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- Jan-Christoph Hauschild

- vor 3 Tagen
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Sie trafen sich am nächsten Tag um viertel nach Elf auf dem Bahnhof; die Wartezeit verbrachten sie gegenüber in der Filiale einer Boulangerie-Kette. Als sie in den Zug stiegen, hellte der Himmel sich auf, und als der Zug die Ebene mit den Stationen Elzheim, Molsheim, Mutzig und Gresswiller hinter sich gelassen hatte, strahlte er in leuchtendem Blau.
Der Bahnhof von Fouday sah ausgesprochen niedlich aus, wie bei einer Spielzeugeisenbahn. An diesem Haltepunkt war die Strecke eingleisig. Es gab ein Wartehäuschen, aber nicht einmal einen Fahrkartenautomaten. Nur die gefüllten Vogelfutterautomaten in der Platane vor dem Bahnhofsgebäude verrieten, dass das Haus bewohnt war.
Sie folgten dem Schild „chemin de Waldersbach“, das sie oberhalb an einer Kirche vorbeiführte und im Zickzack auf einen Hügel leitete, wo die schmale, anfangs noch auf beiden Seiten mit Häusern bestandene Straße in einen Macadam-Fußweg überging. Bald umfing sie dichter Eichen-und Buchenwald, vereinzelt mit Fichten durchsetzt, dazwischen kräftige alte Haselnusssträucher.
Über einen zur Hügelseite hin mit großen Quadern befestigten Wiesenweg erreichten sie die ersten Gebäude des Dorfes, Wohnstallhäuser mit tief herabgezogenen Schindeldächern und sorgfältig behauenen Tür- und Fensterrahmen aus rotem Sandstein, einige davon mit einem Zinkblechmantel vor der Fassade. Auf einem Hügel stand die kleine, weiß verputzte Kirche mit dem Wetterhahn auf dem Schindeldach, daneben ein riesiger, uralter Lindenbaum. Hinter einem hohen Torbogen lag das Pfarrhaus, aus dessen Kamin gemächlich Rauch in den klaren Himmel stieg, und aus dem Brunnen vor der Hofeinfahrt plätscherte kristallklares Wasser in den bemoosten Sandsteintrog. Sie kamen sich vor wie Zeitreisende, die in einer fernen Vergangenheit angekommen waren. Andächtig blieben sie eine Weile in einiger Entfernung stehen und betrachteten die Idylle, ehe sie an der liebevoll gearbeiteten Tür des Pfarrhauses klingelten.
Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit kurzgeschnittenem, verblichenem blondem Haar und verblichenen blauen Augen unter steifen weißen Augenbrauen öffnete. Er musterte sie gründlich, dann sagte er: „Das Museum ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen.“
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kim und neigte den Kopf zur Seite, „wir wussten gar nicht, dass es hier ein Museum gibt.“
Alexander gab sich alle Mühe, ein freundliches Lächeln aufzusetzen. „Wir haben eine Frage zu den Kirchenbüchern.“
Über die Stirn des Mannes lief eine lange Falte. „Sie sind Familienforscher?“
„Oh nein“, erwiderte Alexander. „Ich bin Naturwissenschaftler.“
„Und Sie haben, wie man hört, eine weite Reise hinter sich. Woher kommen Sie? Aus England?“
„Aus Washington, USA. Aber meine Frau ist eine halbe Französin aus Paris.“
„Ich bin Benjamin Schweighaeuser, der Pastor dieser Gemeinde, und von Belmont und Bellefosse ebenfalls. Was kann ich für Sie tun?“
„Wir interessieren uns für einen bestimmten Sterbefall aus dem Jahr 1788. Wir wollten in den Kirchenbüchern nachsehen, ob es dort Informationen gibt.“
„Das ist sehr gut möglich. In dieser Zeit war Jean-Frédéric Oberlin hier Pastor, und er –“
Alexander schlug sich an die Stirn. „Daher kenne ich Waldersbach!“
„– und er hat die Register mustergültig geführt.“
„Du kennst den ehemaligen Pfarrer von Waldersbach?“, wunderte sich Kim.
