In Winterscheid ist mir klar geworden, dass die Kindergitarre meiner nicht würdig ist. Schluss mit dem Geiz! Mit einem ordentlichen Batzen Geld von meinem Sparkonto in der Tasche fahre ich nach Neuß zum Musikgeschäft Haack+Nolden in der Erftstraße, das eine gute Auswahl an Instrumenten in allen Preislagen haben soll. Thomas kommt mit und berät mich, weil er Ahnung hat. Unsere Wahl fällt auf eine Konzertgitarre von Teller. Als ich „The House Of The Rising Sun“ ausprobiere, stelle ich sofort fest, dass Nylonsaiten viel angenehmer sind als Stahlsaiten, weil sie nicht so in die Finger einschneiden. 160 Mark muss ich dafür bezahlen. Den passenden stabilen Koffer dazu, wie Thomas einen hat, verkneife ich mir. Eine kackbraune Kunstlederhülle tut es auch. Guter Regenschutz, meint Thomas.
Dass ich jetzt eine richtige Gitarre besitze, spricht sich bis zu Mannis Bruder herum, der bei der Jungen Gemeinde in Norf mitmischt und nächstes Jahr einen Jugendgottesdienst gestalten darf. Weil Manni ihm erzählt hat, dass ich mehrere Lieder draufhabe, schlägt Wolfgang vor, dass wir bei dieser Gelegenheit ein paar passende Songs vortragen. Zumal wir einen Monat vorher konfirmiert werden und Pfarrer Busse uns aus dem Konfirmandenunterricht kennt.
Diese Einladung ins Gotteshaus ist für mich das Signal, unsere Bandgründung voranzutreiben. Gitarre und Gesang übernehmen natürlich Thomas und ich; bei Bedarf wechselt Thomas ans Klavier bzw. an die Kirchenorgel. Manni, nach langen Jahren Schlagzeugunterricht an der Neußer Musikschule, spielt Snare-Drum, für den Bass haben wir Rainer ins Auge gefasst.
Den Bandnamen Life hat sich Thomas ausgedacht. Ich finde ihn so lala, weil die meisten Namen von Beatgruppen mit The anfangen, aber Thomas meint, es gibt auch eine Band, die einfach nur Love heißt, und außerdem kommt Life auch in der Bibel vor, wo Jesus sagt, I am the life, jedenfalls wenn er es auf Englisch gesagt hätte.
Mit der Nachricht von der Bandgründung überraschen wir Rainer. Wir sagen ihm aber nicht, dass er den Bass übernehmen muss, weil die anderen Stellen schon besetzt sind, sondern wir sagen, dass Paul McCartney auch Bass spielt und von vielen als Kopf der Beatles angesehen wird. Rainer hat auch gar nichts dagegen, Bass zu spielen, er hat bloß keinen und will sich vorläufig auch keinen kaufen. Also trete ich großzügig meine Kindergitarre an ihn ab und schlage vor, dass er sie zum Bass umrüstet.
Rainer ist einverstanden und kauft einen Satz Elektrobass-Saiten, aber als er versucht, die Saiten aufzuziehen, platzt der Steg, weil es eben nur eine Kindergitarre für dünne Stahlsaiten ist. Prompt ist er wütend, aber nicht, weil er meine Gitarre kaputtgemacht hat, sondern weil es eine Schnapsidee von mir gewesen ist und er jetzt Saiten für zwanzig Mark hat, mit denen er nichts anfangen kann. Zum Glück können wir ihn überreden, vorübergehend als dritter Sänger und Mann mit dem Tamburin einzusteigen. Dafür steigt jetzt Manni aus, weil er seinem Bruder versprochen hat, bei dem Jugendgottesdienst zusammen mit ihm Texte vorzulesen. Wahrscheinlich hat er aber einfach keine Lust, sich mit der Snare Drum neben uns zu stellen, wo doch Rainer jetzt mit dem Tamburin rasselt.
