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Das Institut für Biologische und Forensische Anthropologie an der Straßburger Université Sébastien Brant war zusammen mit einigen anderen Instituten der Humanwissenschaftlichen Fakultät in einem mehrstöckigen, nüchternen Zweckbau aus den 60er Jahren in der Rue Goethe untergebracht. Die Umgebung immerhin war beschaulich, denn die Fenster auf der Südwestseite schauten auf den Botanischen Garten der Universität, eine grüne Oase im Herzen der Stadt mit romantisch verschlungenen Parkwegen, einem Seerosenteich und alten, tief eingesunkenen Parkbänken unter hohen, schattenspendenden Pekannuss- und Riesenmammutbäumen.


Das Sekretariat des Instituts befand sich im fünften Stock. Marine Loisy, die Institutssekretärin, hantierte gerade an ihrer Kaffeemaschine, als Alexander bei ihr klopfte und war daher über die Störung nicht sonderlich erbaut. Sie war Anfang dreißig, hatte langes blondes Haar und machte den Eindruck, als würde sie sich zwischendurch gerne mal einen ordentlichen Happen genehmigen. Eine Kaffeepause war sicherlich so ein Moment. Marine war es gewohnt, nicht angemessen wahrgenommen zu werden, obgleich sie ihren Hintern für ganz passabel, wenn nicht sogar hervorragend hielt und ihre birnenförmige Figur unter luftiger Kleidung verbarg. Sie schenkte Alexander ein einstudiertes Lächeln, an dem ihre Augen keinen Anteil hatten, und nahm sich nicht mehr als das nötige Mindestmaß an Zeit, um ihn anzuhören, wobei sie gedankenverloren eine Haarsträhne über den Zeigefinger drehte. Dann erklärte sie ihm, dass an diesem Tag keiner der leitenden Mitarbeiter im Hause sei. Und um ihn schnellstmöglich loszuwerden fügte sie hinzu, dass er sein Anliegen Dr. Bouchon vortragen könne, dem Chefassistenten von Professor Croqué: 6. Stock, vom Aufzug aus rechts, immer geradeaus, durch zwei Glastüren, Zimmer 655.


Alexander fuhr eine Etage nach oben. Auf seinem Weg durch den langen Korridor begegnete ihm niemand, auch waren hinter den geschlossenen Türen keinerlei Geräusche zu hören. Das ganze Institut schien wie ausgestorben, von allem Lebendigen entleert. Dann ging weiter hinten eine Tür auf und eine Gestalt in einem weißen Laborkittel blieb im offenen Türrahmen stehen. Alexander ging darauf zu. Es war ein blassgesichtiger Mann unbestimmbaren Alters mit gekrümmten Schultern und dünnem, gelblichem Haar.


„Dr. Bouchon?“


„Ganz recht.“


„Mein Name ist Fairchild“, sagte Alexander und streckte ihm seine Hand entgegen. „Ich habe eine Forschungsprofessur für Physische Anthropologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte in Washington.“


Bouchons Hand war so weich, dass Alexander es nicht wagte, sie auf mehr als behutsame Weise zu schütteln.


„Sehr erfreut, Herr Professor.“ Bouchon lächelte mechanisch und lud ihn mit einer Handbewegung ein, näher zu treten. Die Tür ließ er offen.


Das Büro war nicht sehr groß und annähernd quadratisch, mit einem niedrigen, vergitterten Fenster, das auf den Innenhof der Universität zeigte. Davor stand ein altmodischer Schreibtisch mit einem modernen Drehstuhl. Die Wände waren mit Regalen und Bücherschränken zugestellt, aber es war nicht auszumachen, ob hinter den Glastüren auch anatomische Präparate aufbewahrt wurden. Es roch nach Staub und Pfefferminzöl und nach irgendetwas anderem, doch fiel Alexander nicht ein, was es sein könnte.


Bouchon klemmte sich hinter seinen Schreibtisch. „Ich kann Ihnen leider keinen Sitzplatz anbieten. Üblicherweise bin ich hier immer allein.“


„Das macht gar nichts. Man sitzt sowieso schon zu viel.“


„Was kann ich für Sie tun?“ Bouchon stützte den linken Ellbogen auf die Tischplatte und ließ sein Kinn auf der Hand ruhen.


