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Als Alexander mit seiner Chipkarte die Hotelzimmertür öffnete, saß Kim, im weißen Frottee-Bademantel und mit Handtuch-Turban, auf der Bettkante und blätterte in den Gratiszeitschriften, mit denen das Hotel seine Gäste versorgte. Sie sah nicht auf, als sie Alexander fragte, wie sein Besuch im Institut verlaufen war.


„Dort wird anscheinend gerade nicht gearbeitet. Es gibt dort nur die Sekretärin, eine sehr attraktive junge Frau –“


„Oh!“


„Die sich nicht im Geringsten für mich interessierte, umso mehr aber für ihre Kaffeemaschine. Und ich war bei dem Assistenten. Ein seltsamer Vogel ist das. In seiner Höflichkeit war Verachtung eingeschlossen wie beim Mittagessen die Schweineschnauze im Aspik. Immerhin haben wir uns ein paar Minuten unterhalten. Es scheint, als ob das Institut in Schwierigkeiten steckt. Er sprach von einer Schmutzkampagne und hielt mich für jemand, der ebenfalls die Absicht hätte, ihnen am Zeug zu flicken. Dabei habe ich erst einmal um den heißen Brei herumgeredet und die Ausstellung gelobt, und das hat ihm auch gefallen. Aber als ich dann meine Zweifel betreffs des Turricephalus bekundete, bekam er plötzlich schlechte Laune.“


„Wundert Dich das? Niemand ist begeistert über eine abweichende Expertise.“ Sie klappte die Zeitschrift zu und stand auf. „Stell Dir vor, meine Mutter würde Dir morgen anvertrauen, dass Du Dich sehr in mir getäuscht hast. Dass ich nicht die bin, für die Du mich hältst.“ Sie nahm das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihre langen blonden Haare aus.


Alexander grinste. „Du meinst, wenn ich einer Betrügerin aufgesessen wäre?“


„Fändest Du das gut, wenn sich herausstellte, dass ich in Wirklichkeit eine… sexgierige Schlampe bin?“


Die letzten Worte hatte sie mit lasziver Betonung ausgesprochen. Nun kam sie mit tänzelnden Bewegungen auf ihn zu, löste den Gürtel ihres Bademantels und ließ ihn zu Boden fallen. Ihr frischer, glatter Körper strahlte ihn an wie eine Verheißung.


Alexander lachte leise und legte seinen Zeigefinger auf die Spitze ihrer ihm nahen Brust, als handle es sich um einen Klingelknopf. „Das fände ich ausgesprochen – interessant“, sagte er, bevor sie ihm mit ihrem Mund die Lippen verschloss. Gleichzeitig machte sie sich zielstrebig an seiner Kleidung zu schaffen.


Nachdem Kim ihn von Hemd und Unterhemd befreit und seinen Slip bis zu den Waden heruntergeschoben hatte, entledigte Alexander sich auch des Rests. Für einen Moment pressten sie ihre Körper aneinander. Das Lustgefühl zwischen seinen Beinen blühte auf wie eine Jerichorose.


Nachher lagen sie erschöpft nebeneinander. Kim ließ ihren Arm in der Luft baumeln, Alexander starrte zur Decke. Seine Hand ruhte, wie meistens, auf Kims Schenkel. Weil er nach dem Beischlaf immer auf diese Weise den Kontakt zu ihrem Körper suchte, hatte er über einen möglichen entwicklungsbiologischen Grund dafür nachgedacht und sein Verlangen nach unmittelbarer Nähe schließlich als Atavismus gedeutet, als genetisch fixierte Geste, mit der das Hominidenmännchen einst das Weglaufen seiner Partnerin nach dem Koitus und das Begatten durch einen Rivalen verhindern wollte. Alexander nahm an, dass sich aus diesem Ursprungsverhalten das Händchenhalten der Verliebten entwickelt hatte. Er war der Meinung, dass es auch ein entsprechendes weibliches Ursprungsverhalten geben müsse, das natürlich das Gegenteil verfolgte, nämlich die postkoitale Erschöpfung des Hominidenmännchens auszunutzen, um sich von einem zweiten Männchen begatten zu lassen und dadurch die Chancen auf Nachkommenschaft zu erhöhen, egal von welchem Partner. Ihm war nur noch nicht klar, ob dieser atavistische Fluchtreflex sich nur in der weiblichen DNA versteckte oder ebenfalls in irgendeiner zivilisatorischen Geste zum Ausdruck kam.


