Die letzte Beerdigung, an der er teilgenommen hat, ist die von Dr. Adolf Flecken gewesen, nach dem Krieg Mitbegründer der CDU im Rheinland. Gestorben am zweiten Weihnachtstag in seiner Heimatstadt Neuß, im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Das feuchtkalte Wetter war pures Gift für seine Bronchien. Und doch hielt er es für seine selbstverständliche Pflicht, dem alten Weggefährten die letzte Ehre zu erweisen.
War nicht das erste Mal, dass ich am Grab eines Jüngeren stand. Letzten September ist schon der dritte von meinen Ministern verstorben. Keiner von denen war älter als ich. Alle weit jünger. Schäffer, Herzinfarkt mit achtundsiebzig. Dehler, keine siebzig, Herzschlag im Freibad. Seebohm, Lungenembolie mit vierundsechzig. Vor vier Jahren starb Heuss, neunundsiebzig. In dem Alter bin ich nach Moskau gefahren, hab die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause geholt. Stand danach noch weitere acht Jahre der Regierung als Bundeskanzler vor. Es waren nicht viele, die mir das zugetraut hatten. Wurden alle eines Besseren belehrt.
Was nicht bedeutet, von den üblichen Altersphänomenen verschont zu bleiben. Die immer komplizierter und langwieriger sich gestaltenden morgendlichen Prozeduren vor dem Waschbecken und in der Badewanne. Horstartige Haarbüschel in den Nasenlöchern. Ohrmuscheln, die immer mehr die Tendenz annehmen, sich vom Kopf zu entfernen und nach vorn zu krümmen, als könnten sie dadurch die zunehmende Schwäche des Gehörs kompensieren. Der Verlust von so vielem, über das man früher nie nachgedacht hat, weil sein Besitz so selbstverständlich war. Und die störrische Weigerung des Körpers, das Verlorene zu restaurieren. Vergangen, vergessen, vorbei. Dafür allerlei Wehwehchen und kleine Malheurs. Auch Anzeichen von Verweichlichung. Empfindlichkeit, besonders gegenüber herzlosem Verhalten. Sogar gelegentliche Anwandlungen von Sentimentalität. Um solcher Launen Herr zu werden, bedarf es eines eisernen Willens. Ganz besonders, was Enthemmungen angeht. Äußern sich bei dem einen so, bei dem andern so. Picasso zum Beispiel, der alte Halunke. Dem sein sogenanntes Alterswerk ist ja durchweg eiliges Gekritzel. Neuerdings malt er aber keinen Frauenakt mehr ohne haarige Rosette. Der Rest des Körpers flüchtig angedeutet, der Popo mit Liebe zum Detail. Und zwar serienmäßig. Früher hat ihn diese Region, soweit ich weiß, kaltgelassen. Wie muss der sein Gehirn traktiert haben mit Rotwein und Zigaretten, bis er dafür Interesse entwickeln konnte.
Ein paar Schritte vor ihm machen sich zwei Frauengestalten an einem Familiengrab zu schaffen. Könnten doch Gussie und Emma sein, die beiden. Nicht, um mich mitzunehmen. Bloß mal Guten Tag sagen. Wär schön, jetzt die Hand auszustrecken und nach ihnen zu greifen, ihnen ein verlegenes Lachen abgewinnen.
In der älteren der beiden, einer stämmigen Frau Ende Sechzig mit stattlichem Busen, erkennt er beim Näherkommen die Witwe Pfennigwerth. Mit ihrem vor vier Jahren verstorbener Mann, einem Bäckermeister, befand er sich jahrelang im Kriegszustand, weil der den Südhang des Drachenfels mit einer Seilbahn verschandeln wollte. Durch allerlei Versprechungen war es ihm gelungen, binnen kurzem den gesamten Ortsverein auf seine Seite zu bringen. Die Baupläne sahen vor, den Sessellift zwischen der Talstation gegenüber von Pfennigwerths Konditorei in Rhöndorf und der Löwenburg verkehren zu lassen, genau über seinem Grundstück. Die Fahrgäste hätten dann zur allgemeinen Gaudi in seinen Garten spähen, ihm beim Bocciaspielen und Kaffeetrinken zusehen können. Um das unselige Projekt zu verhindern, musste Adenauer in Stadt und Land seinen ganzen Einfluss geltend machen. Die Niederlage konnte Pfennigwerth nie verwinden.
