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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Im neuen Jahr war die Krankheit erneut aufgeflackert, was Adenauer aber nicht davon abhalten konnte, sich mit frischem Eifer an die Arbeit zu machen: Rund um die Uhr traf er sich mit Politikern und Journalisten, erledigte Korrespondenz, signierte Bücher und arbeitete sogar, wenngleich widerwillig, am dritten Band seiner Memoiren. Dabei gab es Signale seines Körpers, auf die er hätte hören müssen. Als er in der Woche vor Ostern in seinem Bonner Büro eine Mitarbeiterin des „Kölner Stadt-Anzeigers“ zu einem Interview empfing, fühlte er sich kraftlos und abgespannt. Die Fragen der jungen Frau registrierte er mit abwesendem Gesichtsausdruck, und bei jeder seiner Antworten zog er sich hinter seine geschlossenen Lider zurück. Im Zwielicht der schwachen Deckenbeleuchtung wirkten die langen und tiefen Falten seines Gesichts wie indianische Kriegsbemalung. Als sich die Reporterin verwundert zeigte, dass er in seinem Alter nicht den Wunsch verspüre, einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, gestand Adenauer ein, dass er schon öfter drauf und dran gewesen sei. „Aber es ist wie ein Zwang. Wenn man einmal im Geschirr ist, kann man nicht mehr heraus.“

 

Danach hatte er, das Taschentuch an den Mund gepresst, gegen einen Hustenreiz ankämpfen müssen. Anschließend schob er sich ein Optipect-Dragee in den Mund, zerkaute es sorgfältig und stellte in der kurzen Gesprächspause fest, dass es sich bei dem Frollein von der Zeitung um eine ganz sympathische Person handelte, angenehm munter, mit himmelblauen Augen im ungeschminkten, frischen Gesicht. Auf der mit Sommersprossen gesprenkelten winzigen Nase trug sie eine kleine, runde Nickelbrille, wie sie in den dreißiger Jahren Mode war. Alles kommt wieder. Warum also nicht auch ich?

 

Seit langem ist er daran gewöhnt, dass sich in der dunklen Jahreszeit aus jeder zweiten harmlosen Erkältung eine Bronchitis entwickelt, die seine Gesundheit zwischen November und März mehr oder minder beeinträchtigt. Sie hat auch ihr Gutes, diese chronische Bronchitis. Als jungen Mann hat sie ihn vor dem Militärdienst bewahrt und später Lebensversicherungen davon abgehalten, einen Vertrag mit ihm zu schließen. Welch enorme Summe an Mitgliedsbeiträgen er dadurch gespart hat! Und bislang haben sich seine Lungen während des üblichen Frühjahrsaufenthalts in Oberitalien stets wieder beruhigt. In den letzten Jahren ist er immer nach Cadenabbia am Comer See gefahren, und so ist es auch für dieses Jahr geplant gewesen. Dann aber, in der Nacht zum Osterdienstag, plötzlich dieses auf den ganzen Körper ausgreifende Unwohlsein, Mattigkeit und Kälte in den Gliedern, und beim Frühstück unvermittelt dieser unmäßige Schmerz im Rücken bis hinauf in den rechten Arm, der ihm Tränen in die Augen trieb, dazu in der Brust ein Gefühl von Enge und Völle, sodass er an seinen Vater denken musste, der kurz vor seinem Tod ebenfalls einen Schmerz an genau dieser Stelle gespürt hatte. Die Untersuchung durch Frau Dr. Klepper ergab, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte; tags darauf diagnostizierte Professor Dyx, der Leiter der Bonner Universitätskliniken, eine beginnende Pneumonie („Das Gewebe porös wie Bimsstein, Herr Bundeskanzler!“).

 

Aber das ist sein Wissensstand von heute. Damals waren ihm beide Befunde vorenthalten worden. Ihm gegenüber war nur von einem grippalen Infekt die Rede gewesen, der Prof. Dyx und Dr. Klepper zufolge allerdings einen stationären Hospitalaufenthalt erforderlich mache.

