Aktualisiert: 11. Apr.
In der Schule sitze ich neuerdings neben Mathias Herzog. Er wohnt in der Melanchthonstraße und hat mich eingeladen, ihn zu besuchen. Mama erlaubt es, wenn Paul mich beim ersten Mal hinbringt und auch wieder abholt, aber Paul hat keine Lust, weil der Vater von Mathias Lehrer an seiner Schule ist und er ihm nicht begegnen will.
In der ersten Stunde schreiben wir ein Diktat. Fräulein Tirschmann liest uns Stückchen für Stückchen vor, und wir müssen mitschreiben. Kommas und Punkte liest sie mit.
Unsere Schule heißt Zeppelinschule. Sie liegt in der Neufferstraße. Es ist ein großes Gebäude, das aus 2 Flügeln besteht. Es hat 4 Stockwerke und 27 Schulsäle. Mit den Kleiderkammern sind es 40 Säle. Im Keller sind der Dusch- und Gymnastikraum.
Mitten im Diktat klopft es an der Tür. Fräulein Tirschmann ruft Herein, aber nichts passiert, und deshalb geht sie zur Tür und macht sie auf, und da steht ein Mann, den wir nicht kennen, dunkler Anzug, weißes Hemd mit Schlips, Brille, Haare zurückgekämmt. Er hat die Hände hinter dem Rücken und sagt irgendwas zu Fräulein Tirschmann, und sie lässt ihn rein und zeigt auf die Bank vorne rechts, gleich hinter dem Pult, und da wissen wir, dass es der Vater vom Hinze ist. Hinze muss aufstehen und sein Vater reicht ihm die Hand, und dann gehen sie zusammen vor die Tür. Fräulein Tirschmann will schon mit dem Diktat weitermachen, da wird plötzlich hinter der Tür geschrien und dazu gibt es ein Geräusch, wie wenn ein Teppich ausgeklopft wird, und dazu immer ein Schrei, au-au-au-au-au, zehn-, zwölfmal. Dann geht die Tür wieder auf, Herr Hinze streicht sich die Haare aus dem Gesicht und führt seinen Sohn wieder an seinen Platz. Als Hinze an meiner Bank vorbeigeht, sehe ich, dass er Tränen in den Augen hat, aber unter den Tränen grinst er uns an, wie wenn er sagen wollte, es hat überhaupt nicht wehgetan.
Hinterher müssen wir mit unserem Nachbarn die Hefte tauschen und uns gegenseitig verbessern. Weil Mathias und ich mit der Fehlersuche ganz schnell fertig sind, muss ich das Diktat von unserem Neuen verbessern. Er heißt Robert und hat fast jedes Wort falsch geschrieben, und statt 27 steht bei ihm 72. Als ich fertig bin, zeige ich Fräulein Tirschmann das Heft, aber sie verhaut ihn trotzdem nicht, weil Robert Franzose ist und es nicht besser weiß.
Es gibt viele Franzosen in Speyer, die meisten sind Soldaten und wohnen in der Nähe vom Neuen Hafen. Wenn ich mit Paul angeln gehe, marschiert manchmal ein Zug Soldaten auf dem Leinpfad zwischen Rheinbrücke und Speyrerbach, und der Wind trägt die Kommandos der Unteroffiziere herüber: öng-dö, öng-dö...
Damit Robert in Ruhe mit mir die Verbesserung machen kann, schickt uns Fräulein Tirschmann in die Kleiderkammer, wo unsere Jacken und Anoraks hängen und wo wir auch unsere Regenschirme aufspannen können. Kaum hat Fräulein Tirschmann die Tür hinter uns geschlossen, fängt Robert an zu singen und grinst mich dabei dämlich an: Buschör, Besiklar, Buschör, Besiklar. Garantiert sind es Schimpfwörter, aber weil ich sie nicht verstehe, ist mir das schnuppe. Ich zeige ihm im Heft, wann man s schreibt und wann ß, aber Robert schaut gar nicht hin und spielt stattdessen mit dem Auto, das er in der Hosentasche versteckt hatte. Als ich versuche, es ihm wegzunehmen, stößt er mich zu Seite und schreit Nazischweinehund. Jetzt wird mir die Sache zu blöd.
Benimm dich manierlich! Oder ich geh zu Frolln Tirschmann!
Robert juckt das kein bisschen. Ich gehe zur Tür, aber bevor ich die Klinke runterdrücke, drehe ich mich noch einmal um.
Öng... dö... und die letzte Zahl heißt...
Salüsalo sagt Robert und grinst mich tückisch an.
Fräulein Tirschmann ist nicht begeistert, als ich ohne Robert aus der Kleiderkammer komme. Ich habe große Lust, ihn für seine Frechheit zu verpetzen, aber dann sage ich nur, dass er ja noch weniger als ein Erstklässler weiß. Das stimmt, seufzt Fräulein Tirschmann, aber dafür ist er euch im Rechnen sogar voraus.
In der zweiten Stunde schreibt Fräulein Tirschmann Wörter und Sätze mit „heim“ an die Tafel und wir müssen sie abschreiben:
Heimat, Heimatkunde, Kinderheim, heimatlos, Heimweh. Die Heimkehr des Vaters freut uns alle sehr. Daheim zu bleiben habe ich gern. Wer die Heimat nicht liebt, ist ein armer Mensch. Manche Väter kehrten nach dem Krieg nie mehr heim.
Plötzlich klopft es wieder an die Tür. Im ersten Augenblick denke ich, der Vater vom Hinze ist zurückgekommen, um seinen Sohn für sein freches Grinsen noch einmal zu verhauen. Aber diesmal ist es Herr Direktor Starke, und statt sich erst mit Fräulein Tirschmann zu besprechen teilt er uns mit, dass gestern Abend in Amerika etwas sehr Schlimmes passiert ist: Präsident Kennedy ist ermordet worden. Ja, Kennedy ist tot, der beste Freund, den Deutschland jemals in Amerika hatte. Er wurde in seinem Auto auf offener Straße erschossen, und das kann für die Welt schlimme Folgen haben. Aus Respekt vor diesem großen Mann und als Zeichen unserer Trauer endet heute an allen Schulen der Unterricht nach der 3. Stunde.