Mit Billigung seiner Ärztin kehrt Adenauer zwei Wochen später wieder zur Gewohnheit einer täglichen Promenade zurück. Für den ersten Spaziergang lässt er sich von seinem Chauffeur am Ende der Löwenburger Straße absetzen. Es drängt ihn, den Ort zu inspizieren, unter dessen Erde alle seine Liebsten ruhen und wo auch seine Lebensreise um ein Haar an ihr zeitliches Ende gelangt wäre.
Der Chauffeur heißt Scharoun, ist aber kein Verwandter, sondern nur ein Namensvetter des berühmten Architekten, der das kriegszerstörte Berlin vollständig abreißen und in eine von neuen Schnellstraßen kreuz und quer durchzogene Betonlandschaft verwandeln wollte. Ohne jeden Respekt gegenüber dem Gewachsenen und Gewordenen. Was sein Scharoun, hätte er je davon erfahren, aus verkehrstechnischer Perspektive zweifellos gutgeheißen hätte. Im Übrigen ist er ein zuverlässiger, erfreulich schweigsamer Mann, dessen dichtes, kurzgeschnittenes Haar mittlerweile, wo er dem Pensionsalter näher rückt, vom ursprünglichen dunklen Aschblond zu einem in Kombination mit seiner Livreejacke vornehm wirkenden Silbergrau gewechselt ist.
Scharoun zieht eine besorgte Miene, als sein Chef ihm beim Aussteigen erklärt, dass er seine Dienste heute nicht mehr benötige. Es ist noch nicht lange her, dass er Tag für Tag zwei Sauerstoffflaschen aus der Bonner Universitätsklinik geholt und durch den Hintereingang, ungesehen von der Meute der Fotografen, ins Haus geschmuggelt hat.
„Soll ich nicht lieber warten, Herr Bundeskanzler? Für alle Fälle?“
Adenauer schüttelt den Kopf. Der schwarze Mercedes kommt ihm mehr und mehr wie ein blankpolierter Sarg vor. „Nicht nötig. Ich will nur in aller Ruhe auf dem Gelände spazieren gehen. Und auf dem Rückweg werde ich mich schon nicht verlaufen. Na los. Ihre Frau wird sich freuen.“ Als der Wagen außer Sichtweite ist, stößt er einen Seufzer der Erleichterung aus.
Der Rhöndorfer Waldfriedhof liegt auf dem nach Süden zugewandten Abhang der Wolkenburg, wie der Nachbarhügel des Drachenfels heißt, auf dem sich einst die gleichnamige Burg befand. Kein melancholischer Ort, an dem einen schlimmstenfalls Depressionen überkommen. Vielmehr an schönen Tagen sogar so anziehend, dass man meinen könnte, der Tod sei hier fehl am Platz. Ortsfremde haben Schwierigkeiten, sich auf dem terrassierten Gelände zurecht zu finden, das in die Parklandschaft des hinteren Rhöndorfer Tals eingebettet ist und von einem Netz aus Brezelwegen in acht rundliche Grabfelder geteilt wird.
Im Rundfunk hatten sie mich schon für tot erklärt. Passiert auch nicht jedem. Vielleicht aus Vorfreude? Paul hat mir das erzählt. Auch, dass er mir schon die Sterbesakramente gespendet hatte. Monsignore Paul, mein Sohn und Seelsorger. Ihm zufolge befand er sich in einem derart moribunden Zustand, dass niemand aus seiner Umgebung noch ernsthaft Hoffnung hegte. Vor dem abgeschirmten Wohnhaus seien Dutzende Menschen versammelt gewesen, einige mit Ferngläsern, dazu Kamerateams und Fotoreporter mit kanonenförmigen Objektiven; die Familienmitglieder hätten bei jedem Besuch erst ein Spalier aus hochgereckten Hälsen und klickenden Kameras passieren müssen. Den Ärzten und Pflegern sei es nicht anders gegangen. Der Briefträger habe sogar von einem Bestechungsversuch durch die „Bild-Zeitung“ berichtet. Die Sensationspresse will auch alles verhackstücken. Bis zum letzten Schnaufer. Doch wie um das alte Sprichwort zu bestätigen, wonach Totgesagte länger leben, trat in jener Nacht, von der es hieß, es werde vermutlich seine letzte sein – Paul zufolge war das Fieber auf über vierzig Grad gestiegen, der Puls kaum noch fühlbar gewesen –, und alle mit seinem Ableben rechneten, die Wende ein. Der Herrgott muss es sich im allerletzten Moment anders überlegt haben. Ließ mich im Durcheinander des vermeintlich letzten Stündleins entwischen. Wir alle sind blind gegenüber seinen Absichten.