 

Er konnte es kaum fassen. Waren diese Medizinmenschen noch bei Trost? War es nicht genug, dass er von seinem Kommando entbunden worden war, wollten sie ihn jetzt auch noch aus seinem Zuhause vertreiben? Dies Haus ist nicht nur sein Domizil; es ist seine Burg und sein Kraftquell. Nach seinen eigenen Entwürfen in das herrliche Rheintal hineingebaut. Erfüllt von harmonischer Musik, Literatur und Kunst (christlicher Kunst; die Menschen alle ordentlich gewandet). Der große terrassierte Garten mit seinen Obstbäumen, Sträuchern und Stauden, Gemüsebeeten und Rosenrabatten, Christrosen und Engelstrompeten. Fülle, Form und Schönheit auch hier. Das alles sollte er von einem Tag auf den andern tauschen gegen ein steriles weißes, pharmazeutisch beleuchtetes Krankenzimmer ohne Musiktruhe, Gemälde, Ikonen, Heiligenfiguren und all die anderen erlesenen Dinge?

 

Sicher, ein Leben ohne den van Ruysdael über dem Wohnzimmersofa (Geschenk von Otto Wolff von Amerongen), ohne die Biedermeiersessel aus Kirschbaum (seinerzeit irgendwo am Main für günstige dreißig Mark das Stück erstanden), ohne den Wohnzimmerteppich (lag schon in seinem Kölner Haus, mittlerweile fadenscheinig, aber immer noch gut genug), ohne die Bücherschränke (beste afrikanische Platane), ohne die Schreibtischlampe mit dem eisernen Fuß und dem achteckigen Schirm aus Schweinsleder (wie lange hatte er danach gesucht, und wie glücklich war er gewesen, als er sie fand!), war möglich. Aber es wäre sehr viel weniger lebenswert. Oder gibt es etwas Treueres als das Mobiliar, das einen von Ort zu Ort begleitet? Treuer jedenfalls als die unbeständigen, unberechenbaren Komparsen des Lebens: Eltern, die sterben, Kinder, die aus dem Haus und eigene Wege gehen, Freunde, die abtrünnig werden.

 

Niemals würde er sich fremdem Personal ausliefern und einem tyrannischen Regime von Weißkitteln unterwerfen. Noch in der Erinnerung zerrt der Ärger über die Zumutung an ihm wie physischer Schmerz. „Dreimal bin ich rausgeworfen worden“, schleuderte er dem Ärztekollegium wütend entgegen. „Erst von den Nazis, dann von den Engländern, dann von der Brigade Erhard!“ Wobei das dritte auch das schlimmste Mal war. „Wenn jemand von ihnen glaubt, dass ich mich ein viertes Mal vertreiben lasse, diesmal sogar aus meinem eigenen Haus, dann irrt er sich gewaltig. Ich bleibe, und damit basta!“

 

Nicht einmal zur Einhaltung von Bettruhe vermochten die Mediziner ihn zu überreden. War er bisher etwa nicht mit jeder Erkältung fertig geworden? Also konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er auch diese auskuriert hatte. Und um allen die Robustheit seiner Konstitution zu demonstrieren, erklärte er, zu Mittag ein Brathähnchen essen zu wollen, und zwar eins aus dem „Wienerwald“ des Herrn Jahn, für 3 Mark 50. „Ich habe einen regelrechten Jieper auf Brathähnchen. Scharoun soll mir eins aus Honnef holen, und wenn es da keine Filiale gibt, dann eben aus Bonn. Ich will Brathähnchen!“, schloss er, wütend jede Silbe betonend, seine Ansprache.

