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Jetzt im Winter findet die Leichtathletik-AG in der Schorlemer Halle statt. Zum Abschluss lässt uns Herr Ebel wieder Handball spielen. Gerade habe ich aufs Tor geworfen, der Torwart hat den Ball gefangen und wirft ihm einem seiner Mitspieler zu, jetzt muss ich schnell zurücklaufen und verteidigen. Ich drehe mich um, aber mein rechter Schuh dreht sich nicht mit, vielleicht weil der Boden so stumpf ist oder weil es die alten Turnschuhe von Paul sind oder beides, es macht knack und ein flammender Schmerz durchfährt mich. Ich schreie laut auf und falle zu Boden, der dröhnt von dem Getrampel der beiden Mannschaften. Unterhalb meines rechten Knies hämmert ein ungeheurer Schmerz, unterbrochen von winzigen Pausen barmherziger Leere. Mein Blick heftet sich hilfesuchend an die Decke, aber da ist nur das kalte Licht großer Neonröhren. Ein Gesicht beugt sich über mich, ich werde gekitzelt und schreie ganz laut. Ein Pfiff aus der Trillerpfeife, das Spiel wird unterbrochen. Jetzt kniet Herr Ebel neben mir, alle Augen sind auf mich gerichtet, den schmerzgequälten, flennenden Mittelpunkt.


Einer wird zum Hausmeister geschickt, er soll einen Krankenwagen rufen. Wilde Theorien über die Art meiner Verletzung und ihre Folgen machen die Runde. Herr Ebel schickt alle nach Hause, nur Pitti darf bleiben, weil er meine Sachen zusammenpacken und nachher mit Herrn Ebel zu Mama und Papa fahren soll. Schon sind zwei Sanitäter da, einer legt ein Luftkissen um mein rechtes Schienbein, dann heben sie mich auf eine Tragbahre. Als mein rechtes Bein in der Luft pendelt, treibt mir der Schmerz wieder Tränen in die Augen, verbunden mit der bitteren Erkenntnis, dass ich ihn so schnell nicht loswerde.


Der Krankenwagen bringt mich ins Lukas-Krankenhaus. Als am Abend Mama und Papa in die Ambulanz kommen, zeigt ihnen der Arzt am Leuchtschirm das Röntgenbild. Glatter Schien- und Wadenbeinbruch. Er meint, wenn der Bruch genagelt würde, könnte ich ziemlich schnell wieder nach Hause; ohne OP müsse ich mindestens drei Wochen mit einem Streckverband im Krankenhaus bleiben. Er spricht sich für eine Operation aus, und sofort ist mir wieder nach Heulen zumute, denn Operation bedeutet Narkose. Man kriegt eine Äthermaske und schläft ein und dann machen sie an einem rum, weil sie denken, man ist tief betäubt, dabei spürt man alles und kann sich nicht mal wehren, und wenn man Pech hat, wacht man nie wieder auf. Zum Glück ist Papa auf meiner Seite, der sich auch niemals operieren lassen würde.


Als Papa und Mama wieder gegangen sind, muss ich meine Kleidung gegen ein weißes Nachthemd tauschen, das an der Seite offen ist, und muss vom Untersuchungsbett auf das Krankenbett rüber rutschen, was wieder schrecklich weh tut. Ich kriege noch eine Spritze, diesmal in den Fuß, und dann wird mir ein Stift durch die Ferse geschossen, der Fuß auf einer Schiene hochgelagert und an dem Stift ein Gewicht befestigt, um den gebrochenen Knochen in die richtige Stellung zu bringen. Danach werde ich auf die Station gefahren. Weil ich schon Fünfzehn bin, komme ich auf die Männerstation.


Im Zimmer ist es dunkel und ein Fernseher läuft. Der Pfleger macht Licht und schiebt mein Bett in den freien Raum neben zwei andere Betten. In dem einen liegt ein alter Mann und guckt Fernsehen, das andere ist leer. Gegenüber steht noch ein Bett quer, darin liegt noch ein Mann und schläft.


