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- Jan-Christoph Hauschild

- 25. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Der Blick auf das Display seines Telefons verriet Croqué, dass es sich bei dem Anrufer um seinen Assistenten Bouchon handelte. Nur diesem Grund nahm er das Gespräch überhaupt an, hielt das Gerät jedoch nicht an sein Ohr, sondern stellte auf ‚Laut‘, um seine Arbeit an Nr. 64 der Bestandsliste für das Gespräch nicht unterbrechen zu müssen.
„Wo brennt’s denn, mein Kleiner“, sagte er mit Ungeduld in der Stimme, wobei er sich über sein Telefon beugte, um die Schlinge des großen C, die sich um ein kleines g wand, zu vollenden.
„Entschuldigung, Chef“, sagte Bouchon, „aber bei mir war eben ein Amerikaner, angeblich vom Smithsonian Institute in Washington.“
„Ich weiß, wo das Smithsonian Institute ist“, sagte Croqué, während er im spitzen Winkel an den ersten Abstrich des M den zweiten Aufstrich setzte. „Oder glauben Sie, es gibt woanders noch eins? Vielleicht in Groningen?“
„Entschuldigung, Chef. Er war auf jeden Fall vom Fach, denn er kannte sich in Anatomie ziemlich gut aus. Und er spricht sehr gut Französisch.“
„Was wollte er? Kaufen, ausleihen?“
„Nichts davon. Angeblich interessierte er sich für DOMINIQUE.“
„Den alten Turricephalus aus dem Steintal? Soll er doch. Warum muss ich das wissen?“
„Er schien an der Echtheit zu zweifeln.“
„Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Das Ding gehört seit 200 Jahren zu unserer Sammlung. Soll er auf den Friedhof gehen und sich bei Helmlein beschweren.“
Croqués Zunge fuhr die Oberlippe ab, während er aus dem Bogen des C den Aufstrich zu einem verschnörkelten M entwickelte.
„In diesem Fall käme wohl Himly in Frage. DOMINIQUE ist von 1788.“
„Na also! Und wo ist das Problem?“
„Seine Argumente sind auf den ersten Blick triftig. Und ich weiß nicht, ob er nur interessiert oder ob er bösartig ist. Wenn ja, könnte er versuchen, uns etwas anzuhängen.“
Croqué legte den Federhalter beiseite. „Wie sind Sie mit ihm verblieben?“
„Er war hartnäckig. Weil er morgen noch einmal in die Ausstellung gehen will, habe ich mich für zwölf Uhr mit ihm verabredet. Das gibt uns genügend Zeit, um zu handeln.
„Sie meinen: mir?“
„Es gibt Ihnen Zeit für eine Entscheidung, wie wir weiter verfahren.“
„Was sagt denn Ihr Instinkt?“
„Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass er journalistisch unterwegs ist und den Auftrag hat, zu unserem Institut zu recherchieren. Und DOMINIQUE ist die Sonde, mit der –“
„Er in unseren Scheißhaufen sticht, meinen Sie?“
„Mit der er das Terrain erkunden will.“
„Das werden wir verhindern. Rufen Sie bei Artrans an. Morgen um Acht sollen sie hier mit einer Transportkiste auftauchen und das Ding ins Magazin zurückbringen. Sie begleiten den Transport. Und nehmen Sie als erstes die Beschriftung aus der Vitrine. Keine Beschriftung – keine Fehler. Und morgen… Wann sagten Sie, kommt er?