„Ich war am Sonntag mit meiner Frau in ihrer Ausstellung im Rohan-Palast.“


Bouchon verlagerte beide Hände auf seine Oberschenkel. „Hat sie ihnen gefallen?“


„Ungemein. Wir waren regelrecht fasziniert.“


„Tatsächlich. Ja, die Abweichungen vom Normalen, die Difformitäten und Abnormitäten sind immer interessant.“ Bouchon verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.


„Sehr beeindruckend die verschiedenen Formen der Megalocephali.“


Bouchon nickte. „Ja, wir sind recht gut ausgestattet. Unser Bestand umfasst etwa 13.000 Objekte und geht auf das 17. Jahrhundert zurück… Da sind schon einige Hochkaräter dabei.“ Inzwischen war sein linker Fuß auf dem rechten Knie zur Ruhe gekommen.


„Die Brachycephali, Oxycephali, Sphenocephali...“


„So, die haben es Ihnen also angetan. Und ich dachte, Sie hätten besonders an unseren herausragenden Lungen- und Leberpräparaten Gefallen gefunden. Haben Sie denn wenigstens den Situs inversus gesehen? Männlich, 42 Jahre, etwa 1750?“


„Ich bin mir nicht sicher.“


„Ein Trockenpräparat auf einem eisernen Dreifußständer. Sämtliche Eingeweide in verkehrter Lage!“


„Ah, das bunte Ding? Ich habe die Beschriftung nicht gelesen.“


„Die Trachea in Gelb, Ösophagus und Magen in Grün, Herz und die großen Arterien in Rot. Magen und Darm aufgeblasen und teilweise ausgestopft. So ein Totalis kommt alle 100 Jahre vor.“

Bouchon fingerte an der Mechanik seines Stuhls herum. Offenbar wusste er nicht, wohin mit seinen Händen, wenn er nicht gerade präparierte. „Und was genau –“


Alexander ignorierte die Aufforderung. Er hielt es nicht für klug, gleich die Karten auf den Tisch zu legen – zu bekennen, dass er einzig und allein wegen des Turricephalus gekommen war.


„Ich habe mich an den Makrocephali festgesehen. Besonders beeindruckend war der mit spina bifida bis zum 7. Brustwirbel hinauf. So etwas habe ich noch nie gesehen.“


In Bouchons bis dahin schlaffe Gesichtszüge kam Bewegung. Seine Hände ruhten jetzt gefaltet in seinem Schoß, aber die Daumen schlugen erregt gegeneinander. „Das Gegenstück ist der Anencephalus mit kompletter Hydrorrhachis. Haben Sie den auch bemerkt?“


„Wie hätte ich den Anencephalus übersehen können“, antwortete Alexander ruhig. „Sehr merkwürdig, die Diviation an ein und derselben Stelle bei beiden Präparaten. Erstaunlich, dass das Brustsegment der Wirbelsäule trotz des mangelhaften Verschlusses seiner Wirbelbögen seine Stellung beibehalten konnte.“


Diese Beobachtung erhob ihn für Bouchon endgültig in den Rang eines Connaisseurs.


„Ich kann es mir nur so erklären“, erwiderte er eifrig, „dass die Wirbelkörper an den Bögen, die den Thorax bilden, eine hinreichende Stütze fanden. Der 1. Lendenwirbel war dadurch gewissermaßen freigestellt, und über diesem Wirbel hat sich der bewegliche obere Teil der Wirbelsäule verschoben. Sie müssen diese Auffassung nicht teilen“, fügte er hinzu, „es bleibt eine Mutmaßung.“


Alexander schüttelte den Kopf. „Nein nein“, sagte er schnell, „für mich klingt es völlig plausibel.“


„Ich kam darauf durch Analogieschluss“, erklärte Bouchon. „In der Sammlung Schroeder van der Kolk in Utrecht gibt es eine Schiebung des letzten Lendenwirbels. Daraus hat sich eine Horizontalstellung des Kreuzbeins entwickelt, das mit der Lendenwirbelsäule beinahe einen rechten Winkel bildet. So bin ich darauf gekommen.“


„Ich bewundere Ihren Scharfsinn. Denn was nutzt die schönste Sammlung, wenn sie nicht von gewissenhaften Kuratoren erschlossen wird.“


„Oh, ich bin nicht der Kurator“, wehrte Bouchon ab. „Ich bin nur der persönliche Assistent von Professor Croqué und als solcher auch mit der weiteren Erschließung der Bestände befasst.“


„Es muss eine wunderbare Aufgabe sein, sich Tag für Tag mit dieser exquisiten Sammlung befassen zu dürfen. Ich würde gern mit Ihnen tauschen.“