 

Sein innerer Streifzug ist beendet. Die kleine Pause hat ihm gutgetan. Er richtet sich auf, um seinen Spaziergang fortzusetzen, aber da ruft plötzlich in seinem Rücken eine helle Stimme „Konni!“. Und gleich danach noch einmal: „Konni! Stopp!“


Das letzte Mal, dass ihn jemand Konni gerufen hat, ist sehr lange her. Auf dem Apostelgymnasium in Köln muss das gewesen sein. Auch geprügelt hatte er sich da das letzte Mal. Noch Jahre später, wenn ihm wieder einmal danach war, stellte er sich vor, statt mit Worten wie früher mit Fäusten kräftig drein zu hauen. Das tat ihm jedes Mal gut. Und dann bei seinem Abschiedsbesuch in Berlin. Wurde da nicht in einer Tour „Konni, komm wieder!“ gerufen? Oder auch nicht gerufen. Jedenfalls stand es in der Zeitung.

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Bonnnn. Bonnnn. Bonnnn. Die Kirchenglocke schlägt mollig zur Dreiviertelstunde. Tick. Tick. Tick, antwortet Adenauers Spazierstock im trägen Rhythmus seiner Schritte. Die unerbittlich ansteigende Karl-Broel-Straße verlangt ihm einiges an Kondition ab. Das frühsommerliche Wetter hat seine Stimmung gehoben und ihn zu einem längeren Kräftigungsspaziergang animiert. Heute ist die Luft leuchtend klar, der Himmel zartblau. Die Hälfte der Pilgerstrecke, die ihn von seinem Zuhause am Zennigsweg bis zum Schreibwarengeschäft von J. C. Heylandt geführt hat, ist bereits absolviert; in seiner linken Manteltasche steckt, zu einem schmalen Rechteck gefaltet, die neue Ausgabe des verlässlich gut unterrichteten „Rheinischen Merkur“.

 

Wie wenig sich der Ort in den dreißig Jahren, die er hier ansässig ist, verändert hat. Rundherum gutes altes Fachwerk, bretterverschalt mit fahlgrünem Anstrich, dazwischen einige wenige Neubauten mit ausgebautem Dachgeschoss. Bedauerlich nur, dass die schönen alten Obstbäume, die in den ersten beiden Nachkriegswintern aus den Vorgärten verschwunden sind, kaum nachgepflanzt wurden.

 

Hinter einem Maschendrahtzaun kläfft ein Hund, springt wütend gegen ihn an und verfolgt ihn mit seinem Gebell auch noch, als er längst aus seinem Blickfeld verschwunden ist. Armes Tier. Niemand hat dich gelehrt, wer dein Freund, wer dein Feind ist.

 

Auf den Betonplatten des Bürgersteigs hat der Spazierstock nur ein einförmiges Geräusch produziert. Auf dem groben Mosaik rund um das Marienkapellchen ergibt sich jetzt, wenn die Eisenspitze nicht auf einem der kleinen Steinquader aus grauem Westerwälder Basalt landet, sondern im Spalt dazwischen, eine kleine Abwechslung: Tick – tock. Tock – tick – tick. Tick. Bis Anfang des Jahrhunderts fand hier der Gottesdienst statt. Dann wurde zweihundert Meter weiter der große Kirchenbau im neuromanischen Stil errichtet und die Kapelle musste nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihren Namen Mariä Heimsuchung an das neue Gotteshaus abtreten.

 

Er mag den kleinen Vorgängerbau. Das Neuere ist nicht immer das Schönere. Eher selten. Bruchstein unter einer dicken Schicht Kalkputz. Der rührend überladene Aufbau der Portalfassade. So eine Kapelle, eine kleinere, bescheidenere natürlich, wünscht er sich auf seinem Privatgrundstück. Er hätte sie längst errichten lassen, wäre es ihm nicht seitens des Erzbistums untersagt worden. Frings, die fleischgewordene Opposition.

