Die Untertertia ist auch geschafft und ich bin nicht sitzengeblieben, weil ich nur eine Fünf bekommen habe, in Latein.
Für die Obertertia mussten wir uns zwischen dem neusprachlichen, dem mathematisch-naturwissenschaftlichen und dem musisch-künstlerischen Zweig entscheiden. Die meisten aus meiner Klasse haben den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig mit Mathematik als sechsstündigem Hauptfach gewählt und Stromeyer als Lehrer behalten. Ein paar haben sich für den neusprachlichen Zweig entschieden und kriegen jetzt Französisch dazu. Für den musisch-künstlerischen Zweig haben sich nur Manfred Wiefelspütz, Peter Diebels und ich gemeldet, und alle drei haben wir nicht Musik bei Keusen, sondern Kunst bei Ritzow gewählt.
In der Schulzeitung stand über Ritzow: AUF GRUND EIGENEN NACHDENKENS WURDE ER PAZIFIST. Mama meint, Pazifist kommt von Pazifik, wofür man auch Stiller Ozean sagen kann. Wahrscheinlich ist er ein Liebhaber von Ruhe und Ausgeglichenheit und deshalb genau der richtige Lehrer für mich unruhigen Geist.
Paul hat es wieder nicht gepackt. Würde er noch zweimal sitzenbleiben, hätte ich ihn bis zum Abitur eingeholt. Aber das wird nicht passieren, denn er geht ab und kriegt das übliche frisierte Abgangszeugnis mit nur einer statt vier Fünfen. Damit hat er wenigstens die Mittlere Reife geschafft.
Paul hat keinen blassen Schimmer, was er jetzt machen soll, aber Papa hat ihn für die Beamtenlaufbahn vorgesehen, ganz egal, wo: Polizei, Finanzamt, Zoll oder Justiz. Paul findet Wasserschutzpolizei gut, wegen der schnellen Motorboote, aber schließlich bewirbt er sich beim Amtsgericht Neuß. Den Lebenslauf hat sich Papa für ihn ausgedacht, er muss ihn bloß noch sauber mit der Hand abschreiben: dass seine Eltern aus der Ostzone geflohen sind, weil sie in der Sperrzone an der Elbe besonderem politischen Druck ausgesetzt waren; dass er in der Pfalz auf dem Gymnasium kein Latein gelernt hat, weshalb er in Neuß zwei Klassen nachholen musste und erst jetzt die Untersekunda geschafft hat; dass er sich mit neunzehn Jahren zu alt für die Schule fühlt und lieber mitten im Leben stehen möchte: Ich bin gewiss, dass sich auch ohne Abitur dem Strebsamen Chancen bieten, vorwärts zu kommen.
Zum Teil stimmt das sogar. Total geschwindelt ist dagegen, dass Paul Justizbeamter werden will wie sein 1943 gefallener Onkel Heino. Der ist nämlich nur 19 Jahren alt geworden und hat vorher eine Lehre als Schiffbauer angefangen. Aber mit dieser Begründung muss man Paul einfach für die Justizbeamtenlaufbahn zulassen. Und das hat er ganz allein Papa zu verdanken. Wenn er sich etwas ausdenkt, glaubt jeder, es sei wirklich passiert.
Leider weiß der Zauberkreis-Verlag das nicht richtig zu schätzen, denn Papa hat alle seine Romane zurückbekommen. Dass sie sie zurzeit nicht annehmen können, wusste er schon, aber der Lektor hatte ihm wenigstens ein Urteil versprochen. Jetzt ist dieser Lektor gestorben, in seinem Büro wurden Papas Romane entdeckt, und er bekam sie ohne Urteil zurück. Taugen sie etwas oder nicht? Er weiß es nicht. Jetzt will er sie an den Kelter-Verlag schicken, die seinen ersten Roman gedruckt haben.
