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- Jan-Christoph Hauschild

- 20. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Alexanders Anruf hatte Mutter und Tochter Hahneman mitten in einer angeregten Unterhaltung erreicht, die sie anschließend nicht fortsetzten. Stattdessen sahen sie sich gemeinsam auf ARTE eine Dokumentation mit dem Titel „Erfundene Krankheiten“ an, die Hildes Verdacht bestätigte, dass die Pharmaindustrie nicht nur Medikamente herstellte, um Krankheiten zu heilen, sondern auch Krankheiten erfand, um Medikamente zu verkaufen.
„Das kann man sich doch denken“, meinte Kim, als sie den Fernseher ausschaltete. „Die Investitionen in Forschung und Entwicklung sollen sich möglichst schnell rentieren, nicht erst in ferner Zukunft. Das verlangt die Logik der kapitalistischen Produktion.“
So weit mochte Hilde keinesfalls gehen. Das Wort Kapitalismus war ihr noch nie über die Lippen gekommen, sie sah überall nur Charaktere am Werk, gute und böse Menschen, Ehrliche und Betrüger. Zu letzteren zählte sie alle Geschäftsleute und die meisten Ärzte. „Weil Profit im Spiel ist“, pflegte sie zu ihrer Rechtfertigung zu sagen. Zwar versäumte sie keine der vorgeschriebenen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, weigerte sie sich aber, etwas anderes als Blutverdünner einzunehmen. Für ihre Gesundheit sorgte sie selbst, und dazu gehörte, dass sie täglich ein gekochtes Ei aß und jeden zweiten Tag eine Pampelmuse.
„Mutter“, sagte Kim, während sie den Rest aus der Rotweinflasche auf ihre beiden Gläser verteilte, „hast Du Lust auf ein bisschen Knobelei?“
Hilde war nicht sehr begeistert. „Kind, weißt du, wie spät es ist? Meine grauen Zellen haben sich zusammen mit dem Fernseher abgeschaltet!“
„Nur ein Viertelstündchen. Bis die Gläser leer sind.“
„Na ja, meinetwegen… Aber bitte kein Sudoku! Dafür habe ich nämlich kein Talent.“
„Nein, es handelt sich um eine Art Kryptoanalyse.“
„Ich weiß zwar nicht, was das ist, ich hoffe aber, dass es dabei seriöser zugeht als bei der Psychoanalyse.“
„Oh, es ist außerordentlich seriös, Mutter. Um genau zu sein, handelt es sich um die Entzifferung rätselhafter Abkürzungen. Es ist so: Alex hat in einer Ausstellung in Straßburg ein interessantes Skelett entdeckt.“
„Das war ja klar, dass Dein Mann dahintersteckt. Er braucht immer Hilfskräfte. Im Delegieren ist er ein Genie.“
„Er meint, ohne unsere Intelligenz ist er verloren.“
„Wahrscheinlich stimmt das auch.“
„Also, er wüsste gerne mehr über dieses Skelett, aber die Experten vor Ort halten sich bedeckt und verweigern ihm weitere Auskünfte. Er weiß, von wann das Skelett ist, nämlich von 1788, und dass es aus Waldbach stammt. Alex hat aber keinen Ort in Frankreich gefunden, der so heißt.“
„Muss es denn ein Ort in Frankreich sein? Waldbach ist ein deutscher Name.“
„Na ja, das Skelett gehört zur alten Sammlung der Universität, genauer gesagt des Anthropologischen Instituts, und der erste Gedanke ist doch, dass es aus der Umgebung stammt.“
„Also aus dem Elsass, und das war bekanntlich früher einmal deutsch.“
Alex zückte ihr Telefon, googelte den Namen „Waldbach“ in Verbindung mit „Alsace“ und stöberte gedankenverloren in den Suchergebnissen, zum Missfallen ihrer Mutter.
„Sheila!“ sagte Hilde energisch.
Kim fuhr herum. „Ja?“
„Ist mein Einsatz noch erforderlich?“
„Ja, Mutter, unbedingt!“ Sie tippte zweimal auf das Fotomenü und gab das Telefon an ihre Mutter weiter. „Das ist ein Foto von der alten Beschriftung, mit rätselhaften Buchstaben und Zahlen.“
Hilde nahm ihre Brille ab und vertauschte sie mit einer anderen, die sie an einer Kette vor der Brust trug. „Buchstaben und Zahlen… Das klingt nach einer Inventarnummer. Geht das zu vergrößern?“
Kim griff mit zwei Fingern nach dem Display und spreizte den Ausschnitt.
„Hm“, sagte Hilde. „Also, soviel kann ich Dir schon mal sagen: Das Etikett ist bestimmt nicht von 1788. Das ist jünger. Aber lies mal vor, was Du da erkennst.“
„BR –“
„Ja. “
„Was ist das für ein Buchstabe?“
„Das ist ein W.“
„BR W. Dann eine 88. Das ist wahrscheinlich die Abkürzung für 1788.“
„Mag sein. Weiter.“
„H. 36. “
„So lese ich das auch. BR W 88 H. 36.“
„Was glaubst du, könnte das bedeuten?“
„Langsam. Da müssen wir Zug um Zug vorgehen. Das habe ich von Deinem Vater gelernt.“
Kims Vater war Architekt, aber auch Schachspieler auf Vereinsebene gewesen. Vielleicht hatte er auf beiden Gebieten eine Zug-um-Zug-Strategie zur Anwendung gebracht. Kim wusste es nicht, denn er war gestorben, bevor sie auf das Gymnasium kam. Wenn sie an ihn zurückdachte, war da wenig mehr als die Erinnerung, dass sie gegen ihn nicht ankam. Über seine Eigenschaften als Vater, seine menschliche Wärme, Güte und Zärtlichkeit, wusste sie nichts zu sagen. Es mochte sein, dass er all das in seinem Innern verborgen gehalten hatte, um es ihr eines Tages zu offenbaren, wie ein Geburtstagsgeschenk. Aber dazu war es nicht gekommen. Jetzt erinnerten noch drei Pokale im Bücherregal und ein großes gerahmtes Foto über dem Sofa an ihn. Es zeigte einen kräftig gebauten Mann mit kurzgeschnittenem Haar und markanten Gesichtszügen, der in seinem Tweedsakko sehr britisch wirkte. Manchmal wenn Kim das Bild anschaute, meinte sie noch den schwachen Duft seines Aftershave riechen zu können, aber vielleicht war es auch der Geruch seines Pfeifentabaks gewesen. Neben dem Porträt von Sammy Hahneman hing eine etwas kleiner gerahmte Fotografie, die Kim in einem Engelskostüm zwischen ihren Eltern zeigte, vor einer Schulaufführung, unsicher lächelnd. „Mehr Bengelchen als Engelchen“ pflegte ihre Mutter zu kommentieren, wenn jemand auf das Bild aufmerksam wurde.

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