„Kim…?“


„Hm?“


„Ich würde unsere Fahrt nach Clamart gern auf übermorgen verschieben.“


„Was?“ Ruckartig richtete sie sich auf.


„Ich möchte morgen noch einmal zu den Schönen Biestern gehen.“


„Zu dem Knochenmann? Ohne mich.“ Sie presste die Lippen zusammen.


„Kim, die Sache ist wirklich interessant. Sonst würde ich –“


„Interessant für Dich. Nicht für mich. Das ist ein kleiner Unterschied.“


„Sie könnte auch für Dich als Journalistin interessant sein, wenn sich herausstellte –“


„Vergiss es, Alex. Wir haben einen Termin bei Hilde. Und ich werde diesen Termin wahrnehmen, zusammen mit Dir und notfalls auch ohne Dich.“


Seit Kim zu Alexander nach Washington gezogen war, verbrachten sie jedes Jahr ein bis zwei Wochen im Anschluss an ihren Sommerurlaub bei Kims Mutter in Clamart. Als Startpunkt für Spaziergänge, Museumsbesuche und Einkaufsbummel in der Hauptstadt oder für Streifzüge in der Umgebung, ja sogar für Ausflüge in die Normandie oder an die Loire war die kleine Stadt südwestlich von Paris ideal geeignet. Und als Gastgeberin war Hilde Hahneman kaum zu übertreffen. Trotz ihrer 75 Jahre sorgte sie für das leibliche Wohl ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns, als gehörte das Bewirten anderer Menschen zu ihrem Alltag. Nicht einmal die Einkäufe ließ sie sich abnehmen, weil sie Bestandteil ihrer „Übungsmärsche“ waren, die viermal in der Woche stattfanden.


Alexander folgte Kim mit dem Blick seiner graugrünen Augen, wie er es stets tat, wenn die Zeichen auf Sturm standen.


„Termin... Wir haben uns für morgen angekündigt, das ist alles. Ob wir nun morgen oder übermorgen kommen, was macht das für einen Unterschied?“


„Für Dich sicher keinen, aber für einen Menschen von 75 Jahren sehr wohl. Sie lebt allein und hat sich ein ganzes Jahr auf diesen Besuch eingestellt und vorbereitet, und ich werde ihre Planung nicht durcheinanderbringen, bloß weil Du gestern einen Haufen aufrecht stehender Knochen mit einem Turmkopf entdeckt hast.“ Sie hatte sich richtig in Rage geredet. „Ich fahre morgen mit dem Zug um 9:10 nach Clamart. Von mir aus bleib hier.“


„Es geht doch nur um einen Tag. Ich rufe sie an und –“


„Nichts machst du. Mutter freut sich auf uns, und ich werde sie nicht enttäuschen. Komm nach, wenn Du fertig bist.“


„Du bist mir nicht böse?“ fragte er weich.


„Ich habe es Dir doch gerade selbst angeboten.“


„Danke, Liebes. Ich – ich muss da einfach hin. Da hängt eine Geschichte dran. Das Skelett ist einzigartig, die Beschriftung fragwürdig und das Institut im Gerede. Ich wette, da gibt es einen Zusammenhang.“

 

 
 
 

Der Blick auf das Display seines Telefons verriet Croqué, dass es sich bei dem Anrufer um seinen Assistenten Bouchon handelte. Nur diesem Grund nahm er das Gespräch überhaupt an, hielt das Gerät jedoch nicht an sein Ohr, sondern stellte auf ‚Laut‘, um seine Arbeit an Nr. 64 der Bestandsliste für das Gespräch nicht unterbrechen zu müssen.


„Wo brennt’s denn, mein Kleiner“, sagte er mit Ungeduld in der Stimme, wobei er sich über sein Telefon beugte, um die Schlinge des großen C, die sich um ein kleines g wand, zu vollenden.


