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- Jan-Christoph Hauschild

- 14. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Strassburg, 26. November 1788
Scharfe Sonnenstrahlen fielen durch das Oberlicht des Anatomischen Theaters, das ein süßlicher Geruch durchwehte. Auf dem schwarzen Marmor des Präpariertischs lag ein Körper, bis auf den Kopf in weißes Leinen gehüllt, das Gesicht wachsbleich, gezeichnet von der Unnahbarkeit des Todes, den blinden Blick in die Leere des Alls gerichtet. Die Blutrinnen des Tisches, die Zinkwannen, die mit wasserhellem Spiritus angefüllten Glasgefäße, die der Aufnahme der einzelnen Organe dienten, und das Silbertablett mit den sorgfältig aufgereihten Messern, Scheren und Zangen ließen keinen Zweifel daran, dass dieser Leichnam der Schamlosigkeit wissenschaftlicher Neugier preisgegeben war und unmittelbar vor der Zergliederung stand.
Nachdem der Gehilfe, ein stämmiges Faktotum mit einem Gesicht, das nur aus vorspringendem Kinn, platter Nase und niedriger Stirn zu bestehen schien und überdies gezeichnet war von einer Krankheit, deren Spuren er durch unbedachtes Kratzen vermehrt hatte, das Leintuch vollständig entfernt hatte, warf Professor Himly einen ausgiebigen Blick auf das Objekt.
„Ein zwergwüchsiger Turricephalus! Dass ich das noch zu sehen bekomme! Der rötliche Teint ist ja allein schon ein Roman für sich. Entweder hat er sich tagaus und tagein von der Sonne bescheinen lassen, was in unseren Breiten kaum möglich sein dürfte, oder er hat sein Leben lang nackt am Schmelzofen gestanden. Menschenskind, Berndt, wo hat Er diesen Casus aufgetrieben?“
Berndt wischte sich mit dem Ärmel die Nase. „Man hat so seine Relationen, Herr Professor.“
„Freilich muss es stets ehrlich dabei zugehen, Er weiß das.“
„Jawohl, Herr Professor.“
„Ich billige es nicht, wenn junge angehende Ärzte, nicht eigentlich aus Raubsucht, sondern aus Begierde, etwas zu lernen, sich zu üben, und um die Zahl ihrer Skelette zu vermehren, einen Leichnam, den sie vielleicht nie würden erhalten oder bezahlen können, durch Unterschleif an sich bringen. Denn es bleibt allemal ein Raub, etwas heimlich zu nehmen, was einem nicht gehört. Warum aber, Berndt?
„Weil eine Leiche keine res nullus ist, Herr Professor!“
„Res nullius“, verbesserte ihn Himly und lächelte nachsichtig. Dann ließ er sich von Berndt den Zollstock reichen.
„46 Zoll. Gewicht?“
„Achtundfünfzigeinviertel Pfund habe ich gewogen, Herr Professor.“
„Anders gesagt“, fuhr Himly sodann fort, während er die leicht zu überschauenden Stellen des Körpers, nämlich Augen, Nasen- und Rachenhöhlen, Gehörgänge und Achselgruben einer näheren Betrachtung unterzog, „weil eine Leiche stets Angehörige hat. Selbst eine totgefundene Leiche, sollte ihre Abkunft auch nicht ausfindig gemacht werden, gehört dem Staate, wenn er sie auch gleich sonst nicht gebrauchen, sondern vielmehr noch Kosten davon haben möchte. Alle übrigen Leichen gehören ihren Familien.“
Inzwischen war Himly bei den äußeren Geschlechtsteilen angelangt und fuhr mit der Hand über den Unterbauch. „Recht wenig Haarwuchs am mons Veneris. Schambein abgeplattet.“ Mit zwei Fingern hob er den Penis der Leiche hoch. „Was ist das?“ Vor Überraschung ließ er fast seine Lupe fallen. „Sapperlot, eine veritable Vulva! Berndt, Er hat mir einen Turricephalus und einen Hermaphroditen gebracht! Schau Er selbst!“
Berndt trat neben den Professor und verfolgte dessen Zeigefinger, der seine Ansprache begleitete.
„Das Rüstzeug beider Geschlechter, und Testikel, wo sie hingehören!“
Berndt presste die Kiefer zusammen und nickte. Wut stieg in ihm auf wie heißes Wasser in einem Destillationskolben, Wut über sich selbst. Ein Zwerg, ein Zwitter und ein Turmkopf... Die 15 Francs, die er für die Beschaffung der Leiche geltend gemacht hatte, waren viel zu niedrig bemessen gewesen. Für diesen Kadaver hätte er das Doppelte, vielleicht gar das Dreifache herausschlagen können.
