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Als sein Telefon klingelte, war Professor Croqué gerade dabei, auf einem Schimpansenschädel mit dokumentenechter Ausziehtusche seinen privaten Besitzvermerk in Form eines Ziermonogramms anzubringen. Es war ein Moment, den er bereits 63 Mal genossen hatte und noch weitere 43 Mal genießen würde. Sein Signum ersetzte den ursprünglichen Besitzvermerk „Sammlung Russ/Reichsuniversität Straßburg“, den er bereits von jedem Stück der historischen Primatencrania-Sammlung, die der Zoologe Wilhelm Russ Ende des 19. Jahrhunderts der Universität gestiftet hatte, eigenhändig mit Zahntechniker-Spezialwerkzeug abgeschliffen hatte. In einem weiteren Arbeitsgang hatte er 107 Mal mit dem Flachpinsel eine neue Schriftunterlage aus schnelltrocknendem Zaponlack aufgetragen, und zuletzt würde eine Schicht aus Klarlack die Prozedur abschließen.


Croqué war mittlerweile im fünfundzwanzigsten Jahr Universitätsprofessor, und niemand, am wenigsten er selbst, zweifelte daran, dass er es auch noch weitere fünfundzwanzig Jahre sein würde. Sein Leben war wie ein abgeschossener Pfeil, der kraftvoll unterwegs war, und er selbst war der Schütze gewesen, er war Schütze, Bogen und Pfeil zugleich. Zu groß war sein Renommee, zu fest saß er im Sattel, zu wohl fühlte er sich hier im selbst gemachten Nest. Mit Gewieftheit und Raffinesse hatte er sich ein dehnbares, geschmeidiges Image geschaffen, das nicht nur groß genug war, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen, sondern auch dazu taugte, es mit dem Rest der Welt aufzunehmen.


Als die aufgrund einer Strukturreform neu gebildete Fakultät für Humanwissenschaften 1991 einen Paläoanthropologen suchte, der neben einer geringen Lehrverpflichtung von lediglich vier Wochenstunden das bestehende Humanbiologische Institut zu einem Institut für Biologische und Forensische Anthropologie ausbauen sollte, schlug Croqués große Stunde. Erfüllt von der Sicherheit, die ihm sein blendendes Aussehen gab, hatte er es glänzend verstanden, sich als weltgewandter Fachkundiger und charismatischer Draufgänger von aristokratischer Haltung und zugleich intellektueller Lässigkeit zu präsentieren. Das war der Fahrstuhl, der ihn nach oben trug. Keiner in der Berufungskommission erkannte ihn als den, der er in Wirklichkeit war: ein Blender und Scharlatan.


Seiner eigenen Einschätzung zufolge hatte sich Croqué viel zu lange schon von der mangelnden Bereitschaft der Welt, ihm die Chance der Teilnahme an einem fairen Wettbewerb zu gewähren, demütigen lassen – jenem Wettbewerb, der darin bestand, sich, wie sein Großvater es ausgedrückt hätte, vom dumpfen zoologischen Gattungswesen zu einem Mann des Ruhms zu erheben. Während er selbst nichts ohne äußerste Anstrengung erreichte, fiel anderen offensichtlich in den Schoß, was aufgrund ihrer Herkunft für sie vorgesehen war. Er kam sich vor wie ein Amateursportler, der gegen Profis antreten musste. Und weil das nicht fair war, wurde er zum Romancier seiner selbst. Croqué wusste, dass große Lügen aus kleinen Wahrheiten gemacht werden. Im handschriftlichen curriculum vitae, das seiner Bewerbung beilag, schmückte er die bescheidenen, jedoch nicht zu widerlegenden Fakten seines Lebens durch phantasiereiche Erfindungen aus und steigerte ihre Bedeutung so um ein Vielfaches.