Eine Urlaubsreise gibt es dieses Jahr nicht. Vielleicht müssen wir wegen dem Umzug sparen, oder wegen der neuen Möbel, die Papa gekauft hat. Nur Paul darf verreisen, nach Südfrankreich, wo er vor lauter Sonne, Strand und Bikinimädchen die Mondlandung verpasst, für die wir alle mitten in der Nacht extra aufstehen, und als er wieder zuhause ist, darf er sich den zehn Jahre alten weißen DKW von Herrn Schäfermeier aus dem ersten Stock kaufen, weil Herr Schäfermeier krank ist und nicht mehr Auto fahren kann und weil es eine Gelegenheit ist. Wie viel das Auto gekostet hat, wird mir nicht verraten, nur dass es der Geldbetrag war, den ihm Onkel Georg in seinem Testament hinterlassen hat.
Auf meinem Postsparbuch haben sich ohne Patenonkel nur 170 Mark angesammelt. Dafür kriege ich keine einzige gute Aktie: Conti-Gas steht bei 335, Schultheiss bei 516, Deutsche Centralboden bei 661. Aber es gibt auch billigere. Ich frage Mama, ob sie vielleicht heute Nachmittag mit mir zur Deutschen Bank runtergeht, damit ich endlich meine Aktien kaufen kann, aber Mama sagt, ein andermal.
Nach den Sommerferien fragt mich Manni, ob ich Lust habe, die Herbstfreizeit der Neußer Christuskirchengemeinde in der Eifel mitzumachen. Thomas und Rainer aus Norf fahren auch mit.
Mama hat nichts dagegen. Papa schaut gleich in seinen Büchern nach, wo Winterscheid liegt, und als er es in der Nähe von Prüm gefunden hat, sagt er, dass die Prümer Mulde geologisch sehr interessant ist und man dort viele Fossilien finden kann, versteinerte Korallen, Seelilien, Muscheln und Trilobiten. Vielleicht gibt es in der Nähe einen Steinbruch, da sollte ich unbedingt mal schauen, ob etwas in der Art herumliegt, und im Wald oder auf dem Acker findet man manchmal auch etwas.
Heute will ich bei der Deutschen Bank ein paar Mark auf mein Sparkonto einzahlen und erinnere Mama daran, dass sie versprochen hat, mitzukommen, damit ich mir endlich Aktien kaufen kann. Sie hat jetzt aber keine Zeit und will später mit mir runtergehen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich es bis dahin vergessen habe, aber ich vergesse es nicht, und nach dem Kaffeetrinken frage ich sie wieder. Sie guckt mich an und schüttelt den Kopf.
Aber du hast es versprochen!
Weil du mich bis zum Gehtnichtmehr gequält hast, Bürschlein. Wieso musst du auf Teufel komm raus Aktien kaufen?
Weil es eine gute Geldanlage ist. Und außerdem ist es mein Geld. Kommst du jetzt mit, wie du es versprochen hast?
Hast du dir denn schon die Füße gewaschen?
Die Füße gewaschen? In der Bank sehen die doch meine Füße gar nicht.
Bevor du dir nicht die Füße gewaschen hast, gehe ich nicht mit dir runter, kapito?
Ich bin kurz vor einem Tobsuchtsanfall und gehe zu Papa, um mich bei ihm zu beklagen, obwohl er selbst Kummer genug hat. Denn nach dem Zauberkreis-Verlag hat auch der Kelter-Verlag seine Romane abgelehnt; angeblich weil die Terminplanung für das nächste Jahr bereits abgeschlossen ist. Der Lektor hat ihm zwar angeboten, sie zu behalten, weil er sie vielleicht übernächstes Jahr herausbringen kann, aber so lange will Papa nicht warten. Lieber will er es beim Marken-Verlag in Köln versuchen. Schon seit Tagen sitzt er vor seiner Schreibmaschine und zerbricht sich den Kopf, wie er seine Romane verändern muss, damit sie doch noch gedruckt werden. Er tippt eine Seite nach der andern, aber zufrieden kann er nicht sein, denn sein Papierkorb ist voll mit zerknüllter Zeta Mattpost S, womit er sich reichlich eingedeckt hat.