 

Die Leute irren, die ihn jeden Sonn- und Feiertag in der Zehn-Uhr-Messe sehen und daraus schließen, er sei der hiesigen Pfarrkirche herzlich verbunden. Letztlich ist es nur Bequemlichkeit, dass er der Gemeinde die Treue hält. Und all den Ärger in Kauf nimmt, den ihm der amtierende Pfarrer bis heute bereitet: Ärger über das Fehlen einer der Würde und der Bedeutung der Heiligen Messe entsprechenden Ausschmückung des Altares und des Chores (an Ostern hat während des religiösen Zeremoniells nicht einmal eine Osterkerze gebrannt), Ärger über die seelenlose Ausgestaltung des Gottesdienstes, Ärger über die ungeschickte Liedauswahl und, daraus resultierend, den schlechten Gesang.

 

In seinen Augen trägt allein Pfarrer Paulus dafür die Verantwortung. Seit fünfzehn Jahren steht er der Gemeinde vor und hat bis heute nicht begriffen, dass diese nicht seinetwegen da ist, sondern er ihretwegen. Dazu seine oftmals unerträglichen Predigten. Die Kunst der Predigt ist sowieso schon auf dem absteigenden Ast; dieser Pfarrer aber setzt dem noch die Krone auf. Nichts als Halbwahrheiten und Ungereimtheiten. Immer wieder nimmt sich Adenauer vor, Paulus heimlich mit dem Tonbandgerät aufzunehmen und ihn anschließend mit dem Unsinn zu konfrontieren.

Der Kirchenraum ist immerhin vor gut zehn Jahren etwas angenehmer gestaltet worden. An sonnigen Vormittagen malen die vier neuen Bleiglasfenster im Chor (eingeweiht zu seinem achtzigsten Geburtstag) bunte Flecken auf den Steinfußboden. Dass es vier sind, ist aber nur zu erkennen, wenn man das Glück hat, innen in einer der vorderen Reihen zu sitzen. Hab dieses Glück nicht. Kann dafür jederzeit und ohne Aufsehen zu meinem Platz am Rand des Hauptschiffs huschen.

 

Tock – tick. Tick – tock, morst der Spazierstock. Ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis es jemandem aus der Journalistenmeute auffällt, dass ich meine bisherige Gehhilfe aus italienischer Kirsche gegen eine aus russischer Eiche vertauscht habe. Geschenk von Botschafter Smirnow zum neunzigsten Geburtstag. Bei der Übergabe meinte er noch, ich solle ihn nur gleich in Gebrauch nehmen; schnell würde ich feststellen, wie gut es sei, sich zur Abwechslung einmal auf Russland zu stützen.

 

Die Erinnerung zerknittert sein Gesicht in hundert sich kreuzende Fältchen. Das alte Schlitzohr. Hat die Rechnung aber ohne den Wirt gemacht. Ich habe ihm freundlich bestätigt, dass der Stock gut in der Hand liegt. Dass man damit wahrscheinlich gut losprügeln kann. Und dass er, wenn ich ihn in Gebrauch nehme, nach meinem Takt marschiert. Hat der Herr Smirnow auch richtig verstanden: Im Gleichschritt marschieren heißt gut marschieren. Soll ein russisches Sprichwort sein.

 

Man muss nicht immer nur auf die Sowjets schimpfen. Halte ich für ganz falsch. Man soll auch freundlich zu ihnen sein. Jedenfalls nicht unfreundlich. Wie auf dem Parteitag in Bonn, wo ich dem russischen Bären vor großem Publikum freundlich die Tatze gedrückt habe. Mein Abschiedsparteitag als Bundesvorsitzender. Meine Würdigung der Friedensvermittlung Sowjetrusslands im Streit zwischen Pakistan und Indien. Atemlose Stille, als ich erklärte, dies zeige, dass Russland neuerdings auch den Frieden wolle. Reihenweise sind da die Kinnladen heruntergeklappt. Einige Delegierte sind glatt zur Salzsäule erstarrt. Arme ahnungslose Anfänger. Fast die Hälfte der Deutschen wünscht sich heute eine enge Zusammenarbeit mit den Russen. Vor drei Jahren war es nur etwa ein Viertel. Die Meinungsforscher haben das herausbekommen. Woran sich wieder einmal zeigt, wie dumm die Bevölkerung ist. Entsetzlich dumm. Geradezu himmelschreiend dumm. Tick – tick – tock. Tick. Tick – tock – tick.

