top of page
AutorenbildJan-Christoph Hauschild

3

Nächstes Heft. Vorne eine ganze Seite mit „Wienerwald“-Reklame. HEUTE BLEIBT DIE KÜCHE KALT – MIT HENDLN AUS DEM WIENERWALD. Das ist mal ein gescheiter Werbeslogan. Einprägsam wie „Vater, Mutter, Tochter, Sohn – alle wählen die Union“. Der Herr Jahn ist ja nicht nur ein guter Pilot, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sondern auch ein guter Unternehmer. Beim „Wienerwald“ kostet ein halbes Hähnchen nur 3 Mark 50. Wieder einmal ein praktisches Ergebnis unserer Politik seit 1949.


Erschütternder Bericht über einen Mann aus Siebenbürgen, jahrelang zu Unrecht in einer Irrenanstalt festgehalten: 13 JAHRE IN DER SCHLANGENGRUBE. Wäre die passende Überschrift für meine Zeit als Bundesparteivorsitzender. Bei mir waren es sogar sechzehn Jahre.

 

Seine Hände sind feucht. Ein paar Schweißtropfen gleiten von seiner Stirn auf das Heft. Fortsetzung der Reportage IST AUF DIE AMIS NOCH VERLASS? Nein, ist es nicht. In der Berlinkrise haben sie auch den Schwanz eingekniffen. Mir als Kanzler waren ja die Hände gebunden. Um so mehr riss Brandt das Maul auf, als Bürgermeister konnte er das. Für den war der Mauerbau das große Glück seines Lebens. Endlich konnte er einmal auftrumpfen. Außer einem bisschen Repräsentieren und Redenhalten hatte er als Regierender Bürgermeister bis dahin doch noch gar nichts geleistet.

 

Was Brandt angeht, sind wir viel zu zimperlich. Unter den Nazis hat der Herr Frahm, oder wie er sich sonst noch genannt hat, seinem Vaterland ganz schnell den Rücken gekehrt. Ich selbst war auch gefährdet, als ehemaliger hoher Amtsträger. Jedenfalls nicht ungefährdet. Hab trotzdem nie darüber nachgedacht, zu emigrieren. Anders der Herr Frahm. Den Krieg hat er als norwegischer Soldat mitgemacht, ist sogar in Gefangenschaft geraten, aber die Deutschen in ihrer Gutmütigkeit haben ihn wieder laufen lassen. Das Wahlvolk findet anscheinend nichts daran, dass er in fremder Uniform gegen die eigenen Landsleute gekämpft hat. Seinen Urlaub verbringt er auch immer in Norwegen. Angeblich, weil er auf dicke Fische aus ist und da ungestört angeln kann. Kann er ja machen. Am besten bliebe er ganz da. Erschütternd, dieser Mangel an Nationalgefühl.

 

An der Mauer war hauptsächlich die Presse schuld. Kein Wunder, dass der Flüchtlingsstrom kein Ende nahm, wenn in den Zeitungen des Herrn Springer ewig die Rede war vom geteilten Berlin und vom Staatsgefängnis Ostzone. In meinem Interesse war das nicht. Meine Regierung hat die Bewohner der SBZ niemals eingeladen, nach Westdeutschland überzusiedeln. Sollen gefälligst drübenbleiben. In der Mehrzahl verlorene Seelen, religiös wie politisch. Immer mehr Ostflüchtlinge, das bedeutet immer mehr alten preußischen Geist, den sie östlich von Saale und Elbe 500 Jahre lang haben einschlucken müssen mit der protestantischen Taufe. Und nicht zuletzt der preußische Untertanengeist ist schuld daran, dass das deutsche Volk damals abwärts geglitten ist in Diktatur und Gewalt. Berlin darf niemals wieder zum Nabel Deutschlands werden. Vom Osten ist auf lange Sicht nichts Gutes zu erwarten.


Trotzdem ist es dummes Zeug, wenn die „Quick“ behauptet, ich hätte mich nicht nachdrücklich genug für die Niederwalzung der Mauer eingesetzt. Kein Wort von wahr. „Deutsche Einheit bringt auf Dauer nur ein Kanzler Adenauer“. Mit Hilfe Pauls und der Frauen ausgeklügelt, am nächsten Tag dem Vorstand vorgeschlagen. Fand keinen Anklang. Abgeschmettert. Kein Wunder, wenn dann aus einer Lüge eine Legende wird, ununterscheidbar von der Wahrheit. Und hochgefährlich, wenn sie sich in den Köpfen der Leute festsetzt. Und das ist wohl die Absicht. Die Rache des Holländers. Van Nouhuys? Van Nonsens.

 

Angewidert schlägt er das Heft zu. Genug geblättert. Umständlich hievt er sich aus dem Sessel und auf die Füße, schiebt sich wie in Trance an die Terrassentür und zieht den Vorhang zur Seite. Eine frühe Sonne beleuchtet das gegenüberliegende Rheinufer. Von der Existenz des Flusses zeugt nur ein kleiner blinkender Fleck, der vom windungsreichen Verlauf nichts ahnen lässt. Rolandswerth, Rolandseck, Oberwinter, dahinter Remagen. In der Ferne wölben sich die Berge der Voreifel aus dem Frühdunst. Was sich wohl im Garten tut?

