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Was bis dahin geschah (1922-1955)

Mein Vater kam in Wellingsbüttel zur Welt, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte. Er war der mittlere von drei Söhnen und keine drei Jahre alt, als mein Großvater Berthold der Familie Tschüs sagte und auf dem Zwischendeck des Dampfschiffs Ammon nach Chile fuhr, als kaufmännischer Mitarbeiter einer Hamburger Firma, die mit Schiffsversicherungen und Salpeterhandel ihr Geld verdiente. Jeder, der es hören wollte, erfuhr von Berthold, dass er Aussichten auf eine fabelhafte Stellung habe und seine Familie bei nächster Gelegenheit nachholen werde, alles sei nur eine Frage der Zeit.

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Meine Großmutter Hedwig zog solange mit den drei Söhnen zu ihrer Mutter nach Ludwigslust, eine Kleinstadt im Westen Mecklenburgs an der Bahnstrecke Schwerin-Hamburg.

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Aus den Auswanderungsplänen wurde jedoch nichts, und nach etwas mehr als zwei Jahren kehrte mein Großvater, abgerissen und ohne einen einzigen Goldzahn mehr im Mund, zerknirscht nach Hause zurück. Bei seiner Schwiegermutter hieß er seitdem Tölke met de grote Utsüchten.

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Die väterlichen Vorfahren meiner Mutter waren Bauern in den Dörfern rund um Perleberg, im Nordwestzipfel der Mark Brandenburg. Ihr Vater war der jüngste von drei Brüdern und kam als Hoferbe nicht in Frage. Deshalb absolvierte er diverse Ausbildungen, hängte noch ein Studium dran und war mit 30 Jahren Gründungsdirektor der Landwirtschaftlichen Schule in Ludwigslust. Danach fing er an, sich eine Frau zu suchen.

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Er fand sie in einer Fremdenpension an der Nordsee, wo sich meine Großmutter Charlotte, die aushilfsweise als Lehrerin arbeitete, mit Eltern und Geschwistern – der Vater war praktischer Arzt in Magdeburg – von den Anstrengungen des großstädtischen Alltags erholte. Meine Großmutter war 25 Jahre jung, eine anmutige Gestalt im blütenweißen Leinenkleid unter einem großkrempigen Sommerhut, und mein Großvater verliebte sich auf Anhieb in sie. Vier Wochen später hielt er in Magdeburg um ihre Hand an. Die Eltern mussten nicht lange überlegen. Ihre Menschenkenntnis ließ sie vermuten, dass der Herr Direktor von gutem Charakter sei und ihre Tochter von ihm Behutsamkeit und Nachsicht erwarten durfte.

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Und die benötigte sie auch. Denn meine Großmutter besaß einen Schönheitsfehler: Sie steckte ein. Es waren Diebstähle ohne Notwendigkeit, verübt in Augenblicken einer krankhaften Entgrenzung. In allem Übrigen verhielt sie sich moralisch einwandfrei, doch wenn diese unwiderstehliche Lust sie überwältigte, waren sämtliche vernünftigen Erwägungen wie weggeschwemmt.

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Zwei Monate später wurde die Verlobung gefeiert, und ein halbes Jahr später die Eheschließung. Beim Hochzeitsmahl im Magdeburger Hof erfreuten sich 76 geladene Gäste an Schildkrötensuppe, Brüsseler Masthuhn, Rheinsalm an Sauce Colbert, Rehrücken und Parfait von Straßburger Gänseleber auf Madeiragelee; zum Dessert wurden Rosensorbet und Käsefours serviert.

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Meine Großeltern waren noch nicht von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, als serbische Nationalisten in Sarajewo das österreichische Thronfolgerpaar ermordeten. Der Krieg brach aus, mein Großvater wurde eingezogen, die Landwirtschaftliche Schule in Ludwigslust geschlossen. Als Patrouillenführer geriet er Ende des Jahres in Polen in einen Hinterhalt, das Pferd wurde ihm unter dem Sattel weggeschossen und begrub ihn unter sich. Er überlebte mit Kopfverletzungen und Erfrierungen. Den Rest des Krieges verbrachte er auf der Schreibstube.

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Meine Mutter war das dritte Kind ihrer Eltern. Sie war eineinhalb, als ihr Vater starb. Bei der Obduktion entdeckte man eine erfrorene Niere; Folge seiner Kriegsverwundung. Sein schwarz gerahmtes Bild hing im Wohnzimmer über dem Klavier, umgeben von Calla-Blüten, die aussahen wie echt.

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Die Familie wohnte in Ludwigslust in der Klenower Straße im rechten Flügel der Landwirtschaftsschule. Sie war von einem hohen Zaun umgeben. Außerhalb der Schulzeit verschloss ein Tor das Areal. Schräg gegenüber wohnte mein Vater mit seiner Familie. Vater Berthold war noch in Chile, Mutter Hedwig gab zuhause Unterricht im Maschinenschreiben, und die Großmutter war für jede Minute dankbar, die ihre drei Enkelsöhne nicht in der Zweizimmerwohnung verbrachten.

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Die Klenower Straße hatte Kopfsteinpflaster, zu dessen beiden Seiten ein Reitweg verlief. Auf der Seite, wo die Schule stand, gab es außerdem einen geplätteten Bürgersteig. Dort standen riesige Kastanienbäume, zwischen denen sich der Radfahrweg schlängelte. An heißen Sommertagen, wenn die Kühe morgens rausgetrieben und abends stallwärts geführt wurden, oder wenn eine Schwadron vom 14. Reiter-Regiment auf dem Weg zur Rennbahn war, wirbelte der graue Sand in hohen Schwaden auf. Die Brüder hatten ihren Spaß daran, durch den warmen Sand zu schleifen, was ihnen aber von aufgebrachten Hausfrauen lautstark untersagt wurde. Wenn einer von ihnen mal musste, ging er abseits an eine der riesigen Kastanien und ließ den Dingen ihren Lauf.

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An einem Sonntag sahen die Brüder zwei Kinder hinter dem Zaun der Landwirtschaftlichen Schule stehen. Der Junge trug eine Schürze über seiner Kleidung, das Mädchen Schnürstiefel und einen Matrosenkragen am Kleid. In einem Bollerwagen saß meine Mutter. Mein Onkel war schon sieben, und deshalb sagte er zu dem Jungen hinter dem Zaun, nun kommt doch raus, aber der Junge antwortete, wir dürfen nicht. Mein Vater war noch keine fünf und sagte, dann kommen wir eben zu euch, damit wir spielen können, und das Mädchen rief Au ja, und wollte das Tor aufmachen, aber es ging nicht, es war abgeschlossen. Das kleine Mädchen im Bollerwagen sagte gar nichts, aber das war das erste Mal, dass sich meine Eltern begegneten. Als wieder Schule war und das Tor offen stand, gingen sie noch einmal hin, aber da kam sofort der Hausmeister angetrabt und scheuchte sie weg.