„Entschuldigung, Chef“, sagte Bouchon, „aber bei mir war eben ein Amerikaner, angeblich vom Smithsonian Institute in Washington.“


„Ich weiß, wo das Smithsonian Institute ist“, sagte Croqué, während er im spitzen Winkel an den ersten Abstrich des M den zweiten Aufstrich setzte. „Oder glauben Sie, es gibt woanders noch eins? Vielleicht in Groningen?“


„Entschuldigung, Chef. Er war auf jeden Fall vom Fach, denn er kannte sich in Anatomie ziemlich gut aus. Und er spricht sehr gut Französisch.“


„Was wollte er? Kaufen, ausleihen?“


„Nichts davon. Angeblich interessierte er sich für DOMINIQUE.“


„Den alten Turricephalus aus dem Steintal? Soll er doch. Warum muss ich das wissen?“


„Er schien an der Echtheit zu zweifeln.“


„Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Das Ding gehört seit 200 Jahren zu unserer Sammlung. Soll er auf den Friedhof gehen und sich bei Helmlein beschweren.“


Croqués Zunge fuhr die Oberlippe ab, während er aus dem Bogen des C den Aufstrich zu einem verschnörkelten M entwickelte.


„In diesem Fall käme wohl Himly in Frage. DOMINIQUE ist von 1788.“


„Na also! Und wo ist das Problem?“


„Seine Argumente sind auf den ersten Blick triftig. Und ich weiß nicht, ob er nur interessiert oder ob er bösartig ist. Wenn ja, könnte er versuchen, uns etwas anzuhängen.“


Croqué legte den Federhalter beiseite. „Wie sind Sie mit ihm verblieben?“


„Er war hartnäckig. Weil er morgen noch einmal in die Ausstellung gehen will, habe ich mich für zwölf Uhr mit ihm verabredet. Das gibt uns genügend Zeit, um zu handeln.


„Sie meinen: mir?“


„Es gibt Ihnen Zeit für eine Entscheidung, wie wir weiter verfahren.“


„Was sagt denn Ihr Instinkt?“


„Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass er journalistisch unterwegs ist und den Auftrag hat, zu unserem Institut zu recherchieren. Und DOMINIQUE ist die Sonde, mit der –“


„Er in unseren Scheißhaufen sticht, meinen Sie?“


„Mit der er das Terrain erkunden will.“


„Das werden wir verhindern. Rufen Sie bei Artrans an. Morgen um Acht sollen sie hier mit einer Transportkiste auftauchen und das Ding ins Magazin zurückbringen. Sie begleiten den Transport. Und nehmen Sie als erstes die Beschriftung aus der Vitrine. Keine Beschriftung – keine Fehler. Und morgen… Wann sagten Sie, kommt er?


„Um Zwölf.“


„Morgen um Zwölf werde ich mir den Vogel mal vorknöpfen. Wenn er wirklich auf der Seite des Bösen ist, werde ich das nach fünf Minuten wissen. Für sowas habe ich einen siebten Sinn. Roma locuta, causa finita. Ich habe noch 43 Crania, die für die nächste Ausstellung gereinigt werden müssen.“


„Ich habe Ihnen bereits angeboten, die Arbeit zu übernehmen, Chef.“


„Das ist keine Arbeit, sondern Genuss, und deshalb lasse ich mir diese Freude nicht nehmen. Ich lasse Sie ja auch nicht meine Cohibas zu Ende rauchen. Aber Sie können etwas anderes für mich tun. Sie können zusammen mit Marine ein Rundschreiben vorbereiten, etwa folgenden Inhalts: Angebot von exzellenten Abgüssen aus der Balanica-Höhle. Aus einer Privatsammlung, bei Interesse nähere Auskünfte. Statt einer Adresse geben Sie meine dienstliche Handynummer an. Überschrift: Neue Neandertalerfunde in Serbien. Erst einmal nur auf Englisch und Deutsch, die Amis und die Boches haben noch das meiste Geld. Suchen Sie dafür 20 bis 30 geeignete Adressen heraus. Was meinen Sie, wie viel kann man dafür nehmen? 400 bis 500 Euro pro Stück? Denken Sie mal darüber nach. Auf Wiedersehen.“


Als Bouchon das Telefon aus der Hand legte, hatte sich sein Gesicht vor Wut rot verfärbt. Dass Croqué es ausgerechnet ihm, Bouchon, überließ, über den Verkaufspreis der Neandertaler-Abgüsse nachzudenken, kam ihm wie eine nachträgliche Aberkennung seiner Entdeckerleistung vor. Nein, es war eine Aberkennung. Und eine Enteignung. Und eine Anmaßung.