 

Wenn man als Politiker von der Natur etwas lernen kann, dann Geduld und Beständigkeit der Arbeit. Ohne das erreicht man gar nichts. Gute Gärtner und gute Politiker wissen das. In der Natur läuft alles ohne Betrug, Falschheit und Verstellung ab. Alles wetteifert miteinander, wie um den Menschen vor Augen zu führen, dass Konkurrenz notwendig ist, wenn das Beste sich durchsetzen soll.

 

Das ist wirklich mit die Wurzel aller Unzufriedenheit: Dass die Leute gar nicht mehr ertragen können, wenn es dem Nachbarn besser geht. Unterschiede werden immer sein. Der eine wird ein besseres Gehirn haben als der andere, und der eine wird fleißiger sein als der andere, und wer fleißiger ist und ein besseres Gehirn hat, der wird naturgemäß in diesem Leben weiter kommen. Das muss sein im Interesse auch unseres ganzen Geschlechts. Denn die Faulheit und die Dummheit, meine Damen und Herren, wollen wir doch nicht prämieren.

 

In seinem Rücken wird die Zimmertür geöffnet. So unvollständig, wie er bekleidet ist, wagt er nicht, sich umzudrehen, schließt hastig die Knöpfe des Kittels, den vor ihm ein Arzt getragen hat oder auch eine Krankenschwester.

 

„Herr Dokter“, sagt eine Stimme, „Se han –“. Die Stimme stockt. Es ist die Stimme der Putzfrau, Maria Klefisch mit Namen. Seit über zwanzig Jahren steht sie in Diensten der Familie und wischt, fegt, poliert, wäscht, bügelt, stopft und näht. All das erledigt sie mit einer seinen Ansprüchen vollauf genügenden Pingeligkeit und bleibt dabei doch weitgehend unsichtbar.

 

Ein verwischtes Schniefen, dann ein neuer Ansatz: „Se han – en schon – fottjebraht.“

 

Es ist als Frage gemeint, klingt aber wie eine Feststellung. Offenbar hält sie ihn für einen der Ärzte, denen sie in diesen Tagen im Vorbeigehen häufig begegnet sein mag. Trotzdem. Wie beschränkt muss man sein, um den Hausherrn nicht zu erkennen. Ich bin doch kein Gespenst.

 

Der letzte Knopf ist geschlossen, er dreht sich zu ihr um. Da steht sie, halb noch im Türrahmen, eine füllige, stabil gebaute Frau in den Vierzigern in einem hellblauen Perlonkittel, um den Kopf ein Tuch gebunden.

 

„Frau, wat kreschs do? Wä söks do?“ will er in dem ihr vertrauten Idiom erwidern, denn Maria Klefisch ist eine waschechte Königswinterin, aber aus seinem Mund kommt nur ein Krächzen.

 

Mit einer Hand den Türgriff umklammernd, sucht Maria mit der anderen Halt an der Wand, und bevor sie erneut sprechen kann, muss sie tief Luft holen. Erschüttert zeigt sie auf das leere Bett. „Wohin“, fährt sie mit halberstickter Stimme fort, „han se en jebraht?“

 

Obwohl sie sich gegenüberstehen, scheint sie ihn immer noch nicht zu erkennen. Vielleicht, weil sie ihn bisher nie anders als im Gesellschaftsanzug mit den rasiermesserscharfen Bügelfalten gesehen hat. Vielleicht auch, weil er vor dem hellen Fenster steht oder ihr Blick durch dicke Tränen getrübt ist. Vielleicht auch wegen all dem zusammen. Mit Zungenschnalzen und Kopfschütteln bekundet er sein Missfallen. Die Putzfrau starrt ihn an.

 

„Maria!“ sagt er laut und erschrickt über seine brüchige Stimme.

 

Jetzt endlich erkennt sie ihn. „Herr Bundeskanzler!“ ruft sie, wischt, während sie auf ihn zugeht, mit dem Handrücken über ihre tränenverschmierten Wangen und streckt in ihrer Wiedererkennungsfreude die Hand nach ihm aus. Erschrocken weicht er zurück, hebt abwehrend den Arm und fährt sie, heftiger als eigentlich beabsichtigt, mit fremd klingender Stimme an: „Do moots mich nit fasshalde! Ich bin noh nit zo Jottvatter eropjejange!“

 

Woraufhin die Klefisch, sonst von durchaus robuster Natur, laut schluchzend, jetzt aber vor Freude, aus dem Zimmer stürzt, um überall im Haus zu verkünden, sie habe „den Herrn – den Herrn Bundeskanzler gesehen!“

1 Ansicht0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

16

Seit seinem Autounfall vor gut fünfzig Jahren ist es Adenauer nie mehr gelungen, fremder Fahrkunst zu vollen hundert Prozent zu...

15

15 Am nächsten Morgen steht Adenauer wie gewöhnlich gegen halb sieben auf und begibt sich ins Badezimmer. Zu den üblichen Prozeduren...

14

Zwei Rabenkrähen lassen sich vor dem Fenster von Adenauers Gartenpavillon nieder, legen schwerfällig ihre Flügel an, stolzieren...

Comments


bottom of page