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Ein paar Wochen später kam Berthold aus Chile zurück und die Familie zog in die Letztestraße, ins Haus der verstorbenen Leichenwäscherin. Danach trafen sie sich erst wieder, als die Familie meines Vaters in die Kanalstraße gezogen war, genau gegenüber von der Brücke zur Theodor-Körner-Straße, wo inzwischen im Haus Nr. 4 in der Beletage meine Großmutter Charlotte mit ihren drei Kindern wohnte.

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Einmal spielte meine Mutter da mit ihrer Freundin Hilde May, und als mein Vater in seiner schwarzen kurzen Hose und der schwarzen kurzen Jacke mit den Silberknöpfen vorbeikam, versprachen ihm die beiden Mädchen Schokoladenzigaretten, wenn er mit ihnen auf der Schlossstraße spazieren gehen würde. Bis zum Alexandrinenplatz durfte meine Mutter rechts von ihm gehen, und zurück bis zum Schloss Hilde May, und einen Kuss zum Abschied bekamen sie beide auch.

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Als meine Mutter meinen Vater das nächste Mal sah, trug er Uniform. Im großen Saal von Hotel Fürst Blücher gab es eine Feierstunde. Alt und Jung schaute erwartungsvoll auf die Bühne mit der Hakenkreuz-Stoffkulisse. Mein Vater war einer der beiden Jungvolk-Jungen, die links und rechts regungslos hinter ihrer schwarzweißen Landsknechtstrommel standen. Plötzlich sackte mein Vater zusammen und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Bühnenparkett auf. Vier Ordner trugen ihn ins Freie.

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Die beiden Brüder meines Vaters durften die Mittelschule besuchen, aber ihn ließen sie nicht. Es sei ein Lehrertrick gewesen, behauptete er später immer, und eine Schande, dass seine Eltern das mitgemacht hätten. Tatsache war, dass er als Zehnjähriger diese nervöse Unruhe bekam. Er wurde immer hippeliger. Aus heiterem Himmel fing er an, herumzuspringen und über Stühle und Tische zu klettern. Er tobte wie ein Affe, und jähzornig war er dann auch.

Zuhause wussten sie, dass es vorüberging, aber in der Schule ließ man es ihm nicht durchgehen. Lehrer Bohnsack bestellte seine Eltern ein, die schleppten ihn zu Dr. Pfautsch, ihrem Hausarzt, der überwies ihn zu einem Spezialarzt nach Schwerin, und der ließ ihn von einem Ärztekollegium im Schweriner Herz-Jesu-Krankenhaus begutachten. Was sie dort über die Art seiner Krankheit dachten, erfuhr er nie, aber sie wollten ihn in eine Klinik an der Ostsee einweisen, wo er teure Medikamente und eine besondere Diät bekommen und den ganzen Tag Sport gemacht hätte.

Von diesem Behandlungsplan blieb einzig der Sport übrig, denn der war umsonst zu haben: Gymnastik, Übungen mit dem Expander und Gewichten. Dr. Pfautsch schrieb ihn fast ein halbes Jahr krank, und in der Zeit war er bei Onkel und Tante in Hamburg, um zur Ruhe zu kommen. Die fünfte Klasse musste er natürlich wiederholen, und mit der Mittelschule wurde es auch nichts. Doch seine Mutter meinte, lieber ein guter Volksschüler als ein schlechter Mittelschüler.

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Danach wurde mein Vater in eine Konditorlehre in Warnemünde gesteckt. Es war kein Glückslos. Von Montag bis Freitag stand er ab halb fünf in der Backstube und schleppte Mehl in Zweizentnersäcken, fettete Kuchenbleche ein, öffnete Konservendosen, hackte Nüsse, portionierte Butter, schlug Eier auf, schlug Sahne, formte mit dem Dressiersack, füllte die vom Chef persönlich gekochte, abgekühlte Eismasse in die Speiseeismaschine und drehte sie so lange, bis sich Eiskristalle bildeten, lernte den Umgang mit Teigpresse und Knetmaschine, Zuckerwaage und Walzenreibmaschine, stand am Ofen, leerte die Asche in die Grube auf dem Hof, rannte zum Milchmann, half im Laden aus, spülte Kaffeetassen, putzte den Lokus, drehte die Waschmaschine, säuberte den Waschkessel. Alles ohne Entgelt.

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Dass der Chef am Wochenende mal ein Taschengeld herausrückte, kam selten vor. Also stopfte er die Löcher in seiner Kleidung, wusch Taschentücher und Strümpfe selbst und verdünnte die Tinte für den Konfirmationsfüller mit Wasser, bis seine Eltern sich über die blasse, fast unlesbare Schrift beschwerten. Wenn die Lehrlinge nach dem Schulunterricht noch auf ein Bier weggingen, saß er bei seinen mitgebrachten Käsestullen und hoffte darauf, dass ihm ein Kamerad ein kleines Glas spendierte.

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Die Lehre war noch nicht zuende, als der Krieg ausbrach. Die Zwischenprüfung fiel ziemlich mau aus und ließ für die Abschlussprüfung nichts Gutes hoffen. Deshalb legte mein Vater, als die Einberufung zum Arbeitsdienst kam, keinen Widerspruch ein. Aber zuhause fielen sie aus allen Wolken, und mein Großvater musste sich mächtig ins Zeug legen, damit er doch noch wie vorgesehen die Prüfung vor der Handelskammer in Rostock machen konnte und den Gesellenbrief bekam.

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Der Arbeitsdienst war für ihn die Hölle, aber als er mit 19 Jahren für die Wehrmacht gemustert wurde, stellten die Ärzte zu seinem Glück einen Herzfehler fest. Während seine Schulkameraden vor Moskau und Leningrad kämpften, Minsk und Kiew eroberten, in den Kaukasus vorrückten und an den Don, kam mein Vater nach der Grundausbildung zu einem Ersatzbataillon nach Dresden, wo er beim Kommandostab Innendienst schob, und das war das Paradies.