Vor drei Jahren waren Croqué und er und ein internationales Studierenden-Team zu Nachgrabungen nach Serbien gefahren. Russische Archäologen hatten in den 1980er Jahren in der Nähe von Niš ein Unterkieferfragment mit vier Zähnen entdeckt, das die Anwesenheit von Neandertalern vor 200.000 Jahren bezeugte. Bei ihren Nachgrabungen, die ab der zweiten Woche Bouchon leitete, hatte das Team etwa drei Dutzend weiterer Fragmente gefunden, und auch in der ersten Woche war Croqué nur nominell Teamchef gewesen. Einheimische Geographiestudenten unter Leitung ihres Dozenten hatten auf halber Höhe zwischen der Nišava und der kleinen Balanica-Höhle für sie ein Basiscamp errichtet. Croqué allerdings bevorzugte die Unterkunft im Best Western Hotel in Niš, von wo aus er jeden Morgen die 25 Kilometer mit seinem tarnfarbenen Land Rover angebrettert kam, auf dem Kopf einen grauen Filzhut mit schwarzer Garnitur, der ihn wie Indiana Jones aussehen ließ. Am Ende des gemeinsamen Mittagessens, das aus einer Militärküche stammte und mit der Gulaschkanone angeliefert wurde, pflegte er jeden Tag aufs Neue ein paar Meter nach oben zu klettern und mit den Worten „Wer den fängt, darf gleich das Geschirr spülen!“ einen zu einem Papierflieger gefalteten 20-Euro-Schein in Richtung des Teams zu werfen. Danach verschwand er wieder. Wo er den Rest des Tages verbrachte, war unklar, und nach einer Woche stellte er seine Besuche ganz ein. Von Bouchon hatte er sich mit den Worten verabschiedet: „Ich bin dann mal weg. Inzwischen schmeißen Sie den Laden. Ich habe in Kroatien ein Golfturnier. Brijuni. Wissen Sie vielleicht, wo das ist?“


Als Bouchon sich all diese Demütigungen wieder ins Gedächtnis rief, begannen plötzlich seine Augen zu brennen. Aber dies war nicht der Moment, um Tränen der Verzweiflung zu vergießen. Es war der Moment der Nemesis. Höchste Zeit, dass jemand Croqué endlich seine Grenzen aufzeigte. Und dieser Jemand würde er sein. Die Zeit des Zauderns, des Einsteckens und Runterschluckens war vorbei.

 
 
 

Croqué war jung, er sah bemerkenswert gut aus, und sein respektabler akademischer Lebenslauf war mit einem amerikanischen, bei der Forschungslegende Howell entstandenen Ph.D. gekrönt, was seiner Bewerbung ein weltmännisches Flair verlieh. Das gab den Ausschlag. Nachdem ihn die Berufungskommission mit 4 zu 1 Stimmen ganz oben auf die Liste gesetzt hatte, war die Bestätigung durch Universitätspräsident Raymond Dacourt, einen Sportmediziner, nur noch Formsache. Als Inhaber des Lehrstuhls für prähistorische Anthropologie und forensische Osteologie war Croqué zugleich geschäftsführender Direktor des Instituts für Biologische und Forensische Anthropologie, für dessen Auf- und Ausbau er ansehnliche Fördergelder kassierte. In seiner Fakultät, der Fakultät für Humanwissenschaften, galt er schnell als Jungstar.


Mit seiner Berufung war der Anfang einer großspurigen Existenz gemacht und das Ende der Ära der erzwungenen Bescheidenheit eingeläutet. Von nun an waren alle Pläne und Handlungen Croqués auf schwindelerregende Weise am zu erwartenden Nutzen orientiert. Neben Alters- und Geschlechtsbestimmung gehörten Knochenmineraldichtemessung, und, in Verbindung mit einem Labor in Montpellier, DNA-Analysen zum Angebot seines Instituts. Wenn er von seinen G.E.N.-Analysen sprach, meinte er insgeheim, dass sich ihre Ergebnisse am Größten zu Erzielenden Nutzen für ihn zu orientieren hatten. Besessen von den Dämonen des Ehrgeizes, der Eitelkeit und der Skrupellosigkeit, ordnete er die wissenschaftliche Wahrheit dem zu erwartenden Profit unter, der meist aus finanziellen Einkünften, manchmal auch lediglich aus Publizität und Ruhm bestand, was mitunter noch wertvoller sein konnte.