„Um Zwölf.“
„Morgen um Zwölf werde ich mir den Vogel mal vorknöpfen. Wenn er wirklich auf der Seite des Bösen ist, werde ich das nach fünf Minuten wissen. Für sowas habe ich einen siebten Sinn. Roma locuta, causa finita. Ich habe noch 43 Crania, die für die nächste Ausstellung gereinigt werden müssen.“
„Ich habe Ihnen bereits angeboten, die Arbeit zu übernehmen, Chef.“
„Das ist keine Arbeit, sondern Genuss, und deshalb lasse ich mir diese Freude nicht nehmen. Ich lasse Sie ja auch nicht meine Cohibas zu Ende rauchen. Aber Sie können etwas anderes für mich tun. Sie können zusammen mit Marine ein Rundschreiben vorbereiten, etwa folgenden Inhalts: Angebot von exzellenten Abgüssen aus der Balanica-Höhle. Aus einer Privatsammlung, bei Interesse nähere Auskünfte. Statt einer Adresse geben Sie meine dienstliche Handynummer an. Überschrift: Neue Neandertalerfunde in Serbien. Erst einmal nur auf Englisch und Deutsch, die Amis und die Boches haben noch das meiste Geld. Suchen Sie dafür 20 bis 30 geeignete Adressen heraus. Was meinen Sie, wie viel kann man dafür nehmen? 400 bis 500 Euro pro Stück? Denken Sie mal darüber nach. Auf Wiedersehen.“
Als Bouchon das Telefon aus der Hand legte, hatte sich sein Gesicht vor Wut rot verfärbt. Dass Croqué es ausgerechnet ihm, Bouchon, überließ, über den Verkaufspreis der Neandertaler-Abgüsse nachzudenken, kam ihm wie eine nachträgliche Aberkennung seiner Entdeckerleistung vor. Nein, es war eine Aberkennung. Und eine Enteignung. Und eine Anmaßung.
Vor drei Jahren waren Croqué und er und ein internationales Studierenden-Team zu Nachgrabungen nach Serbien gefahren. Russische Archäologen hatten in den 1980er Jahren in der Nähe von Niš ein Unterkieferfragment mit vier Zähnen entdeckt, das die Anwesenheit von Neandertalern vor 200.000 Jahren bezeugte. Bei ihren Nachgrabungen, die ab der zweiten Woche Bouchon leitete, hatte das Team etwa drei Dutzend weiterer Fragmente gefunden, und auch in der ersten Woche war Croqué nur nominell Teamchef gewesen. Einheimische Geographiestudenten unter Leitung ihres Dozenten hatten auf halber Höhe zwischen der Nišava und der kleinen Balanica-Höhle für sie ein Basiscamp errichtet. Croqué allerdings bevorzugte die Unterkunft im Best Western Hotel in Niš, von wo aus er jeden Morgen die 25 Kilometer mit seinem tarnfarbenen Land Rover angebrettert kam, auf dem Kopf einen grauen Filzhut mit schwarzer Garnitur, der ihn wie Indiana Jones aussehen ließ. Am Ende des gemeinsamen Mittagessens, das aus einer Militärküche stammte und mit der Gulaschkanone angeliefert wurde, pflegte er jeden Tag aufs Neue ein paar Meter nach oben zu klettern und mit den Worten „Wer den fängt, darf gleich das Geschirr spülen!“ einen zu einem Papierflieger gefalteten 20-Euro-Schein in Richtung des Teams zu werfen. Danach verschwand er wieder. Wo er den Rest des Tages verbrachte, war unklar, und nach einer Woche stellte er seine Besuche ganz ein. Von Bouchon hatte er sich mit den Worten verabschiedet: „Ich bin dann mal weg. Inzwischen schmeißen Sie den Laden. Ich habe in Kroatien ein Golfturnier. Brijuni. Wissen Sie vielleicht, wo das ist?“
Als Bouchon sich all diese Demütigungen wieder ins Gedächtnis rief, begannen plötzlich seine Augen zu brennen. Aber dies war nicht der Moment, um Tränen der Verzweiflung zu vergießen. Es war der Moment der Nemesis. Höchste Zeit, dass jemand Croqué endlich seine Grenzen aufzeigte. Und dieser Jemand würde er sein. Die Zeit des Zauderns, des Einsteckens und Runterschluckens war vorbei.

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