Die Andeutung eines Lächelns huschte über Bouchons blasses Gesicht. „Das ist nicht ihr Ernst, oder?“


„Doch, das ist es. Eine wunderbare Sammlung an einem wunderbaren Ort. Und jede Menge sensationelle Präparate. Den kleinen Turricephalus aus dem 18. Jahrhundert zähle ich auch dazu. Einfach fabelhaft.“


„Da weiß ich im Moment nicht genau, welchen Sie meinen.“


„Er soll aus Waldbach stammen.“

Alexander sah Bouchon fest an, aber in dessen Augen veränderte sich nichts. Vielleicht spannten sich seine Wangen ein bisschen, aber das mochte Einbildung sein.


„Ach, DOMINIQUE.“


„DOMINIQUE?“


„Wir nennen ihn DOMINIQUE, weil wir uns über das Geschlecht nicht sicher sind.“


„Ist es wirklich ein Präparat aus dem 18. Jahrhundert aus Frankreich?“


Bouchon lächelte schmallippig. „Wenn es so deklariert ist... Oder was denken Sie?“


„Es ist alles so makellos. Ich kann an den Knochen gar keine Furchen erkennen, auf denen die Sehnen liegen könnten, keine Leisten, an denen die Bänder sitzen könnten.“


„Die Reflektion des Raumlichts auf dem Glas wird Sie geblendet haben. Seien Sie versichert, alles was Sie vermissen, ist vorhanden.“


„Nicht mal Durchtrittslöcher für Nerven und Gefäße an der Schädelbasis scheint es zu geben.“


„Man könnte meinen, Sie hätten den Schädel bereits exploriert.“


„Das nicht, aber wenn man mir die Gelegenheit gäbe, würde ich sicherlich nicht nein sagen.“


Bouchon versteifte sich. „Das allerdings kann ich definitiv ausschließen, Mr. Fairbanks“, erwiderte er frostig.


„Fairchild, Alexander Fairchild.“


„Pardon. Bis auf weiteres ist die gesamte Sammlung für die Benutzung gesperrt.“


„Weshalb?“


Bouchon setzte zur Antwort an, aber dann wurden seine Augen hart. „Anordnung der Direktion.“


„Verzeihen Sie, aber das ist keine Begründung.“


Wieder verschränkte Bouchon die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.“


„Jetzt machen Sie mich erst recht neugierig.“


„Sprechen Sie mit dem Institutsdirektor, Professor Croqué. Tragen Sie ihm ihre Zweifel vor.“


„So förmlich wollte ich es eigentlich gar nicht angehen“, erwiderte Alexander gleichmütig. „Ich bin lediglich interessiert, sagen wir: auf spezielle Weise.“


Hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert, starrte Bouchon den Störenfried aus Washington feindselig an.


„Wissen Sie, Mr. Fairchild, wir haben zurzeit jede Menge Leute hier, die lediglich interessiert sind, und in Wahrheit sind sie Teil einer Kampagne.“


„Ich bin sicher kein Teil einer Kampagne, Herr Doktor. Wogegen richtet sie sich?“


„Es handelt sich um eine Schmutzkampagne gegen unser Institut, und damit auch gegen unsere Förderer und Unterstützer. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Und was ihr Objekt der Begierde angeht: Sie können es sich im Rohan-Palast ab Dienstag wieder anschauen.“


„Wir wollten eigentlich morgen früh nach Paris weiterfahren“, sagte Alexander.


„Tja, da müssen Sie sich wohl entscheiden. Ich kann Ihnen nur anbieten, es morgen zu versuchen. Ich werde ab 12 Uhr vor Ort sein. Vielleicht schaut auch Professor Croqué vorbei. Dann können Sie alle Ihre Fragen stellen.“


Nach diesen Worten wand sich Bouchon wieder hinter seinem Schreibtisch hervor und Alexander trat in die offene Tür, wo er stehen blieb, um sich zu verabschieden. Danach drehte er sich um, und Bouchon schloss hinter ihm die Tür.


Nach ein paar Schritten blieb Alexander lauschend stehen. Dann kehrte er auf Zehenspitzen zurück und legte sein Ohr an die Tür. Er konnte hören, dass Bouchon telefonierte, aber zu verstehen war nichts. Erst auf dem Korridor fiel ihm ein, wonach es in Bouchons Büro gerochen hatte: Es war Babypuder, eindeutig.

 

 
 
 

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