Der Pfleger packt meine Kleidung und meine Sporttasche in einen der vier schmalen Schränke und stellt den Waschbeutel, den Mama mir von zuhause mitgebracht hat, auf das kleine Nachttischchen. Dann steckt er eine durchsichtige Plastikflasche in die Halterung an meinem Bett und sagt, wenn ich mal groß machen muss, soll ich klingeln, dann bringt er mir die Bettpfanne, in die ich reinmachen soll. Das Bett hat einen Galgen, an dem ich mich dafür hochziehen kann.


Gefesselt und gefangen und zur Unbeweglichkeit verdammt. Ich muss die Augen schließen, um nicht von einem schrecklichen Gefühl weggerissen zu werden und vor all den Männern laut loszuheulen. Stattdessen werde ich so tun, als würde mir das alles gar nichts ausmachen, drei Wochen allein zu sein, mindestens drei Wochen, mutterseelenallein, denn Mama wird bestimmt nicht jeden Tag hier auftauchen, höchstens einmal in der Woche. Sie hat ja schon geflennt, als sie ein zweites Mal mit mir in die Zahnklinik nach Düsseldorf kommen sollte. Das habe ich jetzt davon, dass ich mein Bein nicht zusammennageln lassen wollte. Damals in Freudenstadt, als ich den Arm gebrochen hatte und schlimme Ausdrücke zu Mama gesagt habe, weil ich festgeschnallt auf der Pritsche liegen musste, konnte ich wenigstens sofort gehen, als mein Gipsverband getrocknet war. Jetzt werde ich drei Wochen auf dem Rücken liegen müssen wie ein abgestürzter Käfer, und dass ich in der Lage bin, zum Kacken meinen Po anzuheben, macht die Sache nicht besser.


Der alte Mann am Fenster heißt Fiebich. Bei einem Autounfall letztes Jahr hat er einen Unterschenkel-Trümmerbruch erlitten. Er sagt, er war nicht seine Schuld, ein betrunkener Autofahrer hat ihm die Vorfahrt genommen, aber alles ist vertuscht worden, weil der andere ein hohes Tier bei der FDP ist. Fiebich war früher Kanalarbeiter und hat schon mal ein totes Baby aus dem Abwasserrohr gezogen, aber inzwischen hat er eine Frittenbude in Neuß, und wenn ein Kind nur fünfzig Pfennige hat statt siebzig, kriegt es von ihm trotzdem eine Portion. Die Frittenbude schmeißt jetzt seine Frau.


Wenn ich kacken muss, bringt mir der Pfleger die Bettpfanne und Klopapier. Mit dem langen Griff sieht sie wirklich aus wie eine Pfanne. Einen Deckel hat sie auch. Sobald der Pfleger mit der Pfanne ins Zimmer kommt, reißt Fiebich das Fenster auf. Manchmal schnappt er sich auch seine Krücken und humpelt aus dem Zimmer, schnell raus aus dem Gestank.


Der Mann im Bett gegenüber hat sich beim Judotraining das Schulterblatt gebrochen. Er ist gleich operiert worden und wird bald entlassen; für ihn kommt ein Fernfahrer aus dem Obertorviertel, der bei einem Kneipenstreit einen Messerstich in den Bauch abgekriegt hat. Er meint, dass er noch lebt, hat er ganz allein seinem dicken Bauch zu verdanken. Und dann kommt auch noch ein vierter Mann aufs Zimmer, dem der Nagel vom großen Zeh gezogen werden muss. Als er zur Besprechung abgeholt wird, verrät uns Fiebich, dass er ihn für einen warmen Bruder hält und nennt ihn Detlef. Um das rauszukriegen, will Fiebich mit dem Fernfahrer eine Unterhaltung über Neußer Gaststätten anfangen, in denen sich die warmen Brüder treffen, und wenn Detlef die Kneipen kennt, ist das der Beweis.


Die Pfleger sind alle Männer, aber es gibt auch eine Krankenschwester in Ordenstracht, die manchmal überraschend zur Kontrolle auftaucht. Hinter ihrem Rücken wird sie von Fiebich Schwester Rabiata genannt. Wenn sie ins Zimmer kommt, schaut sie als erstes, wo meine Hände sind. Wenn sie unter der Bettdecke liegen, raunzt sie mich an: Hände auf die Decke! Als ich das Robert erzähle, lacht er sich kaputt.