Bei unserer ersten Probe ist Pfarrer Busse dabei, weil er sich mal anhören will, was wir zu bieten haben. Zuerst stellen wir ihm Thomas vor, weil er als einziger von uns nicht bei den Katechumenen ist, sondern katholisch. Da ich nicht weiß, ob Herr Busse Katholiken in seiner Kirche duldet, erkläre ich ihm, dass Thomas nicht nur Gitarre, sondern auch Klavier spielen kann und sich bei „The House Of The Rising Sun“ sehr gern an die Kirchenorgel setzen würde. Und dass wir gern „Blowin’ In The Wind“ und ein eigenes Lied mit dem Titel „Warum“ spielen würden, das ich gedichtet habe und das Thomas noch vertonen muss, wozu er aber keine Lust hat, weil er es käse findet, aber das muss Busse ja nicht wissen.
Herr Busse hebt die Hand, wie wenn er mich segnen wollte, was er sicher nicht tun würde, wenn er von meinem fünffachen Vogelmord wüßte. PFARRER VERWEIGERT TIERQUÄLER KONFIRMATION – ELTERN GEBEN UNGELIEBTEN SOHN ZUR ADOPTION FREI. Aber tatsächlich landet die Hand auf meiner Schulter.
Das ist alles sehr schön, sagt Herr Busse, der Thomas kann beim Gottesdienst gerne auf unserer Orgel spielen. Es macht auch überhaupt nichts, dass er katholisch ist. Bloß über die Musikauswahl müssen wir uns noch mal unterhalten. Beim Gottesdienst können nur eindeutig religiöse Gesänge erklingen. Und zwar auf Deutsch, weil die Gemeinde an der ungewohnten Gottesdienstform schon genug zu knabbern haben wird. Die Lieder können ruhig modern sein. Ihr kennt doch bestimmt „Danke“. So etwas in der Art.
Damit wir uns eine Vorstellung davon machen können, was geeignet ist, hat er uns ein Liederheft mitgebracht. Die Schlager darin sind eigentlich Gospelsongs und werden in Amerika in den Negergottesdiensten gesungen.
Zum Glück kann Thomas mit den Noten etwas anfangen. Die Songs gefallen uns auch ganz gut, was aber nicht am Text liegt. Als ich Mama zuhause „In der Welt bin ich allein, Halleluja“ vorspiele, sagt sie, dass auf dieselbe Melodie Knut Kiesewetter „Rote Rosen werden blühen am Missouri“ gesungen hat.
Die Tage werden kürzer, die Tage werden länger. Beim letzten Konfirmandenunterricht vor den Osterferien gibt Herr Busse bekannt, dass auch in unserer Partnergemeinde in der Ostzone einige Jungen und Mädchen konfirmiert werden, und das ist etwas Besonderes, weil in der Ostzone die Kirche unterdrückt wird. Deshalb müssen die wenigen Christen, die den Mut haben, ihren Glauben öffentlich zu bekennen, von uns unterstützt werden. Auch wir können mithelfen, indem wir den Konfirmanden drüben ein schönes Päckchen schicken, weil sie dadurch in ihrem Gottvertrauen bestärkt werden. Er hat vom Pfarrer in Eberswalde eine Liste mit den Namen und Adressen seiner Konfirmanden bekommen, und es wäre schön, wenn jeder von uns eine Adresse übernähme.
Ich melde mich und erkläre, dass ich mitmache, wenn ich eine Mädchenadresse bekomme. Eine Brieffreundin könnte ich noch gebrauchen. Außerdem schickt Mama sowieso jede Menge Pakete in die Ostzone, da kommt es auf eines mehr oder weniger auch nicht an. Herr Busse gibt mir die Liste mit den Namen und ich entscheide mich für Karin Brückner. Wenn Jesus mich liebt, sorgt er dafür, dass sie gut aussieht.
In Kunst schleppt uns Ritzow alle paar Wochen in eine Ausstellung, damit wir darüber im Unterricht sprechen und eventuell sogar eine Klassenarbeit schreiben können, wie über die Gemälde von Fernand Léger, die wir in der Düsseldorfer Kunsthalle gesehen haben. Bei ihm braucht man nicht lange zu rätseln, ob das Bild von ihm ist, weil er fast immer Leute mit dicken Armen und dicken Fingern malt, und die Gesichter bestehen aus wenigen Strichen. Besser haben mir die Skulpturen von Claes Oldenburg gefallen, die wir auch in Düsseldorf gesehen haben. Er hat ganz normale Alltagsgegenstände oder Lebensmittel, riesig vergrößert, aus weichem Stoff oder Plastikfolie nachgebaut. Das Ausstellungsplakat mit der Zitronenpresse habe ich in meinem Kinderzimmer aufgehängt, anstelle der Saturn V-Rakete, die bei der Mondlandung zum Einsatz kam.
