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Beim Jugendwettbewerb von Rheinbraun sind drei unserer Spielplatzmodelle ausgezeichnet worden. Die Gruppe Vermehr, Sprigode und Zarrentin hat außerdem beim Wettbewerb des Internationalen Design-Zentrums einen Preis gewonnen und ist zur Preisverleihung nach Berlin eingeladen worden, und jetzt macht der ganze Kunstkurs eine Klassenfahrt. Weil für den letzten Tag ein Ausflug nach Ost-Berlin vorgesehen ist, habe ich mich für den Sonntag mit meiner Brieffreundin Karin verabredet.


Nach Berlin fahren wir mit dem Nachtzug. Nur Sprigode nimmt das Flugzeug, weil seine Familie nach dem Mauerbau aus der Ostzone geflüchtet ist und seine Eltern Schiss haben, dass man ihn als Geisel dabehält. Ich bin mit Clason, Robert und Vermehr in einem Abteil. Nebenan machen sie sich bereits bettfertig. Offenbar glauben sie daran, trotz des dauernden Geratters und Geschuckels rasch vom Schlaf übermannt zu werden. Wir dagegen sind kein bisschen müde, und außerdem haben wir uns lustige Geschichten mitzuteilen. Ich erzähle, wie wir in der Untertertia den Latein-Referendar so lange gequält haben, bis er geweint hat, und sie erzählen, wie sie in der Obertertia Mathe-Peters so lange geärgert haben, bis er zu Dr. Brych gerannt ist. Wir lachen uns kaputt, als plötzlich die Tür aufgeschoben wird und Ritzow seinen Kopf ins Abteil steckt: Hört mal, liebe Leute, könnt ihr jetzt die Sitze umklappen und euch hinlegen und schlafen? Wir haben morgen noch eine ganze Menge vor!


Weg ist er. Während wir unsere Sitze zu Pritschen umbauen, lachen wir schon wieder, aber nicht mehr ganz so laut. Gute Nacht, Herr Ritzow, ruft ihm Robert hinterher. Ritzo-Ratzo, äfft ihn Clason nach, während er glucksend eine Etage höher klettert, und schon ertönt, gegen Vermehrs erfolglosen Protest, Ritzo-Ratzo im Chor, so lange, bis wir unseren Sprechgesang erschöpft einstellen. Aber nur kurz, denn schon fangen wir wieder an, erst im Flüsterton, kaum hörbar gegen den rüttelnden Eisenbahnlärm, dann immer lauter: Ritzo-Ratzo, Ritzo-Ratzo, Ritzo-Ratzo, Ritzo-Ratzo!


Als sich bei der Ankunft in Berlin Ritzows Abteiltür öffnet, blickt uns ein blasses, von Bartstoppeln übersätes und durch den Schlafentzug geisterhaft entstelltes Gesicht entgegen. Ausgedünntes schwarzes Haar bedeckt in Strähnen seinen Kopf. Das war aber nicht nett von euch, quäkt er kopfschüttelnd mit seiner hohen, nasalen Stimme, und weil Robert ihm am nächsten steht, ziept er ihn dabei am Ohr.


Das Internationale Design-Zentrum residiert im Erdgeschoß des Eden-Hochhauses. Hier tagt der Forumskongress, für den Sprigode, Vermehr und Zarrentin durch ihren Preisgewinn automatisch delegiert worden sind. Ihr Pech, dass sie jetzt samt Ritzow ein richtiges Programm zu absolvieren haben. Wir andern dürfen machen, was wir wollen. Zum Beispiel gegenüber die kaputte Gedächtniskirche angucken. Nebenan das Hochhaus mit dem Mercedes-Stern interessiert uns mehr. Mit dem Aufzug fahren Clason, Robert und ich bis nach oben. Bevor wir aussteigen, drückt Clason noch schnell auf alle zweiundzwanzig Stockwerktasten.


Von der Aussichtsplattform hat man einen guten Blick auf den Ku’damm, und durch die Fernrohre kann man in den hässlichen Osten der Stadt gucken, mit dem Fernsehturm mittendrin.


So, und jetzt fahren wir wieder runter, meint Clason, ich will wissen, wie lange wir von ganz oben nach ganz unten brauchen.


Wir steigen ein und fahren runter, aber weil ständig Leute zusteigen, kommen wir nicht zur Zeitmessung. Also fahren wir gleich wieder nach oben, müssen unterwegs aber neue Leute mitnehmen. Einmal schaffen wir es in einem Rutsch bis fast nach unten, doch im dritten Stock stoppt der Aufzug und ein älterer Mann steigt ein. Noch bevor er Guten Tag sagen kann, fängt Clason an, wie ein Rohrspatz zu schimpfen.


Och nö, ne? Haben Sie denn das Schild nicht gesehen?


Wie bitte, sagt der ahnungslose Opa.


Jetzt ist unsere ganze Arbeit umsonst. Wegen Ihnen können wir jetzt unsere Zeitmessung nicht durchführen!


Zur Bekräftigung tippt Clason ein paar Mal wütend auf seine Armbanduhr, obwohl die nicht mal einen Sekundenzeiger hat.


Wir kommen extra aus Neuß her, um die Fahrzeit zu stoppen, und dann vermasseln sie uns alles! Jetzt können wir wieder von vorne anfangen!


Wütend hämmert er mit der Faust auf die E-Taste. Der Mann stammelt eine Entschuldigung und steht den Rest der Abwärtsfahrt stocksteif und mit gesenktem Blick neben der Tür. Kaum hat sich die Aufzugtür hinter ihm geschlossen, prusten wir los.