Ein finanziell einträglicher und höchst öffentlichkeitswirksamer Auftrag war zum Beispiel die Differenzierung und Identifikation mehrerer Skelette aus der Familiengruft der Adelsfamilie Talleyrand in Valençay gewesen, wo Croqués Analysen einen Familienkrimi aufgedeckt bzw. produziert hatten. Von Bleivergiftung und Kuckuckskindern, ja sogar von Inzest war die Rede gewesen, alles angeblich zutage gefördert durch genetische und biochemische Knochenanalysen.

Mit einer Habilitation hatte Croqué bei seiner Berufung nicht aufwarten können, sie war aber auch nicht von ihm verlangt worden. Vielmehr war die Kommission davon ausgegangen, dass er sich „nebenbei“ mit aktuellen Arbeitsergebnissen habilitieren werde. Das tat er dann auch.


Geschrieben wurde die Arbeit – unwissentlich – fünf Jahre später von einem Doktoranden aus Mainz, der einen Austausch an der Partneruniversität in Straßburg absolvierte. Schon bei seinem ersten Gespräch mit dem Deutschen hatte Croqué gemutmaßt, dass seine Arbeit die ideale Blaupause für sein eigenes Opus liefern würde, und nachdem er sie genau ein Jahr später von der zweisprachig aufgewachsenen Bibliothekarin der heilpädagogischen Abteilung für kleines Geld für sich hatte übersetzen lassen, sah er sich bestätigt. Es würde nur weniger Modifikationen bedürfen, um sie in ein eigenes Produkt zu verwandeln. Die Arbeit befasste sich mit dem Schädel eines Halbaffen der Gattung Europolemur, der im Eozän, vor etwa 40 Millionen Jahren, lebte. Der bräunliche Kopf war im Besitz eines Taxifahrers, dessen Vater ihn bei Ausbauarbeiten in einer Ölschiefergrube gefunden hatte, die in eine Mülldeponie umgewandelt werden sollte.


Croqué ließ sich von dem Doktoranden Name und Adresse des Besitzers geben, fuhr hin und kaufte ihm den Schädel für 350 Euro ab, um danach in aller Ruhe seinen nächsten Betrug vorzubereiten. Seine Modifikationen beschränkten sich im Wesentlichen auf eine Umstrukturierung des Texts und Umstellungen einzelner Abschnitte. Der Rest war Feinarbeit: Kopieren und Einsetzen, Kopieren und Ersetzen. Die digitale Textform beschleunigte die Überarbeitung, die deshalb keine zwei Wochen von Croqués kostbarer Zeit in Anspruch nahm.


Auf den ersten Blick schienen das Original und Croqués Version bis auf den Gegenstand, ein Europolemur-Cranium aus dem Eozän, nicht das Geringste miteinander zu tun zu haben. Und auf den zweiten Blick auch nicht, da Croqué das Fossil als Neufund vorstellte. In seiner Beschreibung behauptete er, den Schädel bei einem Trödler in Verviers erworben zu haben, der ihn bei einer Haushaltsauflösung zusammen mit einer Kiste Schalenblende aus dem Nachlass eines Lehrers erhalten hatte, dessen Großvater als Bergmann im belgischen La Calamine tätig gewesen sei. Die von ihm am Hinterhauptsbein entdeckte Bleistiftbezeichnung „LC 1926“ entspreche dieser Lokation. In Südwestdeutschland und der Schweiz gab es zahlreiche Fundstellen für Europolemur. Aber in den Kalkablagerungen des französisch-belgischen Beckens waren noch nie Überreste eines solchen Halbaffen gefunden worden; unter Primatologen eine Sensation.


Erstgutachter war Croqués Doktorvater in Monterey, Jared Bracke, der mittlerweile zwar einiges an Jahren zugelegt, seinen Ruhm in der Wissenschaft jedoch nicht nennenswert gemehrt hatte. Als Entgelt für die Gefälligkeit überließ ihm Croqué den Unterkiefer eines Pliopithecus piveteaui, der 1842 in der Nähe von Lourdes ausgegraben worden war und aus der Institutssammlung stammte. Zweitgutachterin war die Humanbiologin Christine Villetard, Croqués Fakultätskollegin. Sie winkte die Habilitationsschrift durch, auch wenn sie insgeheim überzeugt war, dass sie wenig taugte. Sie hatte es längst aufgegeben, mit diesem schillernden Hansdampf ihre Kräfte zu messen, der, wie sie einsah, für eine große Sache kämpfte, nämlich für seine eigene.