„Nein, das wäre zu viel gesagt“, sagte Alexander und blickte erst Kim, dann den Pastor an. „Aber ich hatte einen lieben Kollegen in Bloomington, der kam aus Ohio und hatte am berühmten Oberlin College studiert. Er hat mir ein bisschen über diesen Mann erzählt. Er muss ein großer Menschenfreund gewesen sein. Und auch Wohltäter für die Menschen in dieser Gegend.“
„Das kann man sagen“, bestätigte Schweighaeuser. „Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass er die Zivilisation ins Steintal gebracht und die Leute aus ihrer Lethargie geholt hat. In Eigenregie wurden Sümpfe trockengelegt, Felsen gesprengt, Brücke und Straßen gebaut, Äcker und Wiesen neu angelegt, und Oberlin immer mittendrin mit Pickel und Spaten, als Seelsorger, Arzt und Handwerker in einer Person. Bis dahin war das Steintal eines der rückständigsten Gebiete in Frankreich gewesen. Man nannte es elsässisch Sibirien.“
„By the way“, warf Alexander ein, „wissen Sie vielleicht, ob es damals im Steintal Sitte war, den Säuglingen den Kopf zu bandagieren?“
Schweighaeuser sah ihn irritiert an. „Sie meinen als Schutz, damit sie sich nicht verletzen?“
„Nein, nicht als Schutz. Um das Wachstum des Kopfes zu beeinflussen. Er dehnt sich dann nach oben aus. Er wird länger.“
Schweighaeuser griff sich an den Kopf. „So wie meiner? Meine Mutter meinte immer, ich hätte einen richtigen Eierkopf, aber es sei nicht ihre Schuld gewesen.“
„In der Frühgeschichte der Menschheit war es sehr beliebt, die Form des Schädels zu manipulieren“, erklärte Alexander. „Man nimmt an, es diente zur Unterscheidung einer bestimmten privilegierten Gruppe oder Kaste.“
Der Pastor schüttelte den Kopf. „Das wäre hier fehl am Platze gewesen. Hier gab es nur ein paar armselige Kleinbauern und Handwerker, Tagelöhner und Waldarbeiter, alle mehr oder weniger arm. Wie kommen Sie darauf, dass hier so etwas praktiziert worden sein könnte?“
„Es war nur eine Vermutung“, sagte Alexander ausweichend.
„Wir haben im Museum in Straßburg eine Zeichnung gesehen“, kam ihm Kim zu Hilfe. „Das hat uns auf die Idee gebracht.“
„Davon habe ich noch nie gehört. Aber ich bin auch kein Volkskundler. Experten für dieses Thema finden Sie sicher in Straßburg. Nach Waldersbach kommen die Leute wegen Oberlin. Manche klingeln bei mir und fragen Dinge, die sie ebenso gut irgendwo nachlesen können. Und ganz Hartnäckige gibt es, die wollen mit mir diskutieren. Hier an der Haustür. Zurzeit ist das große Thema, wenn ich so sagen darf, Oberlins sogenanntes Geheimwissen.“
„Er hatte auch eine dunkle Seite?“ fragte Kim, die froh war, dass Schweighaeuser wieder zu einem eigenen Thema zurückgefunden hatte.
„Mit Okkultismus hatte es nichts zu tun“, erwiderte der Pastor. „Was da geschrieben wird, ist alles aufgebauschter Unsinn. Immerhin, es ist kein Geheimnis, nach dem Tod seiner Frau glaubte er über die Gabe des Geistersehens zu verfügen. Aber mit Spuk im üblichen Sinn hat das nichts zu tun. Es war nur eine weitere Facette seiner Frömmigkeit. Er glaubte, auf diese Weise Zeichen und Botschaften Gottes zu empfangen. Glaube entsteht ja nicht aus dem Wiederkäuen dogmatischer Lehren, sondern an der Schwelle zum Unausdenkbaren. Aber zugleich, und das ist viel bedeutsamer, war er ein Aufklärer, geradezu besessen von den Idealen der Vernünftigkeit und Nützlichkeit. Schulen hat er auch gegründet, und sie wurden sogar besucht. Es gab ja noch keine Schulpflicht in Frankreich. Die Kleinkinderschulen sind ebenfalls seine Erfindung.“

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