- Jan-Christoph Hauschild

- 1. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Als Alexander mit seiner Chipkarte die Hotelzimmertür öffnete, saß Kim, im weißen Frottee-Bademantel und mit Handtuch-Turban, auf der Bettkante und blätterte in den Gratiszeitschriften, mit denen das Hotel seine Gäste versorgte. Sie sah nicht auf, als sie Alexander fragte, wie sein Besuch im Institut verlaufen war.
„Dort wird anscheinend gerade nicht gearbeitet. Es gibt dort nur die Sekretärin, eine sehr attraktive junge Frau –“
„Oh!“
„Die sich nicht im Geringsten für mich interessierte, umso mehr aber für ihre Kaffeemaschine. Und ich war bei dem Assistenten. Ein seltsamer Vogel ist das. In seiner Höflichkeit war Verachtung eingeschlossen wie beim Mittagessen die Schweineschnauze im Aspik. Immerhin haben wir uns ein paar Minuten unterhalten. Es scheint, als ob das Institut in Schwierigkeiten steckt. Er sprach von einer Schmutzkampagne und hielt mich für jemand, der ebenfalls die Absicht hätte, ihnen am Zeug zu flicken. Dabei habe ich erst einmal um den heißen Brei herumgeredet und die Ausstellung gelobt, und das hat ihm auch gefallen. Aber als ich dann meine Zweifel betreffs des Turricephalus bekundete, bekam er plötzlich schlechte Laune.“
„Wundert Dich das? Niemand ist begeistert über eine abweichende Expertise.“ Sie klappte die Zeitschrift zu und stand auf. „Stell Dir vor, meine Mutter würde Dir morgen anvertrauen, dass Du Dich sehr in mir getäuscht hast. Dass ich nicht die bin, für die Du mich hältst.“ Sie nahm das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihre langen blonden Haare aus.
Alexander grinste. „Du meinst, wenn ich einer Betrügerin aufgesessen wäre?“
„Fändest Du das gut, wenn sich herausstellte, dass ich in Wirklichkeit eine… sexgierige Schlampe bin?“
Die letzten Worte hatte sie mit lasziver Betonung ausgesprochen. Nun kam sie mit tänzelnden Bewegungen auf ihn zu, löste den Gürtel ihres Bademantels und ließ ihn zu Boden fallen. Ihr frischer, glatter Körper strahlte ihn an wie eine Verheißung.
Alexander lachte leise und legte seinen Zeigefinger auf die Spitze ihrer ihm nahen Brust, als handle es sich um einen Klingelknopf. „Das fände ich ausgesprochen – interessant“, sagte er, bevor sie ihm mit ihrem Mund die Lippen verschloss. Gleichzeitig machte sie sich zielstrebig an seiner Kleidung zu schaffen.
Nachdem Kim ihn von Hemd und Unterhemd befreit und seinen Slip bis zu den Waden heruntergeschoben hatte, entledigte Alexander sich auch des Rests. Für einen Moment pressten sie ihre Körper aneinander. Das Lustgefühl zwischen seinen Beinen blühte auf wie eine Jerichorose.
Nachher lagen sie erschöpft nebeneinander. Kim ließ ihren Arm in der Luft baumeln, Alexander starrte zur Decke. Seine Hand ruhte, wie meistens, auf Kims Schenkel. Weil er nach dem Beischlaf immer auf diese Weise den Kontakt zu ihrem Körper suchte, hatte er über einen möglichen entwicklungsbiologischen Grund dafür nachgedacht und sein Verlangen nach unmittelbarer Nähe schließlich als Atavismus gedeutet, als genetisch fixierte Geste, mit der das Hominidenmännchen einst das Weglaufen seiner Partnerin nach dem Koitus und das Begatten durch einen Rivalen verhindern wollte. Alexander nahm an, dass sich aus diesem Ursprungsverhalten das Händchenhalten der Verliebten entwickelt hatte. Er war der Meinung, dass es auch ein entsprechendes weibliches Ursprungsverhalten geben müsse, das natürlich das Gegenteil verfolgte, nämlich die postkoitale Erschöpfung des Hominidenmännchens auszunutzen, um sich von einem zweiten Männchen begatten zu lassen und dadurch die Chancen auf Nachkommenschaft zu erhöhen, egal von welchem Partner. Ihm war nur noch nicht klar, ob dieser atavistische Fluchtreflex sich nur in der weiblichen DNA versteckte oder ebenfalls in irgendeiner zivilisatorischen Geste zum Ausdruck kam.
„Kim…?“
„Hm?“
„Ich würde unsere Fahrt nach Clamart gern auf übermorgen verschieben.“
„Was?“ Ruckartig richtete sie sich auf.
„Ich möchte morgen noch einmal zu den Schönen Biestern gehen.“
„Zu dem Knochenmann? Ohne mich.“ Sie presste die Lippen zusammen.
„Kim, die Sache ist wirklich interessant. Sonst würde ich –“
„Interessant für Dich. Nicht für mich. Das ist ein kleiner Unterschied.“
„Sie könnte auch für Dich als Journalistin interessant sein, wenn sich herausstellte –“
„Vergiss es, Alex. Wir haben einen Termin bei Hilde. Und ich werde diesen Termin wahrnehmen, zusammen mit Dir und notfalls auch ohne Dich.“
Seit Kim zu Alexander nach Washington gezogen war, verbrachten sie jedes Jahr ein bis zwei Wochen im Anschluss an ihren Sommerurlaub bei Kims Mutter in Clamart. Als Startpunkt für Spaziergänge, Museumsbesuche und Einkaufsbummel in der Hauptstadt oder für Streifzüge in der Umgebung, ja sogar für Ausflüge in die Normandie oder an die Loire war die kleine Stadt südwestlich von Paris ideal geeignet. Und als Gastgeberin war Hilde Hahneman kaum zu übertreffen. Trotz ihrer 75 Jahre sorgte sie für das leibliche Wohl ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns, als gehörte das Bewirten anderer Menschen zu ihrem Alltag. Nicht einmal die Einkäufe ließ sie sich abnehmen, weil sie Bestandteil ihrer „Übungsmärsche“ waren, die viermal in der Woche stattfanden.
Alexander folgte Kim mit dem Blick seiner graugrünen Augen, wie er es stets tat, wenn die Zeichen auf Sturm standen.
„Termin... Wir haben uns für morgen angekündigt, das ist alles. Ob wir nun morgen oder übermorgen kommen, was macht das für einen Unterschied?“
„Für Dich sicher keinen, aber für einen Menschen von 75 Jahren sehr wohl. Sie lebt allein und hat sich ein ganzes Jahr auf diesen Besuch eingestellt und vorbereitet, und ich werde ihre Planung nicht durcheinanderbringen, bloß weil Du gestern einen Haufen aufrecht stehender Knochen mit einem Turmkopf entdeckt hast.“ Sie hatte sich richtig in Rage geredet. „Ich fahre morgen mit dem Zug um 9:10 nach Clamart. Von mir aus bleib hier.“
„Es geht doch nur um einen Tag. Ich rufe sie an und –“
„Nichts machst du. Mutter freut sich auf uns, und ich werde sie nicht enttäuschen. Komm nach, wenn Du fertig bist.“
„Du bist mir nicht böse?“ fragte er weich.
„Ich habe es Dir doch gerade selbst angeboten.“
„Danke, Liebes. Ich – ich muss da einfach hin. Da hängt eine Geschichte dran. Das Skelett ist einzigartig, die Beschriftung fragwürdig und das Institut im Gerede. Ich wette, da gibt es einen Zusammenhang.“