Langsam, aber zielsicher schreitet Adenauer den gewundenen Weg zum bergseitigen Rand im Norden des Areals hinauf. Was für eine großartige Idee der alten Ägypter, ihre Herrscher in Pyramiden von gewaltigen Ausmaßen beizusetzen. Sie dachten: Wenn man dem Vergessenwerden ein Schnippchen schlagen kann, dann mit diesem Ewigkeitsversprechen aus dichtgefügten Steinquadern. Dummerweise haben sie nicht Mnemosynes Fühllosigkeit bedacht, die den Mohn des Vergessens ohne Ansehen der Person streut. Nein, das Menschengedächtnis lässt keine Gerechtigkeit walten. Es sichert Ruhm wie Schande einen Platz. Wahrscheinlich ist in den Chroniken sogar häufiger von Spitzbuben die Rede als von Wohltätern der Menschheit. Zum Glück führt der liebe Gott ein eigenes Register.
Die meisten Grabsteine hier ziert neben der Inschrift nur ein schlichtes Kreuz, wenige sind kunstvoller gestaltet – mit einem Paar betender Hände, Weintrauben und Weinlaub, Tauben mit und ohne Ölzweig. Das eingemeißelte Fischsymbol ist oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Ein geflügelter Engel auf einem Pfeilerstumpf weist mit der linken Hand auf die Grabstätte der Winzerfamilie Broel, in der rechten hält er eine Tafel mit der Reliefaufschrift Auf Wiedersehen. Eine Hoffnung, die er teilt. Jesus ist auch wiedergekehrt. Kurz auferstanden, um sich zu zeigen. Wegen dem Augenschein. Der Mensch glaubt nur, was er sieht. Der Tod darf nicht das letzte Wort behalten. Wir gehen fort, um wiederzukommen. Daran glaub ich. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Seele mit dem Tod vernichtet wird. Irgendwie wird sie existent bleiben. Vielleicht als Sonderform der Materie, mit eigener Dimension. Bei Gott. Im Universum ist doch Platz genug. Wofür sonst gibt es diesen unendlichen Raum, der mit lauter Leere gefüllt ist? Die Wissenschaft ist allerdings darauf erpicht, das Gegenteil zu beweisen. Mit der Folge, dass immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Können ihre Lehren nicht mehr mit der Wissenschaft überein bringen. An dieser verfluchten Neugier und Wissbegier wird die Menschheit noch einmal zugrunde gehen. Man muss nicht in alles seine Nase stecken. Für Augustinus war das sogar eine schwere Sünde. Wissen soll uns zu Gott führen, nicht von ihm weg. Außerdem geschehen jeden Tag Dinge, die sich nicht erklären lassen. Zum Beispiel das Bestehen der Naturgesetze. Sie beschreiben und berechnen, das können wir. Das ja. Aber warum es sie überhaupt gibt und sie funktionieren... Das hat mir noch keiner erklären können.
Die erste Beerdigung auf dem Waldfriedhof hat 1921 stattgefunden. Bis dahin sind die Rhöndorfer in Honnef beigesetzt worden. Trotzdem findet sich unter den Grabmälern das eines 1840 verstorbenen Joseph Anton Steiger. Es wurde ebenso hierher verlegt wie die Adenauersche Familiengrabstätte. Ursprünglich befand sie sich auf dem Melaten-Friedhof in Köln, doch nach Gussies Tod hatte er Emmas sterbliche Überreste wie auch die seiner Eltern, seines Patenonkels und des kurz nach der Geburt gestorbenen Sohnes Ferdinand hierhin umbetten lassen, samt der für Emma errichteten Stele aus Muschelkalk, deren Relief als unübersehbares Zeichen des Glaubens den auferstandenen Christus mit einer Kreuzfahne und einem knienden Engel zu seiner Rechten zeigt.
Zwei Ehefrauen habe ich zu Grabe getragen. Von einem Tag auf den anderen sind sie aus meinem Leben verschwunden. Weg für immer. Beiden wäre vermutlich ein sehr viel längeres Leben beschieden gewesen, hätten sie auf das schwierige Leben an seiner Seite verzichtet. Die erste hatte ihm aufgrund ihrer Kölner Verwandtschaft den Weg in die Politik geebnet. Emma. Keine Schönheit auf den ersten Blick. Um die zu entdecken, musste man schon spitzfindig sein. Immer heimlich leidend, dabei zutiefst lebensbejahend. Kummer vermeidend, Fehler ignorierend, ein musisch-fröhlicher Charakter, der ihm in dem einen oder anderen seiner Enkelkinder manchmal wiederbegegnet. Gestorben nach zwölfjähriger Ehe an Nierenversagen nach einer banalen Pilzvergiftung. Der Rest der Familie hatte die Mahlzeit ohne größere Beschwerden überlebt, aber Emmas Nierenfunktion war durch eine Rückgratverkrümmung beeinträchtigt, drei Geburten hatten das Leiden noch verschlimmert. Die Kinder, die er mit ihr gezeugt hat, sind ihr Tod gewesen. Im Nachhinein ist man immer schlauer.