Die Wonnen des Paradieses hießen Kino, Zirkus, Varieté, Theater, Oper und Museum; Großer Garten, Brühlsche Terrasse, Albrechtsschlösser. Und den Schlüssel dazu besaß Peter Hammerich, in Friedenszeiten Inhaber eines Schuhgeschäfts in Bad Honnef, ein gutmütig dreinblickender, untersetzter Rheinländer mit spärlichem dunklem Haar und festem Bauch. Wie mein Vater war er zum Kämpfen zu weich, im Unterschied zu ihm aber auch ohne Vertrauen zu Volk, Reich und Führer. Er war ja auch fast zwanzig Jahre älter. In der Ausbildung hatten ihm schlechtes Essen, Schmutz und die Grobheiten der Männer zugesetzt, jetzt verwöhnte er sich, und meinen Vater mit. Wenn sie ausgingen, war das Beste gerade gut genug: Ratskeller, Café König, Café Eden. Und sie gingen fast jeden Abend aus, am Wochenende sowieso.

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Während die Wehrmacht an der Ostfront auf dem Rückmarsch war und die Sechste Armee bei Stalingrad kapitulierte, waren Peter und mein Vater am Elbufer unterwegs. An Wochenenden vertauschten sie verbotenerweise ihre Uniform mit Zivilkleidung und erkundeten die Umgebung von Dresden: elbaufwärts Schloss Pillnitz, der Barockgarten von Groß-Sedlitz, Schloss Weesenstein, Burg Dohna und noch weiter die Sächsische Schweiz; im Nordwesten Radebeul mit seinen Weinbergen im grauen Abendlicht.

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Zweimal musste mein Vater mit zu einer Übung auf den Truppenübungsplatz Königsbrück. Er tat dort nichts anderes als in der Kaserne, nur dass er obendrein noch das Zimmer des Oberzahlmeisters saubermachen und den Ofen anheizen musste. Auf der Suche nach zusätzlicher Verpflegung war er oft auf dem Land unterwegs. So lernte er die Melkerin Elfriede kennen. Sie war nicht hübsch, aber wollüstig dick, ein Gesicht wie gefärbtes Marzipan, plastische Waden, blonde Locken und Zähne wie Neuschnee.

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Sie lagen im Gras. Vor ihren Augen begegneten sich zwei Zitronenfalter, die sich zitternd umtanzten und dabei, wie von einem Sog ergriffen, fast senkrecht aufstiegen, der Sonne zu, in deren Blendlicht sie schließlich verschwanden. Er spielte an ihrer Kleidung herum. Sie schien nicht abgeneigt. Aber geenen Vergehr, ischd das glar? Beebln darfsde, aber nich gunksen, und duh mich bloß nich besawwrn!

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Zurück in Dresden, war sein Interesse an Spaziergängen in der Natur fürs erste gedämpft. Sah er auf der Straße irgendein Mädel, wollte er gleich wieder lieben. Elfriede war in seinem Kopf, und was er alles mit ihr anstellen könnte.

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Im Spätsommer musste er wieder nach Königsbrück. Diesmal ging er nach dem Dienst schnurstracks zu Elfriede. War es Schicksal, war es Zufall? Sie war da. Septembersonne, ein wenig blass schon, fiel durch das täglich luftiger werdende Laub der Bäume. Sie öffnete ihren Rock und ließ ihn zu Boden gleiten. Ihr fetter Bauch glänzte im Abendlicht, darunter ein schmaler Haarstreifen, der den Ort der Verlockung markierte. Die Geilheit überschwemmte ihn, ein ziehendes Gefühl in seinem Unterleib, seinem Brustkorb, seinem Mund. Er hielt es nicht mehr aus und kletterte auf sie drauf. Es war sein erster Versuch überhaupt. Elfriede stöhnte und redete wirres Zeug. Bei ihm kam nichts. Sie waren eben beide Anfänger.

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Am nächsten Tag nach Dienstschluss trafen sie sich wieder. Erst gingen sie spazieren, nachher saßen sie auf einer Bank. Gekonnt legte er sie zurecht, und los ging es. Viel zu früh zog er sich zurück, so dass er Schmerzen bekam und sich nachher im Bett noch erleichtern musste. Lieber Gott, mach mich zum Mann, betete er.

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Spät am nächsten Abend gab es eine letzte Wiederholung. Auf einem Rasenabhang ließen sie sich nieder. Der Mond stand groß am Himmel, alles ging gut. Dreimal hatte er regelrecht gevögelt und fragte sich nun, ob er deswegen schlecht war – und wann er wohl wieder Gelegenheit haben würde.

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Nach anderthalb Jahren wurde mein Vater zum Oberschützen befördert und zur Betriebsabteilung versetzt. Das war das Ende der Gemütlichkeit. Und dann rief Goebbels auch noch den Totalen Krieg aus, und er wurde kriegsverwendungsfähig geschrieben. Um vor der Versetzung an die Front noch ein paar Mal Urlaubsfreuden zu genießen, ließ er sich von zuhause seine alte Hitlerjungen-Uniform schicken. Gleich am nächsten Wochenende fuhr er, als Pimpf verkleidet und mit dem Ausweis seines jüngeren Bruders, zu seinen Eltern nach Ludwigslust. Die Züge waren voll mit Soldaten, die einen kamen von der Front, die andern mussten zurück.

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Auf dem Bahnhof traf er meine Mutter, die auch auf Heimaturlaub war. Sie wollte Gewerbeschullehrerin werden, aber vorher musste sie ihren Arbeitsdienst ableisten. Bis dahin hatten sie nur ein paar Briefe miteinander gewechselt. Für sie war es nur eine Art Seelsorge für einen Dienstverpflichteten gewesen; er hoffte auf eine engere Verbindung. Konkurrenz brauchte mein Vater nicht zu fürchten, denn andere Bewerber gab es nicht, seit die Kleptomanie ihrer Mutter stadtbekannt war. Bisher hatte ihre gesellschaftliche Stellung die verwitwete Frau Direktor vor strafrechtlichen Folgen bewahrt. Doch in diesem Sommer wurde sie von einer Buchhändlerin angezeigt und ihre Wohnung von Wachtmeister Brochkmann durchsucht, der über 30 Bücher mit Beschlag belegte. Beide Töchter waren gerade außer Haus, aber nachher erfuhren sie es doch, und seitdem schämten sie sich für ihre Mutter.