 

Gegenüber der Marienkapelle betritt Adenauer jetzt den kleinen Park, der sich in Form eines T zwischen Frankenweg und Drachenfelser Straße erstreckt. Unter dem Trompetenbaum mit seiner ausladenden, dicht verzweigten Krone bleibt er stehen, lehnt den Stock gegen den grobgeschuppten Stamm, nimmt den Hut ab, einen schwarzen Filzhut, dessen Form die Silhouette des Siebengebirges nachahmt, zieht ein buntkariertes Taschentuch heraus, trocknet sich die Stirn, faltet das Taschentuch wieder, steckt es sorgsam zurück, setzt den Hut wieder auf, greift den Stock und lehnt sich mit dem Rücken gegen den Baum. Er spürt die milde Luft auf seiner Haut und nimmt ein paar tiefe Atemzüge. Wieder schlägt die Kirchturmuhr. Zwölf Mal Bonnnn.

 

Vorletztes Jahr im Herbst lag er zwei Wochen mit Fieber flach; zur selben Zeit, als auch die Regierungskoalition kränkelte. Manche Leute sahen in Beidem einen Zusammenhang. Während die Bonner Krise keine zwei Wochen später zum Rücktritt von Bundeskanzler Erhard führte, war er Mitte November wieder genesen, rechtzeitig zur Übergabe einer Stereo-Schallplatte mit seinen Lieblingsmelodien an Altersheim-Bewohner aus Bonn und Bad Godesberg, von der Presse freundlich Alt-Bürger genannt. Bei dieser Gelegenheit gemachte Pressefotos zeigen ihn im Bonner Büro umringt von nicht minder betagten Damen und Herren, die aus seiner Hand dankbar ein frisch signiertes Exemplar entgegennehmen. Alt-Bürger beim Altkanzler. Der „Spiegel“ hat mich kürzlich sogar als Uraltkanzler bezeichnet. Angeblich zur Unterscheidung, weil es neuerdings auch einen Altkanzler Erhard gibt. Sehr witzig. Keinen Respekt vor der Person, keinen Respekt dem Amt.

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Die letzte Beerdigung, an der er teilgenommen hat, ist die von Dr. Adolf Flecken gewesen, nach dem Krieg Mitbegründer der CDU im Rheinland. Gestorben am zweiten Weihnachtstag in seiner Heimatstadt Neuß, im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Das feuchtkalte Wetter war pures Gift für seine Bronchien. Und doch hielt er es für seine selbstverständliche Pflicht, dem alten Weggefährten die letzte Ehre zu erweisen.

 

War nicht das erste Mal, dass ich am Grab eines Jüngeren stand. Letzten September ist schon der dritte von meinen Ministern verstorben. Keiner von denen war älter als ich. Alle weit jünger. Schäffer, Herzinfarkt mit achtundsiebzig. Dehler, keine siebzig, Herzschlag im Freibad. Seebohm, Lungenembolie mit vierundsechzig. Vor vier Jahren starb Heuss, neunundsiebzig. In dem Alter bin ich nach Moskau gefahren, hab die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause geholt. Stand danach noch weitere acht Jahre der Regierung als Bundeskanzler vor. Es waren nicht viele, die mir das zugetraut hatten. Wurden alle eines Besseren belehrt.