Höhöhö, grölt Clason und entblößt dabei sein Raubtiergebiss. Dem haben wir‘s aber gegeben!


Die Fresse von dem Typen! kräht Robert mit zusammengekniffenen Augen und wedelt ein paar Mal mit der Hand an meiner Schulter herum, während ich ihm spielerisch ein paar Rippenstöße versetze. Aua, flüstert er plötzlich, aua, und hält sich den Bauch. Lachkrampf, ächzt er, ich hab ’n Lachkrampf!


Endlich ist Sonntag und wir fahren mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, um Ost-Berlin zu besichtigen. Natürlich ohne Sprigode, dem es seine Eltern verboten haben. Den Hinweisschildern nach tappen wir durch niedrige Gänge, in denen es nach Putzmittel stinkt, bis wir in einem Raum ohne Fenster vor einer Schlange von Wartenden zum Stehen kommen. Eine kleine Ewigkeit vergeht, ehe der letzte von uns dem Grenzpolizisten in seiner Kabine Reisepass und Formulare übergeben hat, die hinter einem winzigen Fenster überprüft werden. Ich glaube, selbst wenn Karl Marx persönlich hereinspaziert käme, hieße es: Den Ausweis bitte! Nachdem wir auch noch den Zwangsumtausch von West- in Ostmark hinter uns gebracht haben, machen wir uns auf die Suche nach Karin. Mehrere junge Mädchen, ganz egal, ob sie den angekündigten knielangen hellbraunen Mantel und die schwarze Hose tragen oder nicht, werden vergeblich darauf angesprochen, ob sie vielleicht Karin heißen. Thomas Dückerhoff entdeckt sie schließlich in der Nähe der Wechselstube und führt sie zu mir.


Hallo Jakob, sagt sie und reicht mir die Hand. Schön, dass wir uns mal kennenlernen.


Wunderbar sieht sie aus mit ihrem schulterlangen dunkelblonden Haar. Wahrscheinlich findet sie mich in meiner Texashose und dem Parka auch attraktiv. Was bin ich für ein Glückspilz. Ich glaube, die andern hätten jetzt auch gern ein Mädchen an ihrer Seite. Haben sie aber nicht. Weil sie die Gelegenheit, sich eine Konfirmationsbrieffreundin zu angeln, verpasst haben.


Ritzow scheint sie auch zu gefallen. Er schüttelt ihr kräftig die Hand und meint, dass es toll ist, dass wir jetzt eine Fremdenführerin haben und ob sie uns zum Alexanderplatz führen kann. Und dann stiefeln wir auch schon los Richtung Fernsehturm, und manchmal passiert es, dass die Schöße ihres Mantels die Schöße meines Parka streifen, als ob sie darauf aus wäre, mich zu berühren.


Später erklärt Ritzow, dass er noch auf die Museumsinsel will, und wer Lust hat, kann mitkommen, ansonsten treffen sich alle nachher vor dem Bahnhof Friedrichstraße.


Ich gehe lieber mit Karin in eine Eisdiele, um mit ihr ungestört plaudern zu können. Das Teuerste auf der Speisekarte ist der Kirschbecher zu 1 Mark, den bestelle ich zweimal, gegen den Protest von Karin, weil es ein gemischtes Eis auch getan hätte.


Du kannst dich ja revanchieren, wenn ich dich mal besuchen komme.


Du willst mich besuchen? In Eberswalde?


Meine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: Klar. Wenn deine Eltern nichts dagegen haben.


Haben die bestimmt nicht. Und deine?


Ich hab meine Mutter schon gefragt. Ich darf.


Na dann.


Wir löffeln unser Eis, und als wir fertig sind, holt sie zwei Passfotos aus ihrem Portemonnaie und reicht sie mir.


Hier. Du wolltest doch wissen, wie ich mit langen Haaren aussehe. Sind von letztem Jahr. Wenn sie dir nicht gefallen, steck sie einfach in den Ofen.


Es juckt mich zu sagen, dass wir gar keinen Ofen haben, sondern Öl-Zentralheizung. Ofen war im Glaspalast in Speyer. Stattdessen ziehe ich den Ring vom Finger, den ich mir im Sommer in Döbriach zum Schlagerpreis von fünfunddreißig Schilling gekauft habe, und präsentiere ihn auf ausgestreckter Hand.


Für dich!


Och nee!


Echtes Silber!


Du, das geht wirklich etwas zu weit... Machst du nicht zu große Geschenke?


Sie streift ihn über, streckt den Arm aus, spreizt ihre Finger und betrachtet den Ring mit Wohlgefallen.


Am selben Abend fahren wir mit dem D-Zug nach Hause. Diesmal klappen wir gleich unsere Pritschen herunter, schalten die Beleuchtung aus und hauen uns aufs Ohr, dem Geruckel und Gewummer, Rattern und Rasseln zum Trotz. Unten liegen Vermehr und Robert, gegenüber hat sich Clason mit einer kratzigen DB-Decke bis zum Hals zugedeckt und zur Wand gedreht. Nur bei mir brennt noch das kleine Leselämpchen. Ich liege still auf dem Rücken und betrachte die beiden briefmarkengroßen Fotos von Karin. Wieder der weiße Rollkragenpullover. Das Gesicht eingerahmt von gewellten dunklen Haaren. Dunkelblond, wie ich jetzt weiß. Kräftige Augenbrauen. Spitzbübischer Blick. Der Mund leicht geschlossen. Hübsche Lippen. Lass mich Dir die Welt zu Füßen legen.


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