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Als mein Vater zum dritten Mal hintereinander ohne Urlaubsschein nach Hause fuhr, flog er auf. Er hatte Glück, dass er keinen Arrest aufgebrummt bekam. Stattdessen wurde er kurz nach Ostern 1943 als MG-Schütze zu einer neu aufgestellten Artillerie-Abteilung nach Frankreich kommandiert. Ein Vierteljahr waren sie in der Nähe von Calais mit Küstenschutz beschäftigt. Von seinem Posten am Zwillings-MG blickte er auf das Meer, wo man bei gutem Wetter die englische Küste erkennen konnte.

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Im Sommer wurde die Abteilung nach Mittelitalien verlegt. Auch da konnte man noch eine ruhige Kugel schieben. Manchmal kamen ihm schöne Gedanken, er brachte sie zu Papier, und für den Fall, dass es noch mehr werden sollten, legte er sich schon einmal ein Pseudonym zu, Andreas Möw. So wollte er heißen, wenn er mit seinem ersten Buch an die Öffentlichkeit trat. Er stellte sich weiter vor, dass man sein Zimmer zuhause mit allerlei Andenken, die er bisher gesammelt und nach Hause geschickt hatte, unter dem Thema „Die Reisen des Dichters Andreas Möw“ wie ein Museum einrichten könnte.

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Nach ein paar Monaten wurde die Einheit erstmals gegen den vorrückenden Feind eingesetzt, und seitdem lagen sie unter Beschuss aller Kaliber. Sie feuerten, krochen in Deckung, holten Munition, feuerten wieder. Es gab Tote und Verwundete, und inzwischen wusste mein Vater auch, dass sein jüngerer Bruder, Oberscharführer im SS-Panzergrenadier-Regiment Totenkopf, in der Ukraine den Heldentod für Deutschland gestorben war, noch keine neunzehn Jahre alt.

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Im vorletzten Kriegsjahr lagen sie in den Seealpen, im Royatal, kurz hinter der französischen Grenze. Ab und zu gab es Artilleriebeschuss, aber abends war viel Zeit zum Reden und zum Träumen. Jetzt war sein Wunsch, möglichst bald zu heiraten und irgendwo auf dem Land Volksschullehrer zu sein. Und für den Fall, dass sich seine Pläne zerschlugen, hoffte er, dass meine Mutter trotzdem fest und treu zu ihm stehen würde. Seinen Eltern schrieb er, sie sei seine große Liebe, und es sei ja kein schlechter Fang.

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An einem ereignislosen Tag veranstaltete die Kompanie einen Kameradschaftsabend, die Schreibstube stellte sogar eine Bierzeitung zusammen, mitten drin ein Gedicht:

 

Cassino, des Südens Alcazar,

Den ersten Toten uns legt auf die Bahr.

Bei Cervaro wir erhielten die Feuertauf‘,

Wir hemmten dort des Gegners Lauf.

Bei Ari und Orsogna tobte die Schlacht,

Doch der Tommy wurde genügend bedacht

Mit Granaten und gut geleitetem Feuer.

All seine Truppen bezahlten es teuer!

Nun liegen wir an einer ruhigen Front,

Kräfte zu sammeln für das, was noch kommt,

In Ehre halten das Erbe unserer Toten,

Die alles gaben und ihr Leben boten,

Für Deutschlands Freiheit, Zukunft und Sieg:

Für ein gutes Ende von diesem Krieg.

 

Kurz vor Weihnachten erhielt mein Vater noch einmal Heimaturlaub. Weil er ein bisschen bummelte, brauchte er für die Rückreise zehn Tage. Der Kompaniechef meinte, eigentlich gehöre sein Fall vors Kriegsgericht, aber am Ende war es mit ein paar Extradiensten abgetan.

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Starker Beschuss durch Artillerie und Flieger zwang die Einheit zum Stellungswechsel Richtung Turin. Wenige Tage später ergaben sie sich den Amerikanern, die sie entwaffneten und in ein Gefangenenlager bei Brescia überführten. Von dort kamen sie knapp vier Monate später in belgischen Gewahrsam, wurden in Erbisœul bei Mons von Zivilärzten auf Grubentauglichkeit untersucht und anschließend auf die belgischen Zechen verteilt. Mein Vater kam nach Marcinelle bei Charleroi, für zwei volle Jahre.

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Geschuftet wurde in Achtstundenschichten, sechs Tage in der Woche. Jeden Morgen erhielten sie in der Waschkaue Arbeitsanzüge und Arbeitsschuhe, dazu Grubenlampe, Drucklufthammer mit Schlauch, Picke und Beil. Dann fuhren sie mit dem Förderkorb tausend Meter in die Tiefe, wo Grubenpferde die mit Kohlen gefüllten Loren zogen. Der Weg in den Hauptstollen war mit dicken Balken markiert, einige schon gebrochen oder bis zum Bersten zusammengestaucht. Durch ein Loch in der Seitenwand ging es in den Kohleflöz, der von hier aus schräg nach oben bis zur 900-Meter-Sohle führte. Den Arbeitsplatz erreichten sie kriechend.

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Einmal in der Woche durften die Gefangenen schreiben, einen Brief zu 24 Zeilen oder eine Karte zu 7 Zeilen, im wöchentlichen Wechsel und nur an Familienangehörige. Die Post wurde zensiert und war einige Wochen unterwegs. So schrieb er hauptsächlich seinen Eltern. Seine Briefe bildeten einen Begleittext zum Leben hinter dem Drahtverhau, der die Bedrängnisse und Gefahren aussparte und Sorglosigkeit und Frohsinn verkündete. Keine großen Themen, dafür immer wieder das Wetter, das Essen, der Postempfang. Was ihm fehlte, ersetzte er durch Träumerei. Sorglos und frei wollte er künftig leben, am liebsten als Arbeitsvagabund in Mexiko: Arbeiten nur gerade so viel, wie nötig war, um zu überleben. Dann wieder überkam ihn der alte Wunsch nach mehr Wissen und Bildung. Er wollte die Welt bereisen, viel erleben, studieren und forschen. Er kaufte sich Lehrbücher vom YMCA und studierte deutsche Literatur und Weltgeschichte, vom Altertum bis zum Weltkrieg. Er verfasste sogar eine Geschichtstragödie über den Untergang der Germanen, ein dichterisches Gegenstück zur deutschen Niederlage. Schon sah er sich als Privatgelehrten, wollte Latein lernen und sich der Geschichtsforschung widmen. Auf keinen Fall wollte er irgendwo einen kleinen Posten bekleiden, irgendwelchen Vorgesetzten schmeicheln und nach einem Ziel streben.

