Vier Jahre nach Paul werde auch ich konfirmiert, am selben Ort und vom selben Pfarrer. Anzugtragen ist an diesem Tag Pflicht, aber wenigstens darf mein Anzug hellblau sein statt schwarz; das hat Paul nicht geschafft, und deshalb ist er auch neidisch. Als Konfirmationsspruch habe ich mir WAS IHR NICHT GETAN HABT EINEM VON DIESEN MEINEN GERINGSTEN BRÜDERN, DAS HABT IHR MIR AUCH NICHT GETAN ausgesucht. Er stand auf einem Plakat der Caritas, unter dem bedrückenden Foto eines verhungernden Negers. Als ich mir aber meine Urkunde genauer ansehe, hat Busse den Spruch geändert: WAS DU GETAN HAST EINEM VON DIESEN GERINGSTEN, DAS HAST DU MIR GETAN. Was soll das heißen? Was ich den fünf Vögeln angetan habe, habe ich praktisch Jesus angetan?
Das Gemeine an dem Schuldgefühl ist, dass es einen fertigmacht. Gern würde ich mit Busse darüber sprechen, aber ich will nicht riskieren, dass er unsern großen Auftritt in drei Wochen absagt.
Es ist ein Samstagabend, „Sportschau“-Zeit, weshalb nur ganz wenige Leute gekommen sind, zum Beispiel Rainers Schwester Rita und ihr Freund Dieter, Mannis Eltern und sogar Nachbarn von ihnen. Von meiner Familie ist niemand da, und von Thomas’ Familie auch nicht, aber das ist logisch, weil sie katholisch sind.
Damit die Gottesdienstbesucher auch mitsingen können, bekommt jeder am Eingang von Busse persönlich einen Programmzettel mit den Liedtexten in die Hand gedrückt. Dass da die Beatgruppe Life auftritt, wird nicht erwähnt. Es wird überhaupt niemand mit Namen genannt, nicht einmal Wolfgang, obwohl er sich das Ganze doch ausgedacht hat. Es ist ein stinknormaler Jugendgottesdienst mit Bibelversen, Gebet, Glaubensbekenntnis, Lesung aus der Bibel und musikalischer Umrahmung, und die musikalische Umrahmung sind wir: Chor mit Begleitung. Unser Anteil am Programm ist auf vier Musikstücke eingeschrumpft, weil Busse das so wollte. Zur Begrüßung spielt Thomas ein Solostück von Bach auf der Gitarre, später singen wir zusammen mit der Gemeinde die Lieder „Danke“ und „Kommt, sagt es allen weiter“. Höhepunkt ist das Streitgespräch zwischen zwei Christen, die von Wolfgang und Manni dargestellt werden. Ihr Thema ist laut Programm: WAS HAT DAS CHRISTENTUM MIT POLITIK ZU TUN? !
Dass Fragezeichen und Ausrufezeichen hintereinanderstehen, ist kein Druckfehler, sondern ein Hinweis auf das Für und Wider. Manni ist Wider und Wolfgang ist Für, und obwohl sie Brüder sind, müssen sie sich siezen. Das könnte lustig sein, wenn das Thema nicht so ernst wäre, die Verantwortung der Christen gegenüber Gott und der Schöpfung. Dazu gehört auch die Politik, und deswegen darf man als Christ nicht abseits stehen.
Mit „When the Saints Go Marching In“ setzen wir dann den Schlusspunkt. Thomas hat das Stück so arrangiert, dass wir beide abwechselnd den ersten Vers immer alleine singen und die andern erst beim dritten Vers einsteigen. Bis zur vierten Strophe geht alles gut; gemeinsam singen wir Oh Lord, I want to be in that number, When Gabriel blows in his horn, während Busse gemessenen Schrittes an uns vorbei zum Ausgang schreitet und unser spärliches Samstagabend-Publikum sich von seinen Plätzen erhebt. Jetzt bin ich wieder dran. Aber ich habe den Text vergessen. Ich weiß nicht, wie die nächste Strophe anfängt. The Saints, The stars, The band, Gabriel... Und dann?
