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- Jan-Christoph Hauschild

- 27. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
„Eine Inventarnummer“, fuhr Hilde mit geschlossenen Augen fort, „wird doch wohl vergeben, wenn eine Sache ins Inventar aufgenommen wird. Also sollte man annehmen, dass es eine Jahreszahl gibt und eine laufende Nummer. Weil wir die Jahreszahl bereits kennen, 1788 nämlich, müssen wir nicht lange herumrätseln, welche Ziffern was bedeuten. Die zweite Zahl kann nur die laufende Nummer sein. Skelett oder Objekt Nr. 36 im Jahr 1788.“
„Und die Buchstaben, BR und W und H?“
„Tja… Eine Inventarisierung geschieht nicht willkürlich, sondern folgt irgendwelchen Regeln. Was würdest Du draufschreiben? Überleg mal.“
Kim zog an ihrer Unterlippe und dachte nach. „Alles, was sich nicht unmittelbar aus der Anschauung ergibt. Aber auch nur das.“
„Das hast Du vorzüglich ausgedrückt. Und was gehört unbedingt dazu?“
„Der Fundort. Den kennen wir ja schon, nämlich Waldbach. Dafür steht das W. Und vielleicht der Name desjenigen, der das Skelett präpariert hat. Das dürfte jemand aus Straßburg gewesen sein.“
„Meines Erachtens kommt dafür der Buchstabe H zwischen den beiden Zahlen in Frage. Ein Monsieur H.“
„Wir brauchen also eine Liste aller Anatomen, die Ende des 18. Jahrhunderts in Straßburg tätig waren. Wenn die überhaupt selbst präpariert haben, und nicht ihre Gehilfen. Wie viele Leichenöffnungen macht man wohl in einem Jahr? Oder hat man damals gemacht?“
„Das musst Du Deinen Mann fragen. Ich bin bekanntlich kein Spezialist für Anatomie. Das wäre ja auch noch schöner, wenn ich auf alles eine Antwort wüsste.“
„Wenn W Waldbach bedeutet, was bedeutet dann BR? Das kriegen wir nie aufgelöst.“
„Immer langsam mit den jungen Pferden. Vielleicht sind es zwei verschiedene Kategorien… Das Größere und das Kleinere.“
„Mutter, Du sprichst in Rätseln.“
„Ich rätsele ja selbst noch. Wenn Waldbach tatsächlich ein Ort im Elsass ist, dann könnte BR für den Namen der Region oder des Départements stehen. Bas-Rhin. Es bleibt aber eine Vermutung.“
„Ich kann mir alle Gemeinden im Département Bas-Rhin anzeigen lassen.“
„Tu das, mein Kind.“
„Es sind 518.“
„Prost Mahlzeit. Das kommt heraus beim Internet. Man wird mit Informationen zugeschüttet“, sagte Hilde resigniert. Sie gähnte, aber vielleicht tat sie auch nur so. Dann nahm sie die beiden Rotweingläser und die Flasche vom Tisch und stand auf. „Ich mache mich schon einmal bettfertig.“
Kim gab erneut den Namen Waldbach in die Suchmaske ein, ergänzte ihn aber diesmal um das Wort Elsass. Unter den jetzt angezeigten Treffern waren vier, die auf einen Ort namens Waldersbach in den Vogesen verwiesen, für den früher die Schreibung Waldbach üblich gewesen war. Früher bedeutete: im 19. Jahrhundert. „Na bitte. Wer sagt‘s denn. Das hätte Alex auch selbst herausbekommen können“, murmelte sie vor sich hin.
Sie wechselte zu Google Maps. Die Entfernung von Waldersbach nach Straßburg betrug etwa 60 Kilometer. „Bingo!“ rief sie in Richtung Badezimmer, und als keine Reaktion erfolgte, noch einmal, mit verdoppelter Lautstärke: „BINGO!“
„Hast Du schon etwas gefunden?“ rief ihre Mutter zurück.
Kim erhob sich. „Der Ort heißt heute Waldersbach! 60 Kilometer von Straßburg!“
„Dann kannst Du Deinem Alexander ja eine Geschichte erzählen! Worauf wartest du?“
Kim lehnte ihren Kopf an die geschlossene Badezimmertür. „Was meinst du?“
„Ruf ihn an!“
„Was, jetzt? Es ist gleich Mitternacht!“
„Ja und? Ein Forscher ruht nie, selbst wenn er schläft. Also los jetzt!“
Kims Anruf weckte Alexander, den ihre Quicklebendigkeit in seiner jetzigen Verfassung überforderte. Als sie ihm von ihrer Entdeckung berichtete, reagierte er unerwartet einsilbig und meinte lediglich, dass ihm der Name Waldersbach irgendwie bekannt vorkäme. Kim nahm daraufhin an, dass er ihre Leistung schmälern wollte, wenn auch nur unbewusst, und fügte hinzu, dass es sich um ein winziges Dorf in einem abgelegenen Seitental der Vogesen handle; es sei daher wohl möglich, dass sich dort die Sitte, Neugeborenen den Kopf zu bandagieren, bis ins 18. Jahrhundert erhalten habe. Statt Lob oder Zustimmung zu äußern, gähnte Alexander vernehmlich, doch als sie vorschlug, den mysteriösen Monsieur H. mit Hilfe eines Namensverzeichnisses berühmter Straßburger Mediziner aus dem 18. Jahrhundert zu identifizieren, erklärte er grimmig, das sei überflüssig, der berühmteste Straßburger Anatom des 18. Jahrhunderts sei Friedrich Himly, und um diesen dürfte es sich handeln. Kim war nahe daran, das Gespräch vorzeitig zu beenden und Alexander eine geruhsame Nacht zu wünschen. Aber dann sagte er, vielleicht nur aus einer Laune heraus, dass er sie vermisse, und daraufhin überraschte sie ihn doch noch mit der Mitteilung, dass sie morgen mit einem frühen Zug nach Straßburg zurückkomme, um mit ihm nach Waldersbach zu fahren, weil es jetzt gelte, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hatte sogar schon die Verbindung herausgesucht: 12:55 Uhr ab Strasbourg Gare. Dann entweder bis Rothau und von dort weiter mit dem Taxi, oder bis Fouday und von dort eine Dreiviertelstunde zu Fuß.
„Zu Fuß natürlich“, sagte Alexander, womit er auch ihren Wunsch traf.

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