 

 

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Meine Mutter hatte im letzten Kriegsjahr ihre Berufspraktika absolviert, aber bevor sie mit ihrer Lehrerausbildung beginnen konnte, wurde sie notdienstverpflichtet und kurz vor Kriegsende zur Ausbildung von Luftwaffenhelferinnen in die Lüneburger Heide kommandiert. Da war sie Kameradschaftsführerin, eine Art Spieß für eine Mädchenkompanie, und die zu dirigieren war kein Pappenstiel.

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An Ostern attackierten amerikanische Flugzeuge den Flugplatz, bombardierten die Kasernen, die Rollbahnen und die Wälder in der Umgebung, schossen aus schweren Maschinengewehren auf alles, was sich bewegte. Beim ersten Alarm griffen sich die Mädchen ihre mit Tarnfarben bemalten Koffer und rannten nach draußen zu den Einmannlöchern, die sie vor ein paar Tagen zwischen Ginster- und Wacholdersträuchern für den Notfall ausgehoben hatten, nicht immer tief genug für einen Körper und einen Koffer als Abdeckung. Viele schafften es nicht mehr bis zum Unterschlupf, machten sich krumm unter Büschen und kleinen Bäumchen, laut betend und zitternd vor Todesangst, und am Ende waren dreißig tot und viele hatten Schussverletzungen. Für Tränen und Trauer war keine Zeit; unter Gebrüll und Gejammer und Gestöhn wurden Verwundete versorgt, zerfetzte Körper und Fleischklumpen eingesammelt. Und kurz darauf hieß es, das wars, packt eure Sachen und ab nach Hause.

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Also kam sie heim nach Ludwigslust. Ihr Bruder Hans war da schon über ein halbes Jahr tot, gefallen bei den Kämpfen im Osten, wie es in der Todesanzeige hieß, ihre Schwester machte Dienst im Wehrmachtslazarett in Malchin, und meine Großmutter Charlotte teilte sich ihre schöne große Wohnung mittlerweile mit 16 Flüchtlingen.

Drei Wochen später wurde Ludwigslust von den Amerikanern besetzt, und nach den Amerikanern kamen die Engländer. Meine Großmutter kriegte jedes Mal Einquartierung. Fremde Offiziere saßen im Salon auf dem Biedermeiersofa, rauchten Zigaretten in ihren Biedermeierstühlen, legten ihre bestiefelten Füße auf den Biedermeiertisch, schliefen nebenan im Bett aus dunkler deutscher Eiche, das einst Teil der elterlichen Aussteuer gewesen war. Ein paar Mal wurden sie ganz hinausgeworfen und mussten sehen, dass sie irgendwo provisorisch unterkamen, eine Nacht im Schaufenster der Glaserei Gillmeister.

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Als die Engländer abzogen und die Russen einmarschierten, richteten die sich gleich dauerhaft ein. Die Flüchtlinge waren da schon alle verschwunden. An der Teppichstange im Garten war jetzt eine Kuh angebunden, daneben stand ein Klavier, bis unter den Deckel vollgestopft mit Heu, und in der Gartenscheune bezog ein Dutzend ganz junger Russen Quartier. Auf dem Scheunenboden hatte meine Großmutter vieles gelagert, was sie vor fremdem Zugriff retten wollte, zum Beispiel die guten Bata-Stiefel ihres Sohnes Hans aus Prag, erstklassige Vorkriegsware. Die wollte meine Mutter nun holen, zum Tausch auf dem Schwarzmarkt. Die russischen Burschen alberten mit ihr herum, man kannte sich vom Sehen. Sie grinsten schon, als sie die Bodenleiter hochstieg, denn oben erwartete sie einer und sagte in gebrochenem Deutsch Legdichhin! zu ihr. Was soll das denn heißen? erwiderte sie kaltblütig, was du da sagst, gibt ja gar keinen Sinn. Erkundige dich erst mal, wie das richtig heißt! Und der Bursche war so verblüfft, dass er sie gehen ließ. Unten brabbelten die andern jetzt im Kauderwelsch nach, was ihr Kamerad oben gesagt hatte, Legdichhin! Aber sie ließ sich nicht beirren und kam mit heiler Haut davon.

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Davon abgesehen, hatten sie mit ihrer russischen Einquartierung meistens Glück. Da war zum Beispiel ein höflicher Major der Roten Armee namens Bromberg, im Zivilberuf Opernsänger, der ausgezeichnet Deutsch sprach, aber leider schon bald an Syphilis verstarb. Und unten bei Frau Bade wohnte ein Leutnant namens Wadim Petrowitsch Andreanow. Er war zwei Jahre älter als meine Mutter, radebrechte ein bisschen Deutsch und war bei meiner Großmutter gern gesehen, denn er teilte sein Essen mit ihnen, und wenn etwas übrig blieb, durften sie es behalten. Eines Abends brachte er einen Hasen mit, den er im Schlossgarten geschossen hatte, ein andermal ein Eichhörnchen. Zu dritt saßen sie im einzigen Zimmer, das ihnen noch verblieben war, denn Wadim wollte gern sein Deutsch verbessern, und manchmal nahm er meine Mutter zum Erzählen einfach auf den Schoß.

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Als sich Brombergs Nachfolger eines Abends stockbetrunken ins Schlafzimmer verirrte, die Frauen als Faschisten beschimpfte und meine Mutter bedrängte, kam Wadim gleich zu Hilfe, packte den Betrunkenen und schmiss ihn fluchend auf sein eigenes Bett. So wurde er zu ihrem Freund und Beschützer.

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Eines Tages fragte Wadim meine Großmutter, ob er mit meiner Mutter am Wochenende eine Wanderung über Land machen dürfe. Sie durften. Ob sie auch am Lagerfeuer übernachten dürften. Sie durften. Vor Freude hob er meine Mutter so kräftig hoch, dass sie mit dem Kopf an die Holzborte über der Küchentür stieß und die Töpfe schepperten.

Die Wanderung war schön, einmalig schön, auch wenn Leute auf dem Feld meine Mutter als Russenliebchen beschimpften und ihr wütend mit der Faust drohten. Lisengka sagte er zu ihr und Lisotschka und gab ihr reichlich Küsse und trug sie auf seinen Armen durch einen Bach, und abends briet er ein Rebhuhn am Spieß.