Dass er am 14. Januar 1962 in Saint-Denis geboren wurde, das Lycée André Gide seiner Heimatstadt besucht, anschließend einen zweijährigen Militärdienst absolviert und zehn Semester in den USA studiert hatte, entsprach der Wahrheit. Aber bereits die Behauptung, während der beiden letzten Jahre vor seinem Baccalauréat habe er mithilfe eines Hochbegabtenstipendiums die High School in Québec besuchen können, war reine Erfindung. In Wirklichkeit hatte er Saint-Denis nicht verlassen, nicht einmal in den Ferien. Trotzdem verwies er bis heute gern auf seine schöne Schulzeit in Kanada und die daraus resultierenden freundschaftlichen Kontakte. „Ich war auf derselben Schule wie Justin Trudeau“, lautete eine dieser Histörchen. „Er war ein paar Klassen unter mir und schon damals ein heller Kopf, aber stinkfaul und ohne Aussichten auf Versetzung. Sein Vater bat mich, ihm Nachhilfe in Französisch und Biologie zu geben. Und damit hat er es dann geschafft. Manchmal, wenn ich drüben bin, rufe ich ihn an und wir treffen uns auf ein Bier. Netter Bursche.“


Sechs Wochen nachdem er das Baccalauréat scientifique erworben hatte, wurde Croqué zum Militär einberufen. Hier unternahm er den entscheidenden Schritt, der ihn von seiner Vergangenheit befreite, indem er nämlich in sämtlichen Dokumenten, die seinen Namen trugen, den Schlussbuchstaben seines Nachnamens mit einem Accent aigu versah, wodurch er sich schlagartig aller Spötteleien und Anzüglichkeiten, die er während seiner Schulzeit hatte erleiden müssen, enthob. In Saint-Denis war Monsieur Croque! Croque-Monsieur! der Schlachtruf seiner Feinde auf dem Schulhof gewesen; in der Pause hatten sie unzählige Male zum Hohn die Abbildung eines Croque, von dem geschmolzener Käse herabtropfte, an die Tafel gemalt, und im Unterricht hatte die Erwähnung des Wortes Sandwich oder Toast genügt, um seine Mitschüler grinsend nach ihm schielen und ihn erröten zu lassen.


Pure Erfindung war ebenfalls die angeblich nach dem regulären Militärdienst erfolgte zweijährige Delegierung zur Air Intelligence Agency, dem Geheimdienst der Air Force. Sie diente lediglich dazu, eine Lücke in seiner Biographie zu füllen. Als der Soziologieprofessor Loupp, ein älteres Mitglied der Berufungskommission, der 1968 zu den führenden Köpfen der Studentenbewegung gehört und seitdem Einreiseverbot in die USA hatte, ihn beim Kandidatenkolloquium auf diesen Punkt ansprach, machte Croqué ein ernstes Gesicht und erklärte, er habe sich seinerzeit verpflichten müssen, über seine Tätigkeit für die AIA allzeit Stillschweigen zu bewahren. Damit erübrigten sich weitere Nachfragen. Niemand kam auf die Idee, es handle sich um pure Aufschneiderei. Tatsächlich hatte er in den zwei Jahren für eine Servicefirma gejobbt, die das Kohlekraftwerk in Le Havre wartete. Erst das in dieser Zeit angesparte Geld ermöglichte ihm die Immatrikulation an der Universität von Kalifornien in Monterey, wo er Chemie, Geologie, Anthropologie und Evolutionsbiologie studierte.


Croqués Abhandlung, mit der er in Monterey das Philosophical Doctorate erwarb, beschäftigte sich mit Quantitative Computed Tomography of Gorilla Cartilage from Cameroon. Laut eigener Aussage war Francis Clark Howell, von dem er behauptete, er habe als Gastdozent in Monterey gelehrt, sein Doktorvater gewesen, mit dem ihn seitdem eine väterliche Freundschaft verbinde. Als Betreuer seiner Dissertation war allerdings ein gewisser Jared Bracke angegeben. Darauf angesprochen, bezeichnete Croqué ihn als „berühmten Forensiker“ und „Nestor der amerikanischen Paläoanthropologie“. Bei amerikanischen Kollegen hätte er mit dieser Bemerkung spöttische Blicke, mindestens aber Achselzucken und Kopfschütteln geerntet, denn Bracke hatte das fünfte Lebensjahrzehnt noch nicht vollendet und war erst mit einer einzigen Fachveröffentlichung hervorgetreten, Diagenetic Analysis of Gorilla Cartilage from Cameroon. Doch woher sollten Loupp und die anderen Mitglieder der Kommission, der Erziehungswissenschaftler Brèthes, die Humanbiologin Villetard, der Psychologe Geisser und die Heilpädagogin Bemba, das wissen? Croqués großes Lügenmärchen war so erfolgreich, weil es mit lauter kleinen hieb- und stichfesten Wahrheiten durchmischt war.

 

 
 
 

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