Außer Robert kommen noch andere Klassenkameraden zu Besuch. Sogar mein Klassenlehrer Herr Ressel kommt, um mir mitzuteilen, dass ich mir um Englisch keine Sorgen mehr machen muss, weil er mir auf jeden Fall eine glatte Vier geben wird. Ich soll nur zusehen, dass ich in Mathe oder Latein wenigstens auf eine Vier minus komme, und das wird schwer genug. Mathe kann ich nicht und Latein mag ich nicht. Vier Schuljahre lang quäle ich mich schon mit dieser Sprache herum, die ausschließlich von toten Dingen erzählt: Gern werden wir uns an den Tag erinnern, an dem Caesar befahl, jenseits des Ortes, an dem sich die Germanen niedergelassen hatten, ein Lager zu errichten. Warum muss ich wissen, wie das auf Latein heißt? Ich will es nicht wissen, und deshalb habe ich jedes dieser Schuljahre mit einer Fünf in Latein beendet. Bloß nicht sitzen bleiben, dann kriege ich Grywatsch in Englisch und Sport, und das ist die Hölle, denn Grywatsch kennt keine Gnade, weder in Englisch noch in Sport. Früher soll er die Jugendmannschaft vom VfR Büttgen trainiert haben, in der Berti Vogts gespielt hat, der ja auch ein harter Bursche ist, seine Gegner aber so raffiniert von den Beinen holt, dass er noch nie die Rote Karte bekommen hat.


Nach drei Wochen wird endlich der Streckverband abgenommen und eine Kontrollaufnahme gemacht. Beim Röntgen stellt sich heraus, dass die Knochenenden trotz Streckverband und Gewichten wieder zusammengewachsen sind, aber nicht an der richtigen Stelle, sondern leicht versetzt. Ein Kollegium von drei Ärzten diskutiert, welche Folgen das haben könnte. Zwei von ihnen glauben, dass sie den Knochen vielleicht wieder auseinander kriegen. Mein Herz schlägt wie wild, als der eine mit beiden Händen an meinem Fuß und der andere unterhalb des Knies in Gegenrichtung zieht. Am liebsten würden sie den Knochen an der Bruchstelle wieder brechen und nach einer Operation bei Vollnarkose korrekt zusammenfügen. Ich sitze im Rollstuhl dabei und mache mir vor Angst fast in die Hose. Zum Glück hat der dritte, ein Perser, kürzlich in einer amerikanischen Fachzeitschrift gelesen, dass der Knochen auch von alleine, ohne Operation wieder in die richtige Stellung kommen kann. Die beiden andern sind skeptisch, aber weil ich derselben Meinung bin, wird es so gemacht. Ich kriege einen Gehgips, vom Oberschenkel knapp über dem Knie bis unter die Sohle, und dann werde ich mit zwei Krücken nach Hause entlassen. In meinen Taschenkalender schreibe ich auf die erste Seite, da, wo man eintragen soll, wer zu benachrichtigen ist, wenn einem ein Unfall zustößt: Auf keinen Fall das Neußer Lukas-Krankenhaus!


Unter dem Gips juckt es, und je länger ich ihn trage, desto mehr juckt es. Gewisse Dinge, wie das An- und Ausziehen der Hosen, kann ich nicht allein bewältigen, ich muss Mama rufen. Einmal bekomme ich mit, wie sie sich mit Papa über mich unterhält.


Ich war nicht dafür, dass er mit dem Gips nach Hause kommt. Es ist eine Belastung. Er wäre besser noch solange im Krankenhaus geblieben.


Mir stockt der Atem.


Zum Glück ergreift Papa meine Partei. Der Junge gehört nach Hause, stellt er klar.


Dann musst du dich aber auch um ihn kümmern, meint Mama schnippisch.


Nach sechs Wochen wird endlich der Gips entfernt, erst vorsichtig aufgesägt, dann aufgeschnitten. Ich staune nicht schlecht über das, was da zum Vorschein kommt. Gehört dieses Bein wirklich zu meinem Körper? Ohne den schwere Gips fühlt es sich so leicht an wie Watte. Wie dünn es ist. Und außerdem, anders als sein Zwilling, wie bei einem Erwachsenen dicht mit Haaren besetzt. Die sechswöchige Dunkelheit muss das Haarwachstum angeregt haben. Nur schade, dass das nicht überall an meinem Körper passiert ist.


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