Enttäuschend war allerdings, dass Croqué seinen Anthropologie-Ph.D. aus Monterey in Frankreich nur mit dem Zusatz „(UCM, USA)“ führen durfte. Doch seit seiner Berufung, genauer gesagt, seit Ablauf der zweijährigen Probezeit, hielt er sich nicht mehr daran. Darauf angesprochen, redete er sich stets damit heraus, dass es seine Schuld nicht sei, wenn man ihn immer wieder mit einem französischen docteur gleichstelle. Doch nachdem er den Herausgebern der Universitätszeitung einen wieder mit „Prof. Dr. Guy Croqué“ gezeichneten Beitrag zum zehnjährigen Bestehen der Fakultät eingereicht hatte, war er von der damaligen Dekanin der Fakultät schriftlich aufgefordert worden, zur Vermeidung einer förmlichen Unterlassungsanordnung und eines Strafverfahrens künftig sorgfältig auf den Zusatz zu achten bzw. gegenüber seinen Herausgebern auf der korrekten Angabe zu bestehen.


Weil sich diese Drohung zufällig mit Croqués eigenen Ambitionen deckte, einen zweiten, europäischen Doktortitel zu erwerben, der seinen Namen auf „Prof. Dr. Ph.D. (UCM, USA) Guy Croqué“ verlängern würde, erneuerte er seine Bekanntschaft zu einem Kollegen an der Université Charles François in Luxemburg, der zu dieser Zeit Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaften war und von dem er annahm, dass er zu einem Gefälligkeitsdienst auf Gegenseitigkeit bereit war. Louis Hoffmiller, Professor für historische Anthropologie, hatte während einer Fachtagung in Fribourg eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen müssen, nachdem er in der Lobby des Tagungshotels randaliert und den Hotelmanager tätlich angegriffen hatte, weil der seinen Vorschlag, den Barbetrieb nach Mitternacht auf Selbstbedienung umzustellen, allzu unfreundlich zurückgewiesen hatte. Es war Croqué, der Hoffmiller auf die Polizeiwache begleitete und am nächsten Morgen von dort wieder abholte, und zu Recht konnte er davon ausgehen, dass Hoffmiller sich ihm seitdem irgendwie verbunden fühlte.


Gegen den Widerstand seiner Kollegen setzte Hoffmiller die Annahme von Croqués Abhandlung, die lediglich aus einem Konglomerat seiner bisherigen Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften Archéozoologie, African Archaeology, Das Quartär und Homo International bestand, als Dissertation durch, obwohl dies den Promotionsstatuten der Université Charles Francois in keiner Weise entsprach. Die Arbeit war auch als Konglomerat kaum 100 Seiten stark und befasste sich mit Osteodensitometrie, Knochendichtemessung, wofür Beispiele aus Afrika, Süd- und Osteuropa herangezogen wurden. Sie war in einem scheußlichen Fachjargon abgefasst, weshalb, als sie formell dem Gutachterausschuss des Fachbereichs vorgelegt wurde, keine Einwände kamen. Im Gegenzug durfte sich Hoffmillers Ehefrau, eine Geographin, für ihre Abhandlung „Zur Struktur und kleinstandörtlichen Verteilung von Moosgesellschaften auf Sandstein-Blockhalden im Amblèvetal“ über einen Doktortitel in Humanwissenschaften der Université Sébastien Brant freuen, den Croqué quasi im Alleingang durchgesetzt hatte.


Die wertvolle Kollektion mit Schädeln von Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen mit den Provenienzen Borneo, Südamerika, West- und Zentralafrika und Südostasien, deren Umsignierung er gerade vornahm, hatte Croqué letztes Jahr durch einen Mittelsmann der Universität Wien angeboten. Auf den Verkaufspreis von 105.000 Euro war er gekommen, indem er die Zahl 107 mit 1000 multipliziert und das Ergebnis großzügig abgerundet hatte. Nach längerer Sponsorensuche hatte der Verwaltungsrat der Universität Wien schließlich dem Kauf zugestimmt und bereits eine Anzahlung von 5.000 Euro für die fachgerechte Verpackung geleistet, womit Croqué die Zahntechniker-Spezialwerkzeuge gekauft hatte. Verpackung und Versand würde er auf Institutskosten vornehmen lassen, indem er die Objekte als Leihgaben deklarierte.

 

 
 
 
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