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Als Wadims Zeit in Ludwigslust zuende ging, sagte meine Mutter, dass sie gern mitkommen wollte nach Russland, aber als sie sich bei der Kommandantur erkundigte, hieß es, dass es nicht möglich sei. Meine Großmutter weinte beim Abschied, weil sie wieder einmal einen lieben Menschen verlor, und meine Mutter begleitete Wadim noch zur Kanalbrücke und dann auch noch die Kanalstraße hinunter Richtung Bahnhof. Sie durfte sein Gewehr tragen, und es war ihr ganz egal, was die Leute von ihr dachten.

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Ein halbes Jahr nach Kriegsende nahm meine Mutter an einem Ausbildungsseminar für Junglehrer teil. Gleich danach kam sie an die Mittelschule in Ludwigslust, wo sie eine 6. Klasse übernahm, und ein weiteres Jahr später wurde sie zu einem Jahreslehrgang zur Ausbildung russischer Sprachlehrer nach Schwerin delegiert. Dort suchte sie sich ein Zimmer, lernte fleißig und fuhr nur einmal im Monat nach Hause.

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Einmal war sie mit ihrer Freundin Lotti Teichert auf dem Nachhauseweg von einem Klassenfest. Es war später Abend, die Straßen stockfinster, als plötzlich ein Viertürer langsam an ihnen vorbeifuhr, aus dem Innern Männerstimmen in gebrochenem Deutsch, Fräulein, bitte, saggensie, kommensie, bitte, wollensie? Daraufhin beschleunigten beide ihren Schritt, aber der Wagen blieb auf ihrer Höhe. Inzwischen liefen sie beinahe schon, aber da fuhr das Auto vor ihnen auf den Bürgersteig und verstellte ihnen den Weg, eine Tür wurde aufgerissen, ein Mann packte meine Mutter mit der einen Hand am Arm und mit der andern im Nacken, woraufhin sie ihren Hut verlor, Bitte Fräulein, aber meine Mutter wehrte sich mit aller Kraft und fing laut an zu schreien, schto ty chotschesch, tschort wózmi, schto ty chotschesch. Gegenüber in einem Haus ging ein Licht an, sie konnte sich wieder frei machen, der Schwung ihrer Gegenwehr riss sie zu Boden, sie rappelte sich wieder auf, eine Autotür wurde zugeworfen, das Auto brauste davon. Allein dafür hatte sich der Russischkurs schon gelohnt.

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Ein halbes Jahr später kam mein Vater nach Ludwigslust, mit einem Seesack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, und 40 Reichsmark Entlassungsgeld, das man ihm in Munster-Lager auf die Hand gezählt hatte. Die ersten drei Wochen verbrachte er in Quarantäne, täglich eingepudert mit Desinfektionsmitteln aus riesigen Spritzen. Danach zog er bei seinen Eltern ein. Gemeinsam lebten sie von Kartoffeln und Molke und dem, was man auf Lebensmittelmarken zugeteilt bekam. Für sein Zeugnis als Konditorgehilfe konnte er sich in Ludwigslust und Umgebung nichts kaufen. Noch am ersten Abend schrieb er ein Liebesgedicht für meine Mutter und brachte es ihr:

 

Willst Du für immer mein eigen sein?

Nur Liebe brauch ich und Dich allein.

Wirst Du mir folgen, wenn alles wankt?

Bleibst Du mir gut, wenn die Welt auch schwankt?

Hat auch das Schicksal uns Güter verwehrt,

Gott hat den Liebenden Liebe beschert.

 

 

So oft es ging, besuchte er sie in Schwerin, um sie mit Kartoffeln und Feuerholz zu versorgen und machte ihr nebenbei den Hof. Geduldig ertrug er alle ihre Launen und fand sich damit ab, dass sie ihn vorläufig auf Distanz hielt.

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An einem Sonntag im Café Bartels sagte sie ihm, wie sie sich die gemeinsame Zukunft vorstellte. Und so wurde es dann auch gemacht: Mein Vater fing als Rangierarbeiter am Bahnhof Ludwigslust an, wo es zusätzlich zum Lohn auch noch Kohle und Verpflegung gab, und meine Mutter lernte weiter Russisch in Schwerin. Die Abschlussprüfung bestand sie mit Gut. Danach feierten sie Verlobung, und im Sommer wurde geheiratet.

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Die Verwandtschaft war überrascht, und zwar auf beiden Seiten. Die Freundinnen meiner Mutter wunderten sich, weil sie gewiss eine bessere Partie hätte machen können, und mein Onkel konnte es kaum fassen, dass sein Bruder, der Volksschüler, von der Frau Direktor die Zustimmung zur Heirat bekommen hatte, und fragte ihn, wie war das denn möglich? – Die Briketts von der Eisenbahn, gab mein Vater zur Antwort.

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Ein Problem in der jungen Ehe gab es aber doch, und es half auch nichts, dass ihre Schwester, seit zwei Jahren glücklich verheiratet, mit ihr besänftigend darüber sprach. Schon vor der Hochzeitsnacht hatte sie an beiden Oberschenkeln eine Gürtelrose. Da musste mein Vater die Püsterollsch zum Püstern holen:

 

Rose, du riten Ding

Du spitern Ding

Wo wilst du hen

Ick will di häken

Ick will di stäken

Ick will di killen

Du sast nich swillen

Sast stille stahn

Un nich wire gahn

Im Namen des Vaters des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen.

 

Die Rose verschwand tatsächlich, aber das lag vielleicht auch am Dermatol aus der Apotheke.

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Nach einem Jahr bei der Reichsbahn hatte es mein Vater bis zum Rangierleiter gebracht. Aber als es hieß, jetzt müsse er zwei Jahre auf einen Lehrgang nach Schwerin, kniff er und war daraufhin ein halbes Jahr lang arbeitslos. Inzwischen war meine Mutter schwanger, im Sommer wurde ihr Sohn geboren.

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Anderthalb Jahre lang ließ sich mein Vater zum Steinmetz umschulen; die Kosten für das dafür notwendige Werkzeug übernahm der Onkel meiner Mutter in Westberlin. Danach rutschte er wieder in die Arbeitslosigkeit. Dass er seine Frau die Mühen des Gelderwerbs nun allein tragen ließ, erregte allgemein Anstoß. Einige Leute ließen ihn das auch merken, und er begann sich unwohl in Ludwigslust zu fühlen. Da kam ihm der Zufall zu Hilfe.