 

Was nicht bedeutet, von den üblichen Altersphänomenen verschont zu bleiben. Die immer komplizierter und langwieriger sich gestaltenden morgendlichen Prozeduren vor dem Waschbecken und in der Badewanne. Horstartige Haarbüschel in den Nasenlöchern. Ohrmuscheln, die immer mehr die Tendenz annehmen, sich vom Kopf zu entfernen und nach vorn zu krümmen, als könnten sie dadurch die zunehmende Schwäche des Gehörs kompensieren. Der Verlust von so vielem, über das man früher nie nachgedacht hat, weil sein Besitz so selbstverständlich war. Und die störrische Weigerung des Körpers, das Verlorene zu restaurieren. Vergangen, vergessen, vorbei. Dafür allerlei Wehwehchen und kleine Malheurs. Auch Anzeichen von Verweichlichung. Empfindlichkeit, besonders gegenüber herzlosem Verhalten. Sogar gelegentliche Anwandlungen von Sentimentalität. Um solcher Launen Herr zu werden, bedarf es eines eisernen Willens. Ganz besonders, was Enthemmungen angeht. Äußern sich bei dem einen so, bei dem andern so. Picasso zum Beispiel, der alte Halunke. Dem sein sogenanntes Alterswerk ist ja durchweg eiliges Gekritzel. Neuerdings malt er aber keinen Frauenakt mehr ohne haarige Rosette. Der Rest des Körpers flüchtig angedeutet, der Popo mit Liebe zum Detail. Und zwar serienmäßig. Früher hat ihn diese Region, soweit ich weiß, kaltgelassen. Wie muss der sein Gehirn traktiert haben mit Rotwein und Zigaretten, bis er dafür Interesse entwickeln konnte.

 

Ein paar Schritte vor ihm machen sich zwei Frauengestalten an einem Familiengrab zu schaffen. Könnten doch Gussie und Emma sein, die beiden. Nicht, um mich mitzunehmen. Bloß mal Guten Tag sagen. Wär schön, jetzt die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen, ihnen ein verlegenes Lachen abgewinnen.

 

In der älteren der beiden, einer stämmigen Frau Ende Sechzig mit stattlichem Busen, erkennt er beim Näherkommen die Witwe Pfennigwerth. Mit ihrem vor vier Jahren verstorbener Mann, einem Bäckermeister, befand er sich jahrelang im Kriegszustand, weil der den Südhang des Drachenfels mit einer Seilbahn verschandeln wollte. Durch allerlei Versprechungen war es ihm gelungen, binnen kurzem den gesamten Ortsverein auf seine Seite zu bringen. Die Baupläne sahen vor, den Sessellift zwischen der Talstation gegenüber von Pfennigwerths Konditorei in Rhöndorf und der Löwenburg verkehren zu lassen, genau über seinem Grundstück. Die Fahrgäste hätten dann zur allgemeinen Gaudi in seinen Garten spähen, ihm beim Bocciaspielen und Kaffeetrinken zusehen können. Um das unselige Projekt zu verhindern, musste Adenauer in Stadt und Land seinen ganzen Einfluss geltend machen. Die Niederlage konnte Pfennigwerth nie verwinden.

 

Seiner Witwe hat in jüngeren Jahren üppiges blondes Haar zu einem imposanten Aussehen verholfen. Üppig ist es immer noch, dabei von viel Weiß durchzogen, doch macht es sie jetzt, wo sie alt und ohne ihren hitzköpfigen Ehemann ist, auf unangenehme Weise unübersehbar. Ihre Begleiterin ist eine junge Frau mit kurzem schwarzem Haar, wie es auch Gussie getragen hat.

 

„Guten Tag“, sagt er und lüftet, als beide Frauen sich zu ihm umdrehen, höflich den Hut. Seine Stimme kommt gepresst, die Anstrengung des Wegs hat ihm Atem geraubt.

 

„Der Herr Adenauer“, sagt die Ältere und blickt finster zu ihm hoch. Dann richtet sie sich auf, wobei sie sich auf den Grabstein stützen muss.

 

Schon vor seinem Rücktritt sprachen ihn beide Pfennigwerths niemals anders als Herr Adenauer an. Offenbar waren sie der Meinung, Alteingesessene hätten das Recht, sich untereinander formlos zu begegnen.

