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Dominique oder Das Kartell der Skrupellosen Ein Wissenschafts-Roman

 

 

Vorgeschichte

 

Champ du Feu (Elsass), 19. November 1788

 

JUKV3XTX6WJ7BS7VSXHRWA00000000000 Ein dünner Faden Blut rann aus seinem Mund das Kinn entlang. Vor seinen halbgeschlossenen Augen tauchte ein seltsames Bild auf: Es sah sich selbst. Es sah sich zu, von irgendwo weiter oben und mit einer seltsamen Gelassenheit, wie es die Beine anzog und seinen Körper mit einer mühsamen Drehung von der Rücken- in die Seitenlage brachte, sah, wie es da eine Weile kauerte, schmerzgekrümmt, sah, wie es sich dann nach vorn fallen ließ, so dass die Luft pfeifend aus seiner Brust entwich.


XTB1J2RLBLX7XK7635RW17XHRKRF000000000 Auf allen Vieren kroch es stöhnend weiter, dorthin, wo in der Dunkelheit ein Lichtpunkt glomm. Sein letzter Auftrag war die Selbstzerstörung. Es war keine Strafe, es war eine Regel, und sie besagte: Wir hinterlassen keine Spuren.


Das Herz sprang ihm in den Hals, Schwäche kam über seine Knie und ein blutiger Nebel schob sich vor seine Augen. Ihm war, als würden Flammen auf seiner Stirn tanzen.


VTUGF4R4GZYCGXG4XUGCLYLSZYP7B34WSVGPST31RR271RG4X1V2SGTRJULZ6W0000000000000000000000 Dann erlosch mit einem Mal alles Licht. Es hatte aufgehört zu leben.

 

Waldersbach (Elsass), 21. November 1788

 

Ein hochrädriger Ochsenkarren hielt unter dem Kastanienbaum, dessen ausladende Krone im Sommer das kleine Pfarrhaus überwölbte. Der Lenker, ein Bauer namens René Regenass aus dem benachbarten Belmont, der regelmäßig Hand- und Spanndienste für die Pfarrei verrichtete, zog die Feststellbremse und stieg vom Kutschbock. Mit zwei kräftigen Fausthieben löste er die Verriegelungen und zog einen grob gezimmerten Fichtensarg von seinem Karren.


Im gleichen Augenblick trat eine hochgewachsene Gestalt aus der Haustür. Ein Paar blauer Augen sprang aus seinem ernsten Gesicht heraus wie zwei Vogesenseen aus nächtlichem Nebel. Es war Johann Friedrich Oberlin, der Pastor des Steintals, ein Mann von festen Prinzipien und tadellosem Charakter. Sein silbergraues Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, trug er nach hinten gekämmt, was seinem Gesicht einen Anflug von Strenge verlieh.


„So warte doch, René“, rief er dem Bauern zu. „Ein jeder Mensch soll den Ort seiner letzten Bestimmung mit der gebotenen Würde erreichen. Ich werde Joseph Bescheid geben, dass er Dir hilft.“ Joseph Conseurant versah in der Gemeinde den Dienst des Küsters und Totengräbers.

René schüttelte den Kopf. „Der Herrgott wird das arme Wurm nicht darum ansehen, ob es stehend oder liegend zur ewigen Ruhe getragen wird.“


Mit diesen Worten schob er den Sarg auf die rechte Schulter, brachte ihn mit zwei kurzen Bewegungen in die richtige Position und ging mit gleichgültiger Miene an Oberlin vorbei den schmalen, zu beiden Seiten von Trockenmauern eingefassten Weg hinauf, der durch einen kleinen Fichtenwald zum Kirchhof führte.


„Meister Scheppler mag einen Kindersarg gezimmert haben“, rief ihm Oberlin hinterher, „aber heute Nachmittag beerdigen wir einen Bruder in Christo!“


Und murmelnd fügte er hinzu: „Auch wenn er ohne Sterbesakramente zu Gott eingegangen ist.“

Zwei Stunden später standen drei Männer am frisch ausgehobenen Grab: Pastor Oberlin, jetzt in seinem dunkelgrauen Amtskleid mit der weißen Halsbinde, René und Joseph.


