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Als wir hinter Fräulein Döring im Haus die Treppe hochsteigen, langsam, damit Fräulein Feidt auch mitkommt, geht im 1. Stock eine Tür ein Stückchen auf und eine blasse Frau mit Haaren auf der Oberlippe schaut heraus, und das ist Fräulein Vogel, bei der unsere Möbel untergestellt sind. Mama bedankt sich, aber Fräulein Vogel nickt nur und macht die Tür wieder zu. Als wir bei Fräulein Döring in der Wohnung sind, sagt sie, Mama hätte sich nicht bei Fräulein Vogel bedanken müssen, weil wir für das Unterstellen Geld bezahlen, aber Mama sagt, das gebietet doch die Höflichkeit.


Wir waschen uns alle die Hände, und dann setzen wir uns an den Esstisch, und Mama holt aus ihrer Handtasche das Röhrchen mit den Tabletten, von denen sie jeden Abend eine nehmen muss. Zuerst bekommen wir jeder einen Teller Suppe mit Klößchen. Wir warten, dass Fräulein Döring zu essen anfängt, aber sie sagt Lasst uns beten, und wir sprechen gemeinsam das Tischgebet: Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, Amen.


Nach der Suppe trägt sie eine große Schüssel mit Kartoffelsalat herein und gibt jedem von uns eine Portion. Der Kartoffelsalat schmeckt anders als bei uns, und warm ist er auch, und es sind nicht nur Kartoffeln, Zwiebeln und Gurken drin, sondern noch andere Zutaten, die ich erst einmal genau untersuche, Apfelstückchen und gebratene Speckwürfelchen. Die Speckwürfelchen pule ich heraus und schiebe sie beiseite, weil sie eklig schmecken. Als ich mir eine zweite Portion geben lasse, sieht Fräulein Döring mein aussortiertes Häufchen und wundert sich. Mama entschuldigt sich für mich, und Fräulein Feidt sagt, der Junge muss sich eben erst umgewöhnen.


Nach dem Essen dürfen Paul und ich noch ein bisschen vor die Tür gehen, einmal die Straße rauf und runter, aber ich muss ihm die Hand geben. Als wir zurück sind, haben Papa und Mama schon unsere Sachen ausgepackt und die Betten bezogen. Pürie ist auch schon umgezogen und sitzt in seinem messinggoldenen Käfig, der auf der Kommode steht, neben einigen Töpfen und Schüsseln. Auf einem Abtrockentuch liegt Besteck, und es ist wieder das alte Silberbesteck von Omi mit dem verschnörkelten großen B.


Mama sagt, in Vögisheim fängt morgen die Schule an, aber in Speyer haben die Kinder noch die ganze Woche Herbstferien. Morgen will sie mich bei der Volksschule anmelden und Paul beim Gymnasium, und sie hofft, wir schlafen gut in unserer ersten Nacht im Glaspalast. Sie gibt uns einen Gutenachtkuss, Papa nimmt die Petroleumlampe vom Haken, zündet sie an und geht mit uns in den Keller. Er stellt sie auf den Boden, und während wir uns ausziehen, schlägt er unsere Betten auf, gibt uns unsere Nachthemden und legt Mungo auf mein Kopfkissen. Er sagt, beten brauchen wir nicht, aber wir sollen noch mal unser Geschäft machen, bevor wir uns hinlegen.


Wo denn, Papa?


Er zieht einen großen Eimer, der neben den Betten steht, nach vorne. „Faller Feine Erdbeerkonfitüre“ steht vorne drauf. Es ist ein Marmeladeneimer aus Vögisheim. Ich hebe den Deckel hoch, aber der Eimer ist leer.


Da rein?


Da rein.


Und wo waschen wir uns die Hände?


Er zeigt auf einen großen Karton, auf dem eine Plastikschüssel mit Wasser steht, daneben liegt ein Stück Seife und ein Handtuch. Bevor er mit der Petroleumlampe wieder hochgeht, sagt er noch, wir sollen rufen, wenn etwas ist, und morgen bekommen wir auch eine Taschenlampe.


Ich schlüpfe erstmal zu Paul ins Bett und frage ihn, wie er es in Speyer findet. Er findet es auch ziemlich blöd, dass wir gar keine richtige Wohnung haben mit verschiedenen Zimmern mit Türen und mit Fenstern nach draußen und mit Möbeln und der Musiktruhe. Aber dass wir noch drei Tage Ferien haben, ist gut.


Ich kuschle mich an ihn. Ja, das ist gut, das ist gut.


Und dass ich keinen Dr. Burger mehr habe und keine Frau Ziemer, das ist gut. Und keinen Herrn Vikar Moll und keinen Herrn Flohé.


Ja, das ist gut, kichere ich und trommle mit den Fäusten auf Pauls Rücken herum. Und ich habe keinen Herrn Reng mehr. Denn der Herr Reng, der war zu streng, der war zu streng, ja der Herr Reng.


Das stimmt doch gar nicht. Er hat dich ja nicht mal verhauen.


Trotzdem! Da macht es Peng, weg ist Herr Reng.

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