Am Sonntagnachmittag lässt sich Adenauer von Scharoun hinunter zum Rhein fahren; um 18 Uhr soll er ihn an gleicher Stelle, vor dem Hotel Bellevue, wieder abholen. Er hat lange überlegt, was die passende Kleidung für seinen Angelausflug wäre, und sich dann für einen seiner ältesten Anzüge, den er nur noch bei der Gartenarbeit trägt, und den hellgrauen Staubmantel entschieden. Aus seiner abgeschabten Aktentasche ragt die zerlegte Angelrute, die er gestern in Bonn gekauft hat. „Ein Anfängermodell“, hat ihm der Verkäufer erklärt, „genau das Richtige. Damit können Sie sofort loslegen.“
Hoffentlich sind die beiden Jungen von neulich heute hier. Ohne die bin ich aufgeschmissen.
Den Strohhut aus Cadenabbia tief ins Gesicht gezogen, stapft er durch den Biergarten des Hotels, wo im Laubschatten alter Kastanienbäume Kaffeegäste an Metalltischen sitzen. Gut, dass sie einem alten Mann keine Beachtung schenken.
Am Treppenabgang bleibt Adenauer einen Moment stehen. Das ist also die Welt der Angler, die Scharoun so gepriesen hat. Unter dem sanft blauen Himmel glänzt der Fluss wie mattes Silber. Dicht hintereinander schieben sich vor dem Rodderberg drei Schiffe den Rhein hinauf, Schüttgutkähne im Konvoi, schwerbeladen, den Bug knapp über dem Wasser, das nach dem heftigen Regen der vergangenen Wochen jetzt schneller fließt und höher steht als üblich.
Die Buhnen, Aufschüttungen aus gebrochenem Säulenbasalt, die hier zum Uferschutz in unregelmäßigem Abstand bis zu hundert Meter tief in den Fluss ragen, sind anscheinend beliebte Angelplätze. Überall kauern Gestalten, einzeln oder in Zweiergruppen, halten lange Angelruten in der Hand oder haben sie neben sich im Boden verankert. Einige sitzen auf Klappstühlen, rauchen und starren müßig ins Wasser oder scheinen zu dösen. Selbst der Schwimmanleger ist mit zwei Anglern besetzt. Weiter hinten wandert einer langsam das Ufer herab und hantiert dabei mit seiner Angel wie ein Kutscher, der die Peitsche über seinem Gespann schwingt. Will der die Fische zu seinen Kollegen scheuchen? Oder hat er eine ganz spezielle Fangtechnik entwickelt? Und wo zum Teufel sind die Jungens?
Gottseidank, da sind sie. Etwa in der Mitte der Buhne starren die beiden angestrengt ins Wasser, der Große mit der Angelrute, der Kleine mit dem Netz bewaffnet.
Eine Hand am Geländer, tappt er langsam die Stufen zum Rheinufer hinunter. Er freut sich auf das Abenteuer. Vorhin hat er noch einmal die Stelle im Matthäus-Evangelium nachgelesen, wo Jesus das Himmelreich mit einem Fischernetz vergleicht, mit dem, wie es in der Jüngerbelehrung wörtlich heißt, Fische aller Art gefangen werden.
Was für eine schöne, anschauliche Erzählung. Um sie nachvollziehen zu können, muss man nicht extra aufs Meer hinausgefahren sein. Sowas kann sich auch hier am Rhein zutragen. Als das Netz voll war, zogen sie es heraus an das Ufer, setzten sich und lasen die guten in Gefäße zusammen, aber die schlechten warfen sie weg. Die nach Karbol schmeckten. Wenn es damals schon Karbol gab. Wird am Rhein überhaupt noch mit Netzen gefischt? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht mit Harpunen. Dieser kleine Klugscheißer. Wie hießen die beiden noch? Der Kater hieß Konni, aber die Jungens? Ich habs vergessen. Wer zwei Dutzend Enkel in allen Preislagen hat, kann sich nicht jeden Namen merken.