Der Rest des Jahres und auch das folgende waren erfüllt von körperlichem und geistigem Leid: Witwer mit drei kleinen Kindern, deren Erziehung er in fremde Hände geben musste, belastet durch ein Übermaß an Arbeit, die doch das einzig wirksame Narkotikum war für seinen Schmerz. Mit dem Verlust wirklich fertig zu werden – dabei half ihm auch die Vielzahl seiner Aufgaben nicht. Jeden Tag gab es Leerlauf, in dem die Gedanken auf ihn einstürmten. Und es gab die Nächte, dumpfe, leere, totenstille, qualvolle Nächte, in denen er sich, bevor die Wirkung der Tablette einsetzte, unruhig hin und her wälzte. War doch ein gesunder Mann, gerade Vierzig geworden, mit gewissen Bedürfnissen. Kann nicht leugnen, dass in den Nächten Dämonen mit weiblichen Körpern durch meine Träume geisterten, wie auf den Bildern vom Höllenbreughel. Wie Paul das wohl macht. Ein unchristlicher Lustegoist ist er wohl kaum. Klagt häufig über Kopfschmerzen, sicher deshalb. Ist jetzt fünfundvierzig. Glaube nicht, dass in seinem theologisch imprägnierten Gehirn noch Platz ist für erotische Phantasien. Oder dass er gewisse Häuser besucht. Hat sich meines Wissens nie interessiert für das unsaubere Ineinanderschlingen der Körper. Seine engelhafte Vorstellung von den Frauen lässt anderes nicht zu. Vielmehr von Kindesbeinen an fromm und gottesfürchtig. Hab ein ums andere Mal versucht, ihn von der Priesterschaft abzubringen. Ist mir nicht gelungen. Nicht einmal der Krieg hat seine religiöse Berufung geschwächt. Will selbst im Kanonendonner noch den Ruf Gottes gehört haben. Manche Menschen müssen anderen dabei helfen, ihre Seele zu retten, um ihre eigene zu retten. So einer ist Paul.
Wäre Gussie nicht gewesen, er wäre vielleicht längst nicht mehr am Leben. Was ihn schnurstracks zu ihr führte, der charmanten Nachbarstochter, war ein ungeheures Bedürfnis nach Trost, und sie war bereit, sich ihm zuzuwenden. Mit Warmherzigkeit und verschwenderischer Fürsorge machte sie ihm das Leben wieder lebenswert. Ihr Tod war in gewisser Weise ein Sühnetod. Sühne für eine Schuld, die sie meinte auf sich geladen zu haben, als er gegen Kriegsende untergetaucht war und sie im Gestapoverhör sein Versteck preisgegeben hatte. Danach wollte sie nicht mehr leben, hatte sich noch in der Haftzelle die Pulsadern aufgeschnitten und Schlaftabletten geschluckt. Aber sie überlebte. Unbeherrschbare Stimmungsschwankungen waren der Preis. Dreieinhalb Jahre später war sie an den Folgen der Medikamentenvergiftung qualvoll gestorben, und zum zweiten Mal musste er hilf- und machtlos zusehen, wie der Sarg mit den sterblichen Überresten seiner Ehefrau ins Grab gesenkt wurde.
Das Kreuz eines Doppelwitwers zu tragen ist weniger leicht, als die Leute meinen. Wieder eine neue Qualität von Leid, die jedes andere Leid, das er vorher durchlitten hatte, als bloßes Leid-Zitat erscheinen ließ. Eine ganze Woche lang blieb er unsichtbar, unsichtbar sogar für seine Familie. Verkroch sich in sein Arbeitszimmer, aß kaum, hörte eine Schubert-Schallplatte nach der anderen, zermarterte sich den Kopf über den Sinn all dessen, zweifelte sich gründlich aus, wie andere Leute eine Krankheit ausschwitzen, und fand am Ende zum Glauben zurück. Gott ist kein Hirngespinst. Nicht die Vernunft hat die Tür meines Gestapo-Gefängnisses geöffnet. Das war gottgewollt. Gottgewollt auch das Leiden. Es sind die Prüfungen, aus denen Stärke erwächst.
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