schmerz im Rücken bis hinauf in den rechten Arm, der ihm Tränen in die Augen trieb, dazu in der Brust ein Gefühl von Enge und Völle, sodass er an seinen Vater denken musste, der kurz vor seinem Tod ebenfalls einen Schmerz an genau dieser Stelle gespürt hatte. Die Untersuchung durch Frau Dr. Klepper ergab, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte; tags darauf diagnostizierte Professor Dyx, der Leiter der Bonner Universitätskliniken, eine beginnende Pneumonie („Das Gewebe porös wie Bimsstein, Herr Bundeskanzler!“).
Aber das ist sein Wissensstand von heute. Damals waren ihm beide Befunde vorenthalten worden. Ihm gegenüber war nur von einem grippalen Infekt die Rede gewesen, der Prof. Dyx und Dr. Klepper zufolge allerdings einen stationären Hospitalaufenthalt erforderlich mache.
Er konnte es kaum fassen. Waren diese Medizinmenschen noch bei Trost? War es nicht genug, dass er von seinem Kommando entbunden worden war, wollten sie ihn jetzt auch noch aus seinem Zuhause vertreiben? Dies Haus ist nicht nur sein Domizil; es ist seine Burg und sein Kraftquell. Nach seinen eigenen Entwürfen in das herrliche Rheintal hineingebaut. Erfüllt von harmonischer Musik, Literatur und Kunst (christlicher Kunst; die Menschen alle ordentlich gewandet). Der große terrassierte Garten mit seinen Obstbäumen, Sträuchern und Stauden, Gemüsebeeten und Rosenrabatten, Christrosen und Engelstrompeten. Fülle, Form und Schönheit auch hier. Das alles sollte er von einem Tag auf den andern tauschen gegen ein steriles weißes, pharmazeutisch beleuchtetes Krankenzimmer ohne Musiktruhe, Gemälde, Ikonen, Heiligenfiguren und all die anderen erlesenen Dinge?
Sicher, ein Leben ohne den van Ruysdael über dem Wohnzimmersofa (Geschenk von Otto Wolff von Amerongen), ohne die Biedermeiersessel aus Kirschbaum (seinerzeit irgendwo am Main für günstige dreißig Mark das Stück erstanden), ohne den Wohnzimmerteppich (lag schon in seinem Kölner Haus, mittlerweile fadenscheinig, aber immer noch gut genug), ohne die Bücherschränke (beste afrikanische Platane), ohne die Schreibtischlampe mit dem eisernen Fuß und dem achteckigen Schirm aus Schweinsleder (wie lange hatte er danach gesucht, und wie glücklich war er gewesen, als er sie fand!), war möglich. Aber es wäre sehr viel weniger lebenswert. Oder gibt es etwas Treueres als das Mobiliar, das einen von Ort zu Ort begleitet? Treuer jedenfalls als die unbeständigen, unberechenbaren Komparsen des Lebens: Eltern, die sterben, Kinder, die aus dem Haus und eigene Wege gehen, Freunde, die abtrünnig werden.
Niemals würde er sich fremdem Personal ausliefern und einem tyrannischen Regime von Weißkitteln unterwerfen. Noch in der Erinnerung zerrt der Ärger über die Zumutung an ihm wie physischer Schmerz. „Dreimal bin ich rausgeworfen worden“, schleuderte er dem Ärztekollegium wütend entgegen. „Erst von den Nazis, dann von den Engländern, dann von der Brigade Erhard!“ Wobei das dritte auch das schlimmste Mal war. „Wenn jemand von ihnen glaubt, dass ich mich ein viertes Mal vertreiben lasse, diesmal sogar aus meinem eigenen Haus, dann irrt er sich gewaltig. Ich bleibe, und damit basta!“
Nicht einmal zur Einhaltung von Bettruhe vermochten die Mediziner ihn zu überreden. War er bisher etwa nicht mit jeder Erkältung fertig geworden? Also konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er auch diese auskuriert hatte. Und um allen die Robustheit seiner Konstitution zu demonstrieren, erklärte er, zu Mittag ein Brathähnchen essen zu wollen, und zwar eins aus dem „Wienerwald“ des Herrn Jahn, für 3 Mark 50. „Ich habe einen regelrechten Jieper auf Brathähnchen. Scharoun soll mir eins aus Honnef holen, und wenn es da keine Filiale gibt, dann eben aus Bonn. Ich will Brathähnchen!“, schloss er, wütend jede Silbe betonend, seine Ansprache.
Sein innerer Streifzug ist beendet. Die kleine Pause hat ihm gutgetan. Er richtet sich auf, um seinen Spaziergang fortzusetzen, aber da ruft plötzlich in seinem Rücken eine helle Stimme „Konni!“. Und gleich danach noch einmal: „Konni! Stopp!“
Das letzte Mal, dass ihn jemand Konni gerufen hat, ist sehr lange her. Auf dem Apostelgymnasium in Köln muss das gewesen sein. Auch geprügelt hatte er sich da das letzte Mal. Noch Jahre später, wenn ihm wieder einmal danach war, stellte er sich vor, statt mit Worten wie früher mit Fäusten kräftig drein zu hauen. Das tat ihm jedes Mal gut. Und dann bei seinem Abschiedsbesuch in Berlin. Wurde da nicht in einer Tour „Konni, komm wieder!“ gerufen? Oder auch nicht gerufen. Jedenfalls stand es in der Zeitung.