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Paul ist zu groß für seinen Roller und wünscht sich ein Fahrrad mit Dreigangschaltung und Rennlenker. Er würde gerne Onkelgeorg einen Brief schreiben mit seinem Wunsch, aber Mama sagt, untersteh Dich, an Onkelgeorg schreibt man nicht ohne Sinn und Verstand. Wenn einer an Onkelgeorg schreibt, bin ich das, weil man genau den Ton treffen muss, sonst gibt es gar nichts. Sie diktiert Paul den Brief, und das Fahrrad darf nicht erwähnt werden. Ob du mir wieder in dem guten Schuhgeschäft Schuhe kaufst? Meine vom vorigen Jahr drücken schon arg vorne an den Zehen, und zum Geburtstag weiß ich auch schon ein tolles Geschenk: Das muss er schreiben.

Im Sommer kommt Onkelgeorg zu Besuch. Er wohnt bei Frauhepting und isst jeden Tag bei uns zu Mittag. Er ist ziemlich alt und den ganzen Tag vornehm angezogen, mit Anzug und Krawatte. Er ist Pauls Patenonkel, und deshalb bekommt Paul zur Begrüßung ein großes Zweimarkstück für seine Spardose und ich nur ein kleines Fünfzigpfennigstück. Paul meint, meins sei mehr wert, denn fünfzig ist mehr als zwei, aber tauschen will er trotzdem nicht.
Mit Onkelgeorg essen wir wie ein König: Kalbfleisch, Hähnchenbrust, Spargel, Butterreis, Sechseierpudding und jeden Tag Erdbeeren. Mama sagt, wir müssen ihn aufpäppeln mit gutem Essen. Am letzten Tag geht Onkelgeorg mit uns Schuhe kaufen und gibt Mama Geld für Pauls Geburtstagsgeschenk und sagt zu Mama, nächstes Jahr kommt er nicht zu uns und wir sollen in den Ferien alle zusammen an den Bodensee fahren.

Es ist Winter, und Papa ist wieder da. Er sagt, Wildbad ist ein Ort für Kranke, überall sieht man Gäste auf Krücken, in Rollstühlen und auf Tragbahren, er hat die Nase voll davon und demnächst fängt er in Frankfurt im Kaiserkeller an, aber fürs erste bleibt er bei uns.

Auch an Heiligabend ist Papa zuhause, weil er zusammen mit Mama dem Christkind helfen muss. Paul und ich sitzen im Kinderzimmer auf der Fensterbank. An der Fensterscheibe bilden sich Eisblumen, die ganz leicht wegzuhauchen sind, und in dem Dunstfleck kann man herummalen. Dicker Schnee liegt auf Straßen, Gärten und Dächern, aus den Kaminen steigt Rauch.

Endlich kommt Papa aus dem Wohnzimmer und holt uns herein. Musik spielt, am Baum brennen viele Kerzen, dazwischen hängen blaue, rote und grüne Kugeln, silberne Fäden und Strohsterne. Solange die Schallplatte läuft, müssen wir auf den Baum gucken, und wenn wir die Augen ein bisschen zukneifen, strahlen die Kerzen noch mehr. Danach zündet sich Papa eine Zigarette an und liest die Weihnachtsgeschichte vor. Als die Kerzen heruntergebrannt sind und anfangen zu flackern, pustet Papa sie der Reihe nach aus. Jetzt endlich dürfen wir uns abwechselnd unsere Geschenke holen. Paul bekommt einen Märklin-Baukasten, ein Buch und einen großen Lebkuchenmann und ich bekomme ein Stofftier und ein Bilderbuch und einen kleinen Lebkuchenmann. Mama bekommt von Papa einen Globus auf einem Ständer zum Drehen, auf dem man alle Länder sehen kann, die wir von den Briefmarken kennen. Papa zeigt uns Chile und sagt, da wohnt Onkelpaul mit seiner Familie. Das ist Kamerun, da war Großvati als junger Mann. Paul zeigt auf Brasilien und sagt, da spielt Pelé, und Pelé ist der beste Fußballer der Welt, sogar noch besser als Uwe Seeler.

Zum Schluss werden die Weihnachtspakete ausgepackt, die wir bekommen haben. Die meisten kommen aus der Ostzone. Tantehilde schickt uns Anziehsachen, weil sie selber drei Kinder hat, und ein Junge ist so alt wie Paul und einer ist so alt wie ich. Sie schickt auch ein schönes Bilderbuch, das von Amseleltern handelt, die ihr Nest auf dem Balkon im Blumenkasten gebaut haben, und jetzt können die Leute durchs Fenster beobachten, wie die Jungen gefüttert werden, niedliche Vogelkinderchen. Ich liebe Vögel, denn sie sind so süß. Leider sind sie auch ängstlich. Immer möchte ich sie streicheln, aber sobald ich auch nur die Hand ausstrecke, sind sie auf und davon. Wie schön, wenn sie ihr Nest statt im Garten auf dem Balkon bauen. Leider werden wir nie eine Amselfamilie zu Gast haben, denn unsere Wohnung hat keinen Balkon, und alle unsere Blumen stehen im Wohnzimmer und sind Kakteen.

Dann ist Papa wieder in Frankfurt und Mama, Paul und ich gehen ins Kino. Für mich ist es das erste Mal. Der Film heißt „Bilderbuch Gottes“. Man sieht alle Arten von Tieren, kleine und große, und ein Mann erzählt dazu, wie die Tiere heißen und was sie das ganze Jahr über machen. Manche Tiere springen die steilen Berghänge hinauf und hinunter, das sind Steinböcke. Zwei Hirsche kämpfen miteinander. Sie laufen aufeinander zu, die Geweihe knallen zusammen, einer drückt den andern nach hinten, dann kommen sie plötzlich wieder frei und alles geht von vorne los. Ich kriege Angst und fasse Mamas Hand, und als einer der Hirsche über die Felswand gedrückt und mit einem Stoß in den Abgrund befördert wird, fange ich an zu weinen. Warum hat der Hirsch nicht aufgegeben, frage ich Mama. Mama kann es mir nicht erklären, und in der Nacht darf ich bei ihr im Bett schlafen.



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