Seit seinem Autounfall vor gut fünfzig Jahren ist es Adenauer nie mehr gelungen, fremder Fahrkunst zu vollen hundert Prozent zu vertrauen. Selbst im Zustand großer Müdigkeit und Abgespanntheit gilt ein Teil seiner Aufmerksamkeit immer dem Mann hinter dem Steuer. Dass Scharoun, wie damals sein Chauffeur in Köln, den Wagen gegen eine entgegenkommende Straßenbahn lenkt, ist allerdings nicht zu befürchten.
Die Bundesstraße nach Bonn verläuft zunächst parallel zur Eisenbahnlinie, zwischen Rhöndorf und Königswinter eingeklemmt zwischen Berg und Fluss. Erst kurz vor der Drachenfelsbahn löst sie sich aus der Kameradschaft der Bahngeleise. Bis zu Adenauers Rücktritt sorgte ein eskortierendes Polizeifahrzeug mit Blaulicht dafür, dass der Wagen morgens die engen Straßen von Königswinter und Dollendorf ungehindert passieren konnte. Und auch die Fähre in Niederdollendorf, von der Polizei informiert, stand stets abfahrbereit, um den Bundeskanzler unverzüglich ans andere Ufer zu befördern. Inzwischen dauert die Fahrt zum Bundeshaus jedes Mal über eine halbe Stunde, und weil das Autotelefon inzwischen meistens stumm bleibt, sieht sich Adenauer mehr und mehr veranlasst, das eine oder andere Wort an seinen Chauffeur zu richten. Zu einer echten Unterhaltung lässt er es nicht kommen. Scharoun wäre nicht der erste Angestellte, der als Pensionär mit einem Enthüllungsbuch aufwartet. Oder die Prillwitz. EXKLUSIV IN DER NEUEN QUICK: ADENAUERS CHAUFFEUR UND SEINE PRIVATSEKRETÄRIN PACKEN AUS. Hat während unserer Besprechungen ein bisschen viel in ihre Kladde stenografiert, die Prillwitz. Sogar meine schlechten Scherze und Zornausbrüche eifrig in ihre Hieroglyphen gebracht. Hält sich hoffentlich nicht für meinen Eckermann.
Weil er durch das Herunterfahren der Trennscheibe darauf vorbereitet ist, angesprochen zu werden, erschrickt Scharoun kaum, als Adenauer ihn unvermittelt fragt, ob er schon einmal geangelt habe.
„Geangelt? Ähem – früher ja, Herr Bundeskanzler. Vor meiner Heirat.“
„Am Rhein?“
„Hauptsächlich am Rhein, Herr Bundeskanzler. Als er noch sauber war.“
„Und jetzt ist er nicht mehr sauber?“ hakt Adenauer nach und betrachtet amüsiert Scharouns verlegene Miene im Rückspiegel. „Na, sagen Sie schon.“
„Die Fische aus dem Rhein kann man praktisch nicht mehr essen“, erklärt Scharoun, zwischen dem Blick auf die Straße und dem Blick in den Rückspiegel nervös hin und her wechselnd. „Egal ob Aal, Barsch, Zander oder Hecht.“
„Bei mir gibt es an Weihnachten immer Lachs“, erklärt Adenauer.
„Aber bestimmt nicht aus dem Rhein, Herr Bundeskanzler, oder?“
„Aus dem Laacher See. Schmeckt immer ganz hervorragend. Und die Fische aus dem Rhein schmecken nach Moder?“
„Schlimmer, Herr Bundeskanzler. Den letzten Rheinfisch habe ich vor bald zehn Jahren bei meinem Schwager gegessen. Er war so stolz… Nach wer weiß wie langer Zeit endlich mal wieder einen Lachs gefangen… Er hat ihn noch eine Woche lang in sauberem Wasser schwimmen lassen, und trotzdem schmeckte er nach Karbol. Wegen der Abwässer aus den Fabriken. Auch über die Nebenflüsse kommt viel Gift.“
„Der Lachs hat ja viel Fett. Da lagern sich solche Stoffe natürlich stärker an als bei einem kleineren Fisch. Sagen wir mal, als bei einem Hecht.“
„Auf jeden Fall, Herr Bundeskanzler.“
„Und dann kommt es auch darauf an, wovon ernährt sich der Fisch. Der Aal zum Beispiel treibt sich doch vornehmlich herum in trüben Gewässern.“
„Das ist korrekt, Herr Bundeskanzler.“
„Ich habe zwar noch nie geangelt, Herr Scharoun, aber das gehört ja zur Allgemeinbildung.“
„Sie wissen sehr viel mehr als die gewöhnlichen Sterblichen, Herr Bundeskanzler.“
Die Heuchelei ist so offenkundig, dass Adenauer sich mit einem verlegenen Lächeln zur Seite wendet. „Wenn Sie das sagen…“ Draußen flimmern die Straßenbäume vor dem Graublau des Himmels, Pappelflaum wirbelt durch die Luft. Aber das Thema ist noch nicht erschöpft.