Als kleine Kinder hatten wir mal die Idee, an den Rhein zu gehen und zu angeln. August kann nicht älter als sieben gewesen sein. Da war ich also drei. Mutter hat es uns aber verboten. Sie hatte Angst, wir würden ins Wasser fallen. Mutter war eine ängstliche Frau. Jedenfalls nicht unängstlich. Wenn ein Gewitter drohte, schloss sie sofort alle Fensterläden, damit der Blitz nicht im Zimmer einschlug. „Ihr könnt zum Fenster raus angeln“, sagte sie. Konnte ja nicht ahnen, dass wir sie beim Wort nehmen würden. Unsere Angeln bestanden aus je einem Besenstiel, einem Stück Schnur und einer Sicherheitsnadel. Die hielten wir dann so zum Fenster raus, dass die Nadelspitzen knapp über den Köpfen der Passanten unten auf dem Bürgersteig schwebten. Dauerte nicht lange, da klingelte es und Schnäuzekowski trat auf den Plan, unser Polizeiwachtmeister. „Frau Adenauer“, sagte Schnäuzekowski, „dat jeht nit“. Und damit war das Angelabenteuer beendet.
Auf dem Uferstreifen macht sich zwischen Schwemmsand und Kieseln wilder Bewuchs breit: Erlen, Weidengebüsch, Wolfsmilch, Bärenklau, Blutweiderich; letzterer eingehüllt in eine summende Wolke winziger Mücken. Ihre Wurzeln sind in den pflasterartigen Basaltbelag eingedrungen und haben überall Fugen aufgesprengt. Dazwischen Totholz, Muschelschalen, Vogelfedern. Rostige Dosen und Flaschenscherben liegen verstreut um schwarze, niedergebrannte Feuerstellen. Dazu der typische Flussgeruch und das Geräusch der Wellen.
Unbequemes Terrain, diese Buhnen. Veralgte Steinquader, einige von der Gewalt der Wassermassen aus dem Mosaikverbund gelöst, die Löcher verfüllt mit Treibgut, zwischendurch Inseln aus dürrem, vertrocknetem Gras. Vorsichtig einen Fuß vor den andern setzend, nähert er sich den ersten beiden Anglern. Der eine hockt auf den Fersen, dreht ihm halb den Rücken zu und ist dabei, einen zappelnden glänzenden Fisch vom Haken zu lösen; der andere, in einer grünen Armeejacke, hat gerade die Schnur eingeholt und kontrolliert das blinkende Ende in seiner Hand.
„Guten Tag!“ begrüßt ihn Adenauer und stützt sich dabei auf seinen Gehstock.
Der Mann wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. Seine farblosen Augen sind überwildert von ergrauten Brauen, Bartstoppeln lassen sein verkniffenes Gesicht düster erscheinen. „Tag!“ erwidert er mürrisch, bevor er sich wieder auf seine Angel konzentriert.
„Und“, erkundigt sich Adenauer, „von Erfolg gekrönt?“
„Wat?“
„Ich meine: Fangen Sie was?“
„Geht so“, murmelt der Mann. „Nicht so wichtig.“
„Ist auch ein schönes Plätzchen“, stellt Adenauer fest.
„Wegen dem bin ich ja hier.“
„So friedlich“, ergänzt Adenauer.
„Jetzt nicht mehr“, erwidert der Mann trocken, dreht sich ein Stück zu Seite und spuckt in den Fluss.
„Na, Sie sind aber einer“, empört sich Adenauer.
„Ja, wat?“ sagt der Angler und hebt lauernd das Kinn. „Wat bin ich?“
Ein ungehobelter Kerl, ohne Manieren und ohne blassen Schimmer, wer da vor Ihnen steht, möchte Adenauer antworten. Stattdessen sagt er: „Ich wollte Ihnen gerade Gelegenheit geben, ihre ganze Fischfanggelehrsamkeit zu entfalten. Und stattdessen –“
„Moment, Männeken… Fischfangwat… Wie, entfalten? Wat wolln Se?“
„Ach, vergessen Sie‘s einfach“, erwidert Adenauer, stößt wütend seinen Spazierstock in den buckligen Untergrund und schreitet, ohne eine Entgegnung abzuwarten, eilig weiter.
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