Über eine Ausstellung in der Kölner Kunsthalle mit so komischen Sachen wie atmenden Wänden, einem Küchenherd, auf dem Schokolade übergekocht ist und einem Raum, in dem man auf Besteck herumtrampelt, müssen wir zum Glück nichts schreiben. Ich hätte auch nicht gewusst, was. Außen auf dem Gebäude stand mit großen Buchstaben geschrieben: Köln ist ein Arschloch, aber nicht mal Ritzow hat gewusst, ob das mit zur Ausstellung gehört.
Sport haben wir jetzt bei Siebert. Nachdem wir an den Ringen rumgehampelt und ein paar Mal über den Kasten gesprungen sind, lässt er uns noch eine Viertelstunde Fußball spielen. Soeder stellt mich als Torwart auf. Ich wehre sogar ein paar Schüsse ab, aber am Ende verlieren wir 2:4. Schon wieder das Wembley-Ergebnis. Es ist wie verhext.
Hinterher in der Umkleide wird es ziemlich laut, denn Dressler und Berg tragen einen Ringkampf aus und ein paar von uns feuern sie an, indem sie mit ihren Schuhen auf das Metallgitter der Garderobe hämmern. Siebert kriegt davon nichts mit, weil er sich nicht umzuziehen braucht. Bestimmt sitzt er schon im Lehrerzimmer und trinkt Kaffee.
Plötzlich wird die Tür der Umkleide aufgerissen.
Rrrru-he!
Dr. Brych hat das gebrüllt. Dr. Brych steht in der Tür, und weit und breit kein Mauseloch, in das wir uns verkriechen können.
Wohl verrückt geworden, was? brüllt Dr. Brych wieder, dabei herrscht längst Totenstille. Zusammengepfercht auf engstem Raum, bilden wir einen Knäuel und starren verlegen irgendwohin, an die Decke, auf den Boden, nur nicht in das Gesicht von Dr. Brych.
Wer ist das gewesen? schreit er in Richtung Knäuel.
Schweigen und der Geruch von Bohnerwachs und Achselschweiß. Jeder wünscht sich, unsichtbar zu sein.
Wer war das?
Keine Reaktion. Die Täter sind starr vor Angst und schweigen.
Sofort melden, oder die ganzen Klasse bekommt eine Stunde Arrest! Seine Stimme ist scharf und ungeduldig.
Jetzt schlägt meine Stunde. Der Tyrann verlangt ein Opfer? Bitte, hier bin ich. Mutig hebe ich die Hand und trete vor, Fervers folgt mir, leichenblass wie immer.
Sofort donnert Dr. Brych uns an: Warum habt ihr das getan? Dazu fuchtelt er mit einer Hand vor unseren Köpfen herum, als müsste er Fliegen verscheuchen.
Ich mache mir gleich in die Hose und muss tief Luft holen, um sprechen zu können, aber weil ich opferbereit und gleichzeitig unschuldig bin, schaue ich vorsichtig zu ihm hoch, nicht in seine Augen, die mich lähmen könnten, sondern auf seinen zugekniffenen Mund, und sage: Wir haben das nicht getan.
Was? Ich spüre, wie sich Dr. Brychs Augen tief in mein Innerstes bohren.
Ja. Wir waren das nicht.
Und warum habt ihr euch dann gemeldet?
Weil Sie gesagt haben, dass wir sonst alle Arrest kriegen.
Ja, murmelt Fervers, weil sonst die ganze Klasse...
Drei, vier Sekunden Stille. Es ist, also ob in Dr. Brychs Gesicht ein Riegel zur Seite geschoben wird. Sein Kopf bewegt sich hin und her, er sieht an uns vorbei.
Klassensprecher?
Korbus meldet sich.
Welche Klasse ist das?
OIIIc.
Klassenlehrer?
Herr Selbach.
Die ganze Klasse eine Stunde Arrest! – Bis auf diese beiden da.