Seiner Witwe hat in jüngeren Jahren üppiges blondes Haar zu einem imposanten Aussehen verholfen. Üppig ist es immer noch, dabei von viel Weiß durchzogen, doch macht es sie jetzt, wo sie alt und ohne ihren hitzköpfigen Ehemann ist, auf unangenehme Weise unübersehbar. Ihre Begleiterin ist eine junge Frau mit kurzem schwarzem Haar, wie es auch Gussie getragen hat.
„Guten Tag“, sagt er und lüftet, als beide Frauen sich zu ihm umdrehen, höflich den Hut. Seine Stimme kommt gepresst, die Anstrengung des Wegs hat ihm Atem geraubt.
„Der Herr Adenauer“, sagt die Ältere und blickt finster zu ihm hoch. Dann richtet sie sich auf, wobei sie sich auf den Grabstein stützen muss.
Schon vor seinem Rücktritt sprachen ihn beide Pfennigwerths niemals anders als Herr Adenauer an. Offenbar waren sie der Meinung, Alteingesessene hätten das Recht, sich untereinander formlos zu begegnen.
Wie plump die Bäckerwitwe trotz ihres forschen Auftretens im Vergleich mit dem straffen jungen Frauenkörper neben ihr wirkt. Jetzt reicht sie ihm sogar die Hand. Dann sagt sie: „Das ist meine Schwiegertochter, die Maria.“
Die junge Frau, hübsch auf unauffällige Weise, mit großen dunklen Augen, gewährt ihm ebenfalls einen Händedruck und deutet dabei einen Knicks an.
„Sind Sie etwa das ganze Stück gelaufen?“, fragt die Witwe und mustert ihn skeptisch von Kopf bis Fuß.
„Keine Sorge“, erwidert Adenauer gelassen. „Ich habe mich unten am Tor absetzen lassen.“
„Ich meine nur“, fährt die Witwe ungerührt fort, „weil ihr Schuhzeug nicht in Ordnung ist. Sie haben beide Schnürsenkel offen.“
Er starrt auf seine Schuhe, und dabei entschlüpft ihm eine überflüssige Bestätigung: „Tatsächlich.“
Ächzend geht die Witwe mit dem rechten Knie zu Boden, während sie den linken Fuß vor dem Körper aufsetzt. Sofort tut die Jüngere es ihr nach. „Aber Mutter“, sagt sie mit heller, klarer Stimme, „lass mich das doch machen.“
„Nein, das mache ich. Dir ist das ja nicht mal aufgefallen“, weist die Witwe sie zurecht. Sorgfältig bindet sie erst die eine, dann die andere Schleife, während Adenauer missmutig seinen Spazierstock tiefer und tiefer in den Gehweg bohrt.
Die Pfennigwerth soll nicht nett zu mir sein. Außerdem gehört es sich nicht, dass Menschen vor Menschen knien. Nur beim Papst habe ich mal eine Ausnahme gemacht. Der hieß damals aber auch Pius. Seinen naiven Nachfolgern Johannes und Paul habe ich bloß die Hand gedrückt. Beide ohne Sinn für die Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus. Franco hat ganz recht: Das einzige Resultat dieser Politik sind eine Million kommunistische Wähler mehr in Italien und hundert Millionen entmutigte Katholiken hinter dem Eisernen Vorhang.
„Christliche Nächstenliebe“, kommt ihr die Schwiegertochter zu Hilfe.
„Christenpflicht“, verbessert sie die Ältere mit einem harten Zug um den Mund. Anscheinend will auch sie auf keinen Fall versöhnlich wirken.
„Keine Angst, Frau Pfennigwerth“, knurrt Adenauer. „So etwas Niederträchtiges käme mir nie in den Sinn. Sie ihrerseits dürfen gern erzählen, dass Sie mich getroffen haben. Dann wissen die Leute wenigstens aus erster Hand, dass ich noch nicht ins Gras gebissen habe.“
„Da sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig“, versetzt die Witwe. „Übrigens, im August wird mein Enkel Peter acht. Raten Sie mal, was er zum Geburtstag bekommt.“ Spott lauert in ihren Mundwinkeln.
„Eine Spielzeug-Seilbahn?“
„Wer hat ihnen das denn verraten?“
„Ach, den Witz hat ihr seliger Mann schon vor fünf Jahren gemacht. Geantwortet habe ich ihm folgendes: ‚Wie originell, Herr Pfennigwerth. Und wissen Sie, was sich mein Enkel Konrad zu Weihnachten wünscht? Einen Abrissbagger.‘“
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