„Gestatten Sie mir die Frage, Herr Scharoun: Warum haben Sie überhaupt geangelt? Eigentlich ist es doch pure Zeitverschwendung. Man kann sich genauso gut einen leckeren Fisch auf dem Markt kaufen.“
„Tja“, sagt Scharoun und löst für einen Moment eine Hand vom Lenkrad, um sich an der Schläfe zu kratzen, „ich glaube, es ist gerade wegen der Zeitverschwendung. Man ist draußen, unter freiem Himmel, weit weg von dem Gerenne und Gejage und dem ganzen Wahnsinn. Und der Fluss, das Fließen und Schwappen… Für die Nerven gibt es nichts Entspannenderes.“
„So? Na, dann ist das ja genau das Richtige für mich.“
„Bestimmt, Herr Bundeskanzler. Von den Schiffen mal abgesehen, nur Ruhe und Frieden. Man sitzt ganz still da, konzentriert auf die eine Sache, und wartet.“
„Eben, diese Warterei. Ist das nicht schrecklich langweilig?“
„Ich glaube, das kommt ganz darauf an.“
„Worauf kommt es an?“
„Wie man an die Sache herangeht. Als Angler kommt man mit einer gewissen Erwartung. Man sitzt da und stellt sich vor, was vor einem herumschwimmt oder herumschwimmen könnte. Beißt er, beißt er nicht? Und wenn es dann soweit ist, wird es richtig spannend. Für den Außenstehenden ist kaum etwas zu erkennen. Aber dem aufmerksamen Auge zeigt der Schwimmer genau an, was unter Wasser vorgeht.“
„Und ich dachte immer, Angeln sei etwas für Phlegmatiker.“
„Vollkommen richtig, Herr Bundeskanzler. Es kann aber auch sehr aufregend sein. Wenn am anderen Ende ein fetter Karpfen zerrt, mit dem man eigentlich nicht gerechnet hat, treibt das den Puls ganz schön in die Höhe.“
„Und die Angelbrüder? Was sind das für Leute? Charakterlich, meine ich.“
„Wie soll ich das sagen... Es sind ruhige, friedliche Menschen.“
„So wie Sie, Herr Scharoun.“
„Nun, äh, also“, stottert Scharoun und lacht unsicher. „An mich habe ich dabei nicht gedacht, Herr Bundeskanzler.“
„Ich weiß“, sagt Adenauer besänftigend. „Das Angeln ist eine edle Kunst, das wollten Sie sagen.“
„Jawohl. So ähnlich. Zum Beispiel angelt man doch nicht wegen dem Geld, sondern zur Erholung. Und das geht in den Charakter über. Man wird ruhig, gelassen und zufrieden.“
„Kaum zu glauben, lieber Herr Scharoun. Ich war mir sicher, Angeln sei eher was für nervöse Leute. Leute, die gern rauchen und trinken. Wie der Herr Brandt zum Beispiel. Der fährt ja im Sommer immer nach Norwegen, in seine alte Heimat, zum Forellenangeln. Der soll ganz scharf auf Forellen sein.“
„Der Herr Brandt ist sicher kein typischer Angler, Herr Bundeskanzler. Gerade wenn er so auf Forellen aus ist... Forellen angeln sich nicht so leicht. Bestimmt hat er dafür seine Leute. Dem echten Angler ist es völlig egal, ob er etwas fängt. Manch einer geht bloß angeln, weil er dann von zuhause wegkommt.“
„Allemal besser, als Gaststätten aufzusuchen“, stimmt ihm Adenauer zu. Ihm fällt ein, dass in der Bibel auch vom Fischefangen die Rede ist. Unser Herr und Heiland hat die Sache durch seine Gegenwart mehr als einmal gesegnet. Und einfache Fischer als Jünger angenommen. Steht, glaube ich, bei Lukas. Muss ich mal wieder nachlesen.
„Und wo waren Ihre – Fischgründe, Herr Scharoun? Sagt man das so?“
„Jawohl. An den Anlegestellen der Fähren in Königswinter und Niederdollendorf, da habe ich gern geangelt. Auch an den Bootsanlegern. Zander und Barsche waren da immer gut. Manchmal hat es auch mit Hechten geklappt. Vor allem nachts. Dann kommt der Hecht nah ans Ufer. Er ist ja ein Räuber. Das Hafenbecken hinter der Fußgangerbrücke am Honnefer Hafen war auch interessant. Wenn sonst nichts ging, war da schon noch der eine oder andere Fisch zu kriegen.“
„Und in Rhöndorf?“
„Die Buhnenfelder am Hotel Bellevue sollen auch gut sein. Hab ich gehört. Wenn die Sonne das Wasser am Ufer wärmt, halten sich bestimmt viele Fische dort auf.“
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