Schlechtes Wetter war aus Nordwesten aufgezogen. Ein feiner Regen, der immer dichter wurde, hüllte den Kirchhofhügel in einen grauen Schleier. Eine Schaufel und ein Spaten lehnten an dem Aushub, davor lagen die beiden Seile, mit denen der Bauer und der Totengräber den Sarg in die Grube gesenkt hatten und die soeben schnurrend unter dem Sarg weg- und wieder heraufgeschnellt waren.


Oberlin las aus einem Buch, das er dicht vor die Augen hielt.


„Großer Gott im Himmel, barmherziger Vater! Dank für unsern lieben roten Bruder aus der Luft, den Du uns gegeben hast, mit seiner Freude und seinem Leid. Halte uns nun in unserem Leid fest bei Dir; erinnere uns daran, dass Du durch Tod und Auferstehung Deines Sohnes unsere Schmerzen getragen und uns zu einer lebendigen Hoffnung erneuert hast. In diesem Glauben übergeben wir Leib und Seele dieses Fremden in Deine Hände und bitten Dich: Bewahre ihn für eine fröhliche Auferstehung am Jüngsten Tag. Sende uns Deine Hilfe, damit der Verlust gelindert werden kann. Stärke uns in der Hoffnung auf Dein kommendes Reich, wo Du alle Deine Kinder heim zu Dir führst, damit sie Dich preisen und Dir danken in Ewigkeit.“


Nachdem Oberlin die rituelle Aussegnung mit dem Amen beendet und über dem Grab dreimal das Kreuz gezeichnet hatte, schloss er sein Buch und blickte noch einige Sekunden lang stumm in das offene Grab, wo der Sarg ein wenig schräg in der notdürftigen Grube stand, weil Joseph wegen des schlechten Wetters recht eilig zu Werke gegangen war. Dann nahm er einen Klumpen nasser Erde entgegen, den dieser ihm auf dem Spatenblatt reichte, und ließ ihn in die Tiefe fallen, wo er mit einem dumpfen Schollern zerplatzte. Wieder verharrte er einige Sekunden, ehe er, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, den Weg zum Pfarrhaus hinabging. René folgte ihm, schwankend, weil der Regen den lehmigen Boden an der Oberfläche erweicht und das Gehen unsicher gemacht hatte. Eine Windbö hob Oberlins schweres nasses Habit in die Höhe, und für einen Augenblick konnte der Bauer sehen, dass die dunkelbraune Hose des Pastors mit rosa Wolle gestopft war.


Joseph, ein trockner Charakter mit etwas verzogenen, durch die Anpassung an seinen Beruf eigentümlich entleerten Gesichtszügen, wie es sich vielleicht mit Notwendigkeit entwickeln muss, wo ein solcher Beruf vom Vater auf den Sohn vererbt wird, blickte den beiden nach, bis sie hinter der letzten Wegbiegung verschwunden waren. Mit hängenden Schultern lauschte er dem Tritt ihrer Schuhe nach, bis alles überdeckt wurde vom gleichmäßigen Rauschen des Regens und dem Gezwitscher der Vögel. Dann nahm er die Schaufel und setzte sie am Fuß des kegelförmigen Erdhaufens an. Schon nach wenigen Stößen hielt er inne. Sorgfältig blickte er sich nach allen Seiten um. Aber er war allein. Er bückte sich und zog eine hölzerne Klappleiter unter dem Aushub hervor.


„Es ist eine Sünde“, stieß er zwischen den Zähnen hervor, während er sich die Erde von den Handflächen rieb, „aber sie ist klein, so klein wie das da unten. Ich habe schon größere Sünden wider den Heiligen Geist begangen. Das da ist tot, und ich lebe.“


Er nahm die Leiter in die eine, den Spaten in die andere Hand und trat an den Rand der Grube. Schon morgen würde sein Schwippschwager in Straßburg einen frischen Leichnam bekommen. Und er würde um zehn Francs reicher sein.


„Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!“

 

 
 
 

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