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Das Restaurant war trotz der frühen Nachmittagsstunde gut gefüllt. In den zum Fluss gelegenen Räumen hatten sich mehrere Touristengruppen breitgemacht, aber in einer Nische entdeckte Kim einen freien Zweiertisch. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, zog Kim ihren kleinen Straßburgprospekt aus der Handtasche und faltete ihn so, dass die Seite mit den Museen oben lag. Sie tippte auf die Informationen zum Museum für zeitgenössische Kunst und schob ihn zu Alexander hinüber.


„Da. Da wäre ich lieber hingegangen.“


Alexander warf einen flüchtigen Blick auf die Seite. „Dann hättest Du eben doch Michael Brendon heiraten müssen. Dann hättest Du die Kunstschätze gleich im eigenen Haus gehabt.“


Kim legte den Kopf schräg und fixierte ihn. „Ich hätte Mike niemals geheiratet, Alex.“


Alexander grinste. „Wie ich gehört habe, wart ihr aber nah dran.“


Vom Tisch gegenüber, an dem ein halbes Dutzend junger Frauen saß, kam schallendes Gelächter herüber.


„Ich hätte Mike niemals geheiratet und damit basta“, fauchte Kim und griff nach dem Straßburgprospekt, um ihn wieder einzustecken. Im selben Moment brachte einer der Kellner ein Tablett mit einem großen Kronenbourg für Alexander und einem Perrier für Kim. Kim schenkte sich ein und hob ihr Glas.


„Auf die Paläoanthropologie!“


„Auf die Kunst“, sagte Alexander. Ein Gefühl von Besitzerstolz veranlasste ihn, über den Tisch zu greifen und ihre Hand zu nehmen.


„Stattdessen bist Du in meine Fänge geraten, und nun wirst Du von mir von einem archäologischen Museum zum nächsten geschleppt. Aber weißt Du auch, dass ich Dir, also euch beiden, dadurch einen Gewaltmarsch ans andere Ende der Stadt erspart habe?“


Er schlug die Seite mit dem Plan der Innenstadt auf, auf dem eine Handvoll Sehenswürdigkeiten dick umkringelt waren. „Hier ist der Kardinalspalast…Hier sind wir jetzt… Und hier ist das MAMCS.“


Er zeigte auf einen Punkt am linken Rand des Stadtplans.


„Dafür hätten wir zweimal den Fluss überqueren müssen... Das wären fast zwei Kilometer gewesen.“


Ein Kellner tauchte auf, flink und geräuschlos wie eine Katze auf Velour, und setzte ihre Vorspeisen vor ihnen ab, die er auf Anhieb richtig zuordnete.


„Ich kann nicht ganz verstehen, warum Dich der Knochenzwerg so fasziniert hat“, sagte Kim, während sie ihre Gabel in die geraspelten Möhren stieß. „Oder war es am Ende eine Knochenzwergin?“


„Um das Geschlecht bestimmen zu können, müsste man die Proportionen genauer untersuchen“, antwortete Alexander, der damit begonnen hatte, die Scheiben aus Schweineschnauze in Aspik in mundgerechte Stücke zu teilen. „Ich glaube, in der Ausstellung haben sie das bewusst offen gelassen.“


Der Kellner stellte ein Körbchen mit Baguettescheiben auf ihren Tisch.


„Muss ich mir Sorgen um Dich machen, Alex? Bist Du vielleicht heimlich nekrophil?“


„Weil ich dieses Exemplar atemberaubend schön finde?“


„Du hast doch sicher schon Hunderte solcher Wasserköpfigen gesehen.“


„Turricephali, Turmschädel. Sagen wir Dutzende. Aber dieser war der schönste von allen.“


Kim legte ihre Gabel beiseite und sah Alex herausfordernd an. „Ich weiß gar nicht, wie man ein Gerippe als schön bezeichnen kann. Dazu ist es doch viel zu – eindimensional. Ja, genau. Es ist einfach nur... starr. Aufrecht und starr. Es fehlt die Breite. Der Umfang. Bewegung. Es kann ja nicht mal von alleine stehen!“


„Okay. Du vermisst den Eindruck von Lebendigkeit. Ja, dafür braucht es Fleisch und Muskeln. Aber das Ebenmaß der Körperteile wird durch den Knochenbau festgelegt. Versuch Dir mal vorzustellen, wie dieses bewegungslose Skelett, ohne wahrnehmbares Lebenszeichen, mit Fleisch bekleidet ausgesehen hat.“


Lustlos stocherte Kim in ihrem Salat herum. „Wenn ich versuche, mir das vorzustellen, überkommt mich große Traurigkeit. Memento mori-Traurigkeit. Also lass ich es lieber bleiben.“


„Der Eindruck muss umwerfend gewesen sein. Aber das Bemerkenswerteste daran ist etwas ganz anderes.“


Alexander schaute Kim aufmerksam an, als ob er die Antwort von ihr erwartete. Offenbar schien er sie gerade mit einer Teilnehmerin aus seinem Doktorandenkolloquium zu verwechseln. Kim versuchte, möglichst gelangweilt zu blicken und trank ihr Glas leer. In die lange Pause fiel das Lachen der jungen Frauen vom Nachbartisch.