Verzweifelt schrumme ich auf dem D-Dur-Akkord herum, in der Hoffnung, dass mir die Fortsetzung doch noch einfallen wird. Thomas bleibt nichts anderes übrig, als es mir gleichzutun, weil die fünfte Strophe mir gehört. Schließlich fasst sich neben mir Rainer ein Herz und übernimmt den Part des Leadsängers: And when the sun, fährt er fort, womit meine Blockade sofort beendet ist: refuse to shine, falle ich ein, und gemeinsam bringen wir die Strophe zuende. Danach ist wieder Thomas dran, And when they gather round the throne, aber inzwischen ist sowieso egal, was wir singen, weil alle Leute schon durch die Tür sind, wo sich Busse mit der Brot für die Welt-Sammeldose postiert hat.
Ich finde, bis auf meinen kleinen Aussetzer haben wir unsere Sache sehr gut gemacht. Aber dass Busse unseren Beatgruppennamen schnöde weggelassen und uns so um unsere Publicity geprellt hat, kann ich ihm nicht verzeihen, weil es für Life die Premiere war und der Durchbruch hätte sein können.
Von Karin Brückner in Eberswalde bekomme ich eine Ansichtskarte. Ihre Handschrift ist ein bisschen eckig, aber Rechtschreibfehler macht sie nur ganz wenige, und das finde ich schon mal gut. Angeblich hat sie mir schon vor den Ferien einen Brief geschrieben und wartet seitdem auf meine Antwort, die ich aber nicht nach DDR 13 Eberswalde-Finow 1 adressieren soll. Schreibe nicht DDR! Ein X reicht auch! Von mir aus. Ich dachte immer, die da drüben wären stolz, dass es nicht mehr Ostzone heißt. Ich schreibe ihr höflich zurück, dass ihr Brief nicht bei mir angekommen ist, und sie schreibt den Brief noch einmal, und natürlich ist es ein Dankesbrief, auch im Namen ihrer Eltern, weil wir zu ihrer Konfirmation so ein tolles Paket geschickt haben. Einen neuen Brief schreibt sie auch, in dem steht, dass sie am 13. September fünfzehn wird und Ansichtskarten und Bilder von Schlagersängern und Beatgruppen sammelt. Ihre Lieblingssänger sind Chris Roberts und Roy Black. O Mann! Die Bee Gees mag sie auch, besonders den Barry Gipp. Barry Gipp! Okay, wahrscheinlich hat sie den Namen noch nie gedruckt gesehen. Für ihre eigenen Schlagersänger interessiert sie sich nicht, schreibt sie, weil da die Texte kitschig sind. Bei Roy Black etwa nicht? Ist sie taub?
Das Beste an ihrem Brief ist das Foto. Man sieht zwar nur ihren Kopf und den Hals mit dem weißen Rollkragenpullover und der Kette, aber ich finde, sie sieht nett aus. Dunkle Haare bis über die Ohren, eine hübsche Nase und zum Glück keine Brille. Der Mund ist geschlossen, aber bestimmt nicht, um dahinter hässliche Zähne zu verstecken. Klein und dick ist sie wohl auch nicht.
In Kunst machen wir jetzt Spielplatzgestaltung. Wochenlang haben wir in vier Teams an unseren Modellen gebastelt, sogar in Freistunden, weil Ritzow uns bei einem Wettbewerb angemeldet hat, wo man Geld- und Sachpreise gewinnen kann. Wenn es nach unseren Vorstellungen geht, werden künftig nur noch hügelige Abenteuerspielplätze gebaut, mit Bäumen zum Klettern, Höhlen zum Verstecken, Wasserbecken zum Plantschen und ellenlangen Rutschen. Auf Ritzows Vorschlag nennen wir sie antiautoritäre Spielplätze, abgeleitet von der antiautoritären Erziehung von A. S. Neill in Summerhill.