 

Wie plump die Bäckerwitwe trotz ihres forschen Auftretens im Vergleich mit dem straffen jungen Frauenkörper neben ihr wirkt. Jetzt reicht sie ihm sogar die Hand. Dann sagt sie: „Das ist meine Schwiegertochter, die Maria.“

 

Die junge Frau, hübsch auf unauffällige Weise, mit großen dunklen Augen, gewährt ihm ebenfalls einen Händedruck und deutet dabei einen Knicks an.

 

„Sind Sie etwa das ganze Stück gelaufen?“, fragt die Witwe und mustert ihn skeptisch von Kopf bis Fuß.

 

„Keine Sorge“, erwidert Adenauer gelassen. „Ich habe mich unten am Tor absetzen lassen.“

 

„Ich meine nur“, fährt die Witwe ungerührt fort, „weil ihr Schuhzeug nicht in Ordnung ist. Sie haben beide Schnürsenkel offen.“

 

Er starrt auf seine Schuhe, und dabei entschlüpft ihm eine überflüssige Bestätigung: „Tatsächlich.“

 

Ächzend geht die Witwe mit dem rechten Knie zu Boden, während sie den linken Fuß vor dem Körper aufsetzt. Sofort tut die Jüngere es ihr nach. „Aber Mutter“, sagt sie mit heller, klarer Stimme, „lass mich das doch machen.“

 

„Nein, das mache ich. Dir ist das ja nicht mal aufgefallen“, weist die Witwe sie zurecht. Sorgfältig bindet sie erst die eine, dann die andere Schleife, während Adenauer missmutig seinen Spazierstock tiefer und tiefer in den Gehweg bohrt.

 

Die Pfennigwerth soll nicht nett zu mir sein. Außerdem gehört es sich nicht, dass Menschen vor Menschen knien. Nur beim Papst habe ich mal eine Ausnahme gemacht. Der hieß damals aber auch Pius. Seinen naiven Nachfolgern Johannes und Paul habe ich bloß die Hand gedrückt. Beide ohne Sinn für die Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus. Franco hat ganz recht: Das einzige Resultat dieser Politik sind eine Million kommunistische Wähler mehr in Italien und hundert Millionen entmutigte Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang.

 

„Aber nicht, dass Sie im Dorf rumerzählen, ich wär vor ihnen auf die Knie gefallen, Herr Adenauer“, sagt die Witwe in gereiztem Tonfall, nachdem sich beide Frauen wieder aufgerichtet haben. „Das bin ich nämlich nicht. Das war nur –“

 

„Christliche Nächstenliebe“, kommt ihr die Schwiegertochter zu Hilfe.

 

„Christenpflicht“, verbessert sie die Ältere mit einem harten Zug um den Mund. Anscheinend will auch sie auf keinen Fall versöhnlich wirken.

 

„Keine Angst, Frau Pfennigwerth“, knurrt Adenauer. „So etwas Niederträchtiges käme mir nie in den Sinn. Sie ihrerseits dürfen gern erzählen, dass Sie mich getroffen haben. Dann wissen die Leute wenigstens aus erster Hand, dass ich noch nicht ins Gras gebissen habe.“

 

„Da sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig“, versetzt die Witwe. „Übrigens, im August wird mein Enkel Peter acht. Raten Sie mal, was er zum Geburtstag bekommt.“ Spott lauert in ihren Mundwinkeln.

 

„Eine Spielzeug-Seilbahn?“

 

„Wer hat ihnen das denn verraten?“

 

„Ach, den Witz hat ihr seliger Mann schon vor fünf Jahren gemacht. Geantwortet habe ich ihm folgendes: ‚Wie originell, Herr Pfennigwerth. Und wissen Sie, was sich mein Enkel Konrad zu Weihnachten wünscht? Einen Abrissbagger.‘“

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