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Nach 1933 hatte mein Großvater Berthold in seinem Betrieb ein kleines Parteiamt innegehabt und war deswegen nach dem Krieg entlassen worden. Da war er 58 Jahre alt. Seitdem schlug er sich freiberuflich als Steuerberater durch. Eines Tages wurde er wegen Unterschlagung verhaftet und verurteilt. Seine Strafe saß er in Grabow im Gefängnis ab. Jeden Mittag konnte man meine Großmutter Hedwig mit einem Kochgeschirr zum Bahnhof gehen sehen, ganz verstohlen, damit man sie nicht ansprach. Jetzt hatten sie beide einen Straftäter in der Familie. Für eine Lehrerin in einer kleinen Stadt ein untragbarer Zustand. Das sah meine Mutter ein. Da war es besser, sich irgendwo anders auf eine Stelle zu bewerben.

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So kam es, dass sie als Schulleiterin die Zubringerschule in Groß-Schmölen übernahm, ein Dorf dicht an der Elbe und damit auch dicht an der Zonengrenze, in der Sperrzone.

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Vor der Tür zum Klassenzimmer brachte meine Mutter wie gewünscht ein Stalin-Porträt an, und darunter ein handgemaltes Plakat mit der Devise Lernen. Ohne Ausrufezeichen, aber dafür dreimal hintereinander. Die Kinder stellten sich auf dem Flur auf, und wenn sie in die Klasse gingen, mussten sie daran vorbei. Meine Mutter hatte es aber absteigend statt aufsteigend gemalt.

 

 

 

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Das sah nach Niedergang aus statt nach Fortschritt, rief die Pionierorganisation auf den Plan und musste unverzüglich korrigiert werden.

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Mein Vater spielte in Groß-Schmölen den Schulwart, schmiss den Haushalt und kümmerte sich um meinen Bruder. Als in der Schule im Nachbardorf Not am Mann war, versuchte er sich dort als Hilfslehrer für Geschichte, zur Überbrückung, bis der richtige Lehrer kam. Es war Spätherbst, als er mit dem Fahrrad jeden Morgen nach Polz fuhr, dürftig bekleidet mit dem schwarz gefärbten Luftwaffenmantel meiner Mutter. Er wäre gern Lehrer geworden, aber mit seinem Volksschulabschluss wollten sie ihn nicht haben. Bei der Volkspolizei hätten sie ihn sofort genommen, aber das wollte er wieder nicht.

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Kurz vor Weihnachten flohen sie nach Westberlin. Nachher auf der Flüchtlingsmeldestelle gab mein Vater als Grund die bevorstehende Zwangsumsiedlung in den Norden, nach Güstrow, an. Der Parteisekretär der LPG habe gegenüber einer Bekannten bei der SED-Ortsleitung eine Andeutung gemacht, und die habe es ihm weitergesagt: Sie würden nicht mehr lange hier sein, wegen politischer Unzuverlässigkeit.

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Genauso gut hätte er behaupten können, dass ihm ein Engel im Traum erschienen sei, der ihm zur Flucht geraten habe. Es drohte keine Zwangsumsiedlung. Er wollte weg, in den Goldenen Westen, das war alles. Sein Arbeitsbuch sollte ihm da behilflich sein, er hatte es mit allerlei freien Erfindungen erheblich aufgewertet. Neben seiner Berufsausbildung als Konditor war da auch eine anschließende Beschäftigung als kaufmännischer Lehrling in Hamburg vermerkt, mit parallelem Besuch der Handelsschule und Abschluss der Mittleren Reife, und die Tätigkeit als Rangierer verlängerte er kurzerhand von einem auf drei Jahre.

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Es war der Tag nach Stalins Geburtstag. Am Abend vorher hatte bei Gastwirt Schulz die Weihnachtsfeier stattgefunden, mit großem Programm, für dessen kulturellen Teil meine Mutter verantwortlich war. Es gab Ansprachen vom Parteisekretär des Ortes und vom Parteisekretär der LPG, und als die Kinder mit Fahnen und Girlanden in den Saal einmarschierten, lief auf dem Grammophon Einzug der Gäste aus Tannhäuser. Zum Schluss wurde ringsum Fröhliche Weihnachten gewünscht, und dann gingen alle nach Hause.

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Gleich am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg, mit nicht mehr als einem Fahrrad und zwei Koffern und dem Federbettchen meines Bruders, das zu einer dünnen Rolle gewickelt war. Als sie kurz hinter dem Dorf ein Fußgänger ansprach, blieb ihnen fast das Herz stehen. Er wollte aber nur wissen, ob es jetzt in den Weihnachtsurlaub ginge, und als sie antworteten, wir fahren zur Oma nach Ludwigslust, wünschte er ihnen eine gute Reise und schöne Feiertage.

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Bei Schneeregen gingen sie die sechs Kilometer bis zum Bahnhof in Dömitz, fuhren mit dem Achtuhr-Zug nach Ludwigslust und gleich weiter nach Berlin, wo sie bei der ersten Gelegenheit in die Ringbahn umstiegen, mit der man unterwegs die Station Papestraße passierte, die im Westen lag. Da stiegen sie aus, schauten nicht rechts und nicht links, sondern steuerten auf den Bahnhofskiosk zu. Und als sie sich davon überzeugt hatten, dass dort Bananen und Westschokolade angeboten wurden, blieben sie erst einmal stehen und atmeten tief durch. Geschafft. Seitdem waren sie im Westen. Mein Vater war dreißig Jahre alt, meine Mutter siebenundzwanzig, und mein Bruder zweieinhalb.

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In Berlin kamen sie in eine ehemalige Fabrik, die als Auffanglager diente. Es war Heiligabend, 800 Personen in einer Halle und nur eine Toilette. Vier Wochen dauerte das Aufnahmeverfahren. Die gewünschte Zuweisung nach Hamburg, wo der Onkel meines Vaters mit seiner Familie lebte, erhielten sie nicht; das Angebot lautete auf Rheinland-Pfalz. Vom Flughafen Tempelhof wurden sie nach Frankfurt ausgeflogen, kamen ins Lager Osthofen, dann in ein Umsiedlerlager in Landau. Nach zwei Wochen erklärte sich eine Weinbauernfamilie in Leinsweiler bereit, sie aufzunehmen. Die Miete wurde vom Sozialamt übernommen.