Nach der Stunde nimmt mich Ritzow beiseite. Er sagt, nachher in der großen Pause würde er sich gern mit mir unterhalten. Dazu macht er ein Gesicht, als wenn er mir etwas besonders Wichtiges mitzuteilen hätte. Weil mir nichts anderes übrig bleibt, sage ich Ja, und nach Englisch treffen wir uns im Werkraum im Keller, wo er in seinen Freistunden Tonskulpturen formt, mit denen er zu Weihnachten seine Verwandtschaft beglückt. Das hat er uns selbst erzählt, und damit geprahlt, dass seine Geschenke außer der Arbeitszeit nur ein paar Pfennige kosten.
Ritzow stellt seine Aktentasche an die Seite, zieht die Baskenmütze ab, der genau wie ihrer Vorgängerin das Wollschwänzchen fehlt, weil Clason es heimlich mit der Nagelschere abgeschnitten hat, und knöpft seinen weißen Kittel auf. Darunter trägt er ein blütenweißes Hemd mit einer aufgestickten schwarzen Rose, die von weitem wie ein Tintenklecks aussieht.
Dann schiebt er mir einen Stuhl hin, damit ich mich setzen kann. Er selbst setzt sich auf den Drehhocker an der Werkbank, rückt die Töpferscheibe zur Seite und holt in aller Ruhe aus einer Blechdose seine Frühstücksbrote heraus.
Ich spähe ihm argwöhnisch ins Gesicht, aber darin tut sich nichts. Ein komisches Kribbelgefühl macht sich in mir breit.
Es ist nix Schlimmes passiert, sagt Ritzow mit gezwungenem Lächeln und schenkt sich aus seiner Thermoskanne Kaffee ein. Ich wollte mich nur mal mit dir unterhalten. Immerhin verbringen wir ja jede Woche sechs Stunden miteinander. Da interessiert man sich doch für seine Leute.
Okay, sage ich und bin schon mal erleichtert, dass es nicht um die schwarz-roten Aufkleber Mehr Platz für Kinder geht, die wir an unsere Klassenkameraden verschenken sollten und die Clason, Robert und ich stattdessen in einer Blitzaktion auf sämtliche Glastüren im Schwann gepappt haben.
Wie geht es dir so, fragt er leutselig und fängt an zu mampfen, während ich an meiner Unterlippe kaue. So im Allgemeinen?
Im Allgemeinen geht es mir gut.
Als Antwortautomat fühle ich mich nicht besonders wohl. Andererseits – so wie er dasitzt und in seine Stulle beißt, ist gar nichts Lehrerhaftes mehr an Ritzow. Es ist, als ob er seine Uniform und seine Waffen,Weisheit und Macht, abgelegt hätte und mir wie ein ganz normaler Erwachsener gegenübersitzt.
Zuhause alles in Ordnung?
Alles.
Prima. Sag mal... Was ist eigentlich dein Vater von Beruf?, fragt Ritzow mit krümelndem Mund, eine Hand schützend unter dem Kinn.
„Lass meinen Mann aus dem Spiel“, erwidert Joselyn mit schriller Stimme. „Das hatten wir so abgemacht. Es ist meine Schuld, dass Ben für den Pony Express reitet.“
Mein Vater ist bei der Post, lautet meine Antwort. Und meine Mutter ist Lehrerin. Grundschullehrerin.
Ach, sagt Ritzow, und sein Gesichtsausdruck wird lebhaft. Das ist interessant.
Ich finde auch, dass das interessant ist. Und obwohl ich Angst habe, es nicht richtig zu erzählen, es bloß zu verschleudern, erzähle ihm die ganze Geschichte: dass Mama früher in der Ostzone Lehrerin war und es nur in Nordrhein-Westfalen wieder werden durfte und dass wir dafür umziehen mussten, dass sie gerade ihre zweite Staatsprüfung bestanden hat und als nächstes zur Beamtin auf Lebenszeit ernannt wird und wie glücklich sie darüber ist, dass sie es überhaupt geschafft hat, so glücklich, dass sie uns sogar ihre Note verraten hat, Befriedigend. Mehr war nicht drin, hat sie gesagt, ich bin eben kein Prüfungstyp und meine Nerven machen das nicht mehr mit, ich bin doch schon fünfundvierzig. Und dass Papa sich jetzt für einen Lehrgang angemeldet hat und sich zum Schalterbeamten ausbilden lassen will, damit er nicht mehr bei Wind und Wetter Briefe austragen muss.