Himly ließ sich von Berndt das Skalpell reichen und begann mit der Öffnung des Kopfes. Durch einen bis an die Hinterseite des linken Ohres reichenden Schnitt trennte er die Schädelhaube vom Knochen, schlug den durch den Schnitt gebildeten Hautlappen über das Gesicht, den hinteren über den Hinterkopf. „Schwarte nach dem Abziehen an ihrer Innenseite von rötlicher Farbe“, diktierte er seinem Gehilfen. Dann durchtrennte er die Schlafmuskeln, um zu verhindern, dass die Zähne der Säge sich in den zähen Muskelfasern verfingen.
Er unterbrach seine Arbeit und wandte sich seinem Gehilfen zu.
„Mein lieber Berndt, dass er’s nur weiß: Er hat mir aus einer großen Verlegenheit geholfen. Das Lazarett, unsere einzige sichere Quelle, besteht derzeit bloß aus vier Patienten, wovon alle leider einer baldigen Genesung entgegensehen, und uns von da auch in diesem Winter nichts zu hoffen bleibt. Wenn die kriminellen Subjekte erst einmal um die Kostbarkeit eines Leichnams wissen, werden die Leichendiebstähle zunehmen wie die gewöhnlichen Diebstähle. Noch sind sie eine quantité négligeable, ausgenommen in Universitätsstädten und andern Orten, wo Zergliederungsschulen sind.“
Berndt ging um den Präpariertisch herum, wobei er den rechten Fuß in einer Weise nachzog, als schleppe er eine unsichtbare Kugel, und reichte ihm die Bogensäge.
„Gewiss, Herr Professor. Aber seitdem ein königlicher Befehl an alle Gerichte ergangen ist, dass selbst die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begraben werden, und nur jene, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, auf die Anatomie kommen, ist es für einen angehenden Studiosus der Anatomie freilich kein leichtes, Material zum Präparieren aufzutun. Wenn ich nicht irre, hat dies bereits zu einem Rückgang der Einschreibungen in unserer Fakultät geführt.“
„Das ist bedauerlich. Gerade die anatomischen Wissenschaften sollten den Regierungen doppelt wert sein, weil sie die jungen Leuten nicht nur in ihrer Wissbegierde befriedigt, sondern auch von aller Apprehension gegen widerwärtige Dinge befreit, und das ist für den Staat allemal von Nutzen. Nun, es bleiben immer noch die Almosenleichen und die Totgeburten.“
Während Berndt den Kopf mit beiden Händen fasste, setzte Himly die Säge in der Stirnmitte senkrecht an, hielt sie mit der Spitze des Daumens in der Richtung, führte mit kurzen starken Zügen den ersten Einschnitt durch und setzte diesen vorsichtig in die Tiefe fort, bis der Knochen um den Schädel durchsägt war, ohne das Gehirn oder die Hirnhäute zu verletzen. Danach konnte er mit Hilfe des Sprengers das Schädelgewölbe von vorne nach hinten abheben. Mit einem Skalpell durchschnitt er die harte Hirnhaut, die an einigen Stellen mit dem knöchernen Schädeldach leicht verklebt war. Es war wie das Öffnen einer Tabakdose. Vorsichtig ließ er seine Fingerspitzen über die Gefäße des Markbalkens zwischen den Hemisphären gleiten.
„Hirnwindungen an den Kuppen erheblich abgeplattet... Windungstäler weitgehend verstrichen... Kleinhirnmandeln sehr deutlich hervorspringend...“
Er griff nach einem scherenartigen Instrument und löste das Gehirn aus seinen zahlreichen Befestigungen. Dann reichte er es Berndt, der es auf die Waage legte.
„Vierdreiviertel Pfund, Herr Professor.“
Himly griff erneut nach dem Skalpell. Diesmal setzte es in der Mitte des Halses, knapp unter dem Kinn an. Mit einer fließenden Bewegung zog er es über die Brust, der Bauchlinie entlang, am Nabel vorbei bis zum Schambein. Unterhalb des Nabels führte er einen zweiten Schnitt aus. Mit zwei Wundhaken zog er das aufgetrennte Gewebe beiseite. Dann verloren sich seine Hände in den Tiefen des Körpers, der aufgeschlagen vor ihm lag wie ein Buch.

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