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Es war ein enges Tal, in das sie auf einem offenen Lastwagen gefahren wurden. Entlang einer einzigen Straße standen sich zwei Reihen Häuser gegenüber. Meine Eltern waren die flache Weite Mecklenburgs gewohnt; hier war alles so eng. Fast am Ortsausgang, vor einer Seitengasse, die einen Hang herablief, wurden sie abgeladen, zusammen mit einer Möbelspende der Stadt Landau: zwei Eisenbetten samt Matratzen, drei karierten Baumwolldecken und einem Tisch mit zwei Stühlen. Dazu kamen noch ihre eigenen Habseligkeiten sowie eine Tagesration an Proviant aus dem Flüchtlingslager. Am Körper trugen sie an Kleidung so gut wie alles, was sie besaßen, denn der Ankunftstag im Februar war kalt.

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Die Bäuerin empfing sie und führte sie durch ein großes Hoftor zu einem Neubau. Ein paar Stufen hoch war die Haustür, dahinter ein kleiner Flur. Links wohnte eine andere Flüchtlingsfamilie, rechts war ihre Wohnung, ein kleiner Raum mit Kanonenofen und Fenster zum Hof und einer Küche mit einem Herd und einem Spülbecken. Eine schmale Treppe höher durften sie noch ein kleines Zimmer bewohnen. Vom Dachboden wurden ein Kinderbett, ein Stühlchen mit Tisch und ein gut erhaltenes Dreirad geholt. Wein- und Obstkisten ersetzten ihnen vorläufig Schrank, Sitzplatz, Ablage und Regal.

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Zweimal in der Woche fuhr mein Vater nach Landau, um nach Arbeit nachzufragen. Im Frühjahr war er für vier Wochen Brotbäcker im Café Herzog in Bad Bergzabern, im Herbst stellte ihn ein Tiefbauunternehmer für den Straßenbau Richtung Ilbesheim ein. Schon nach einer Woche warf er das Handtuch. Wieder fuhr er zweimal die Woche nach Landau und ließ seine Arbeitslosenkarte abstempeln.

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Im Frühjahr wurde ihm Arbeit auf Neukastel angeboten, Ruheplatz und kleine Gastwirtschaft für Wanderer und Ausflügler im Haardter Wald. Wenn es in der Küche nichts mehr zu tun gab, sollte er sich in Park und Garten beschäftigen, aber das ging gegen seine Ehre, und weg war er. Mehr und mehr nahmen die Leute im Dorf Anstoß daran, dass er zum Lebensunterhalt nicht in der Weise beitrug, wie es sich für einen Familienvater gehörte. In der Kirche sah man ihn auch nie. Erneut begann er, sich unwohl zu fühlen.

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Er wich nach Tübingen aus, Gaststätte Neckarmüller, von den Angestellten Nervenmühle genannt. Etwas mehr als vier Wochen hielt er es aus. Dann kam ein Angebot für die Sommersaison im neuen Kurhaus in Freudenstadt. Er staunte selbst, wie bedenkenlos er eingestellt wurde, ohne lückenlose Zeugnisabschriften. Dafür war auch nach vier Monaten Schluss. Immerhin machte man ihm Hoffnung auf Wiederbeschäftigung im nächsten Jahr.

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Im Oktober eine Woche im Hotel Leinsweiler Hof. Gekündigt, weil er sich mit dem Juniorchef nicht verstand. In der Adventszeit Koch und Bäcker in der Kaufhalle in Landau. Danach wieder arbeitslos. Weil er sich langweilte, fing er an, Geschichten zu schreiben, die er an Zeitungen schickte: Neukastel, die vergessene Burg, Die Macht des Geldes, schließlich Der grüne Stein, eine Abenteuergeschichte für einen Wettbewerb der HörZu. Meine Mutter schrieb alles sauber ab und korrigierte die Rechtschreibung. Als im Frühjahr die Leiterin der Poststelle in den Ruhestand ging, bewarb sie sich um die Nachfolge und legte im Mai ihr Dienstgelöbnis ab. Da war sie schon im 4. Monat schwanger und mein Vater wieder im Kurhaus in Freudenstadt. Im Dorf wurde gemunkelt, er habe dort eine Freundin.

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Manchmal kam mein Vater für einen Tag oder zwei zu Besuch, unter der Woche, wenn im Kurhaus weniger Betrieb war, und mein Bruder freute sich, wenn er da war und ihn auf den Schoß nahm und ihm eine Geschichte erzählte. Einmal erzählte er ihm, es wird nun nicht mehr lange dauern, dann bringt uns der Klapperstorch ein Schwesterchen. Er weiß es genau, er hat den Klapperstorch nämlich besucht, hinter den Bergen an den großen Weiher, wo all die Babys in ihrem Körbchen auf dem Wasser schwimmen. Der Klapperstorch hat es ihm an der Hand vorgezählt, und es waren dreimal so viele Tage wie an einer Hand Finger sind.

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Die Wehen setzten am Spätnachmittag ein. Es war Haupterntezeit und die Erwachsenen alle bei der Weinlese beschäftigt. Telefon gab es im Haus nicht. Als die Nachbarstochter aus der Kleiderfabrik nach Hause kam, schickte ihre Mutter sie gleich in die Weinberge, um Bescheid zu sagen, dass die Hebamme aus Annweiler geholt werden musste. Es war schon dunkel, als endlich ein altes Motorrad auf den Hof geknattert kam. Die Hebamme schaffte es aber nicht alleine, die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Kindes gewickelt, Dr. Burkhardt aus Göcklingen musste kommen.

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In dieser Nacht schlief mein Bruder bei den Nachbarn, im Zimmer gegenüber hörten sie meine Mutter schreien. Am frühen Morgen kam Dr. Burkhardt zu ihnen und sagte, Alles in Ordnung, dem Bub gehts gut. Da wussten sie, dass es ein Junge war.

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Mein Vater kam erst Tage später, mit Sonderurlaub vom Kurdirektor. Und kaum war er da, war er auch schon wieder weg, und Heiligabend schickte er eine Ansichtskarte aus Alpirsbach, und Maria ließ auch grüßen. Weil er sich in Freudenstadt mittlerweile für unverzichtbar hielt, glaubte er, es sei der richtige Zeitpunkt, um eine Lohnerhöhung zu fordern; als der Kurdirektor ablehnte, reagierte er mit Kündigung. Doch an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Café-Restaurant Johannisberg in Bad Nauheim, wurde er nicht glücklich; länger als sechs Wochen hielt er es dort nicht aus. Zerknirscht kehrte er zu den alten Bedingungen ins Kurhaus zurück, und im Sommer zog die Familie nach Freudenstadt.

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Dampfschiff Radames
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„Abgeschlossen ist, was erzählt wird.“

Anna Seghers
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