„Mir stellen sich zwei Fragen“, fuhr Alexander fort. „Erstens: Wenn es ein Turricephalus ist, wieso gibt es keine Anzeichen für Kraniosynostose?“


„Kraniowas?“


„Vorzeitige Verknöcherung einer oder mehrerer Schädelnähte. Denn wenn keine Anzeichen für einen gestörten Wachstumsprozess zu erkennen sind, muss man von künstlichen Eingriffen während des Wachstums ausgehen. In Mittel- und Südamerika scheint diese Sitte ziemlich verbreitet gewesen zu sein. Und in einigen Regionen Afrikas bis vor einigen Jahrzehnten auch. Aber in Europa sind solche künstlich hervorgerufenen Schädeldeformationen seit der Spätantike nicht mehr vorgekommen. Und damit stellt sich die zweite Frage: Stammt das Skelett tatsächlich, wie angegeben, aus Frankreich und ist nur runde 200 Jahre alt? Das wäre eine Sensation.“

Kim fuhr mit dem Fingernagel die Umrisse eines Soßenflecks auf der ansonsten makellos weißen Tischdecke ab. „Wenn es keine Rarität wäre, hätten sie es doch nicht auszustellen brauchen.“


Alexander leerte seinen Humpen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Das wäre mehr als eine Rarität, eine Raritas raritatum.“


„Dann stammen die Gebeine eben aus der Spätantike.“


„Gebeine... „Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein so makelloses und zugleich perfekt konstruiertes Skelett gesehen! Wie aus einem 3-D-Drucker. Ein homo perfectus. So perfekt, dass man fast zweifeln könnte –“


Alexander führte den Satz nicht zu Ende, sondern bedankte sich mit einem stummen Kopfnicken bei dem Kellner, der ihre leeren Teller abgeräumt und durch neue, größere ersetzt hatte.


„Dass es echt ist“, ergänzte Kim. „Verstehe. Vielleicht ist es ja eine Fälschung, eine Montage aus mehreren Skeletten. Oder es ist künstlich erzeugt, ein Homunkulus, und Du hast ihn entdeckt! Oder –“


Sie sah Alexander tief in die Augen. „Oder die Leute vom Anthropologischen Institut der Universität haben sich mit der Bestimmung vertan. Zwei Knochenmänner miteinander verwechselt. Ganz simpel. Wirst Du ihnen einen Brief schreiben?“


Alexander lehnte sich zurück und sah zum Nachbartisch hinüber. „Nein, ich glaube, ich schaue mir das nochmal an.“


„Nochmal zu den Biestern?“ stöhnte Kim. „Ohne mich, Alex.“


„Na ja, ich dachte, vielleicht morgen.“


„Morgen ist Montag, mein Lieber, da haben die garantiert zu. Und übermorgen um kurz nach Neun geht unser Zug. Keine Chance, um Deinen Wissensdurst zu stillen.“


„Ich könnte zum Institut gehen, aus dessen Beständen die Ausstellung stammt, und mit einem der beteiligten Wissenschaftler reden. Wenn ich mich als Kollege vorstelle, lassen sie mich vielleicht sogar am Schließtag ins Museum.“


Ein Kellner, der sie bisher noch nicht bedient hatte, trug auf seinem Unterarm die Teller mit den Hauptgerichten an ihren Tisch. „Les quenelles?“


Alexander stieß den Zeigefinger in die Luft, und sofort schwenkte der Kellner hinüber zu Kim. „Tarte flambée traditionnelle avec crème, oignons et lardons“, flötete er beflissen, bevor er sich von seiner ersten Last befreite. Dann bekam Alexander seinen Teller vorgesetzt. „Et pour Monsieur“, verkündete der Kellner mit feierlicher Stimme, „Les quenelles de brochet gratinées à l’alsacienne avec spaetzle maison sautés au beurre. Bon appetit.“

 

 
 
 

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