Weil Ritzkow sich aufs Zuhören beschränkt, kann er in aller Ruhe seine beiden Stullen verputzen. Wenn er mich doch einmal für eine kurze Nachfrage unterbricht, hört er trotzdem nicht auf zu kauen und spricht mit vollem Mund, was sich nicht gehört, aber wahrscheinlich denkt er, er kann es sich erlauben, weil wir alleine sind und ich nur ein Untersekundaner bin. Danach schenkt er sich eine zweite Tasse Kaffee ein und will wissen, ob ich Geschwister habe. Er hat viele schwarze Haare auf seinem Handrücken, bis zu den Fingerwurzeln.
Einen Bruder. Er ist fünf Jahre älter. Er war auch auf dem Schwann. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist er Justizreferendar.
Ah ja. Ich glaube, den habe ich mal in Erdkunde gehabt. Ihr sehr euch ein bisschen ähnlich, stimmts?
Mmh.
Und in deiner Freizeit... Was machst du da so?
Alles Mögliche. Verschiedene Sachen halt. Hauptsächlich Lesen und Musikhören. Ich bin auch im Fußballverein. Und dann habe ich noch Prachtfinken.
Weil Ritzow nicht weiß, was Prachtfinken sind, muss ich es ihm erklären. Ritzow nickt dazu und schlürft seinen Kaffee. Dann will er wissen, ob ich auch ein richtiges Hobby habe.
Ich sammle ziemlich viel, sage ich. Alles Mögliche. Münzen, Briefmarken, Versteinerungen...
Aha. Aber nur so, oder? Oder beschäftigst du dich richtig damit?
In letzter Zeit nicht mehr. In letzter Zeit spiele ich viel Gitarre.
Da bist du ja eigentlich ein Fall für das Leistungsfach Musik, sagt Ritzow gönnerhaft. Und was spielst du so? Bach?
Nö. Ich kann ja keine Noten.
Du spielst Gitarre ohne Noten? Also nur so aus Quatsch, wie?
Er spricht es ganz kumpelhaft aus, aber seine Frage hat trotzdem etwas Lauerndes, wie wenn er auf etwas Bestimmtes hinauswill. Wahrscheinlich musste er sich erst einmal vergewissern, ob ich überhaupt kooperationswillig bin. Und jetzt, wo das geklärt ist, fährt er stärkere Geschütze auf: Nur so aus Quatsch?
Eigentlich ist mir egal, was Ritzow von meinem Gitarrespielen hält, aber dann erkläre ich ihm trotzdem, dass ich es mir selbst beigebracht habe, und zwar mit Hilfe einer Gitarrenschule; dass es die von Drafi Deutscher in „Lupo modern“ war, behalte ich für mich. Auch, dass ich jeden Tag übe und vom vielen Üben an vier Fingern der linken Hand dicke Hornhaut bekommen habe. Und möglichst herablassend füge ich noch hinzu, dass ich mittlerweile eigene Songs komponiere, mit Texten von Shakespeare und Edgar Allan Poe. Ich rede mich richtig ins Feuer. Auch, um ihn davon abzuhalten, mir ins Gewissen zu reden. Mir zu raten, nur noch ernsthafte Dinge zu tun, die mich in seinen Augen weiterbringen. Was bedeuten würde, weniger fernzusehen, meine Hausaufgaben gründlicher zu erledigen, mich überhaupt mehr auf die Schule zu konzentrieren und den anderen Kram weitgehend sein zu lassen.
Als es klingelt, stehen wir beide gleichzeitig auf. Das Gespräch ist beendet. Ich gehe mit dem Gefühl, dass wir über die Hauptsache, über das, was Ritzow wirklich wissen wollte, gar nicht gesprochen haben.