Papa hört sich in Ruhe an, was ich zu sagen habe, und als ich das mit dem Füße waschen sage, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Bestimmt findet er es auch lächerlich.
Kannst du Mama sagen, dass es Quatsch ist, was sie von mir verlangt?
Papa schaut erst mich an und dann das Blatt Papier in seiner Schreibmaschine.
Tja. Wenn deine Mutter meint, dass du dir die Füße waschen sollst, bevor du zur Bank gehst... Dann musst du dir eben die Füße waschen.
My father is silly, my mother is silly, and my brother is bad. Warum gibt es in dieser Familie keine Gerechtigkeit, warum warum warum? Allmählich glaube ich, dass ich auch adoptiert bin, wie Gaby Rückert, und das ist der Grund, warum Papa und Mama mich nicht wie ein eigenes Kind liebhaben können. Es gibt zwar Fotos von mir als Baby in Leinsweiler mit Papa und Mama und Paul, aber die Bilder können ja nach der Adoption gemacht worden sein. Oder ich bin auf der Säuglingsstation verwechselt worden.
Mama, war ich als Baby auf einer Säuglingsstation?
Wie kommst du denn auf die Chaussee? Das erste Krankenhaus, das du von innen gesehen hast, war das in Freudenstadt. Mit gebrochenem Arm. Wo du mir so reizende Ausdrücke an den Kopf geworfen hast.
Ja, tut mir leid.
Selber schuld, wenn sie mich zum Lügen zwingt. Vielleicht sollte ich einfach weggehen, wie Rasmus, der eines Tages einfach aus dem Waisenhaus abgehauen ist und am Ende Eltern gefunden hat, die ihn liebhaben, und es waren noch nicht einmal seine richtigen.
Am ersten Ferientag bringt mich Paul mit dem Auto nach Neuß zum Gemeindehaus in der Drususallee, wo schon der Bus der Firma Hubert Winters steht. Als Thomas meine kleine Gitarre sieht, sagt er kichernd Oh, du spielst Banjo? Nachdem er die karierte Hülle abgetastet und festgestellt hat, dass man den Hals in der Mitte abknicken kann, weil er nur ausgestopft ist, lacht er sich kaputt. Trotzdem setzt er sich im Bus neben mich, weil er auch Gitarre spielt und wissen will, ob ich wirklich „My Mind’s Eye“ kann, wie Manni ihm erzählt hat. Ich tue ihm den Gefallen und spiele ihm die erste Strophe vor und singe dazu und er ist baff, weil er in seinem Unterricht nur Etüden und Adagios lernt. Ich sage ihm nicht, dass „My Mind’s Eye“ eigentlich in A geht und für mich zu schwer ist, weil man dann fis-Moll greifen muss, sondern tue so, als ob die Small Faces es auch in G spielen wie ich, mit e-Moll. Danach muss ihm die Gitarre reichen und er lacht sich wieder kaputt, weil er kaum seine Finger nebeneinander auf das Griffbrett bekommt.
Warum hast du dir denn eine Kindergitarre gekauft?
Weil ich nicht mehr Geld ausgeben wollte.
Winterscheid ist ein Kuhkaff zwischen Äckern, Wiesen und Wald. Das Jugendheim liegt am Rand des Dorfes, nebenan hat ein Bauer seinen Hof. Gleich nach der Ankunft werden die Gruppen eingeteilt. Manni, Thomas, Rainer und ich kommen zusammen mit drei andern zur Gruppe Högi. Außer Högi gibt es noch vier weitere Gruppenleiter für uns Jungen, nämlich Matthes, Didi, Maggi und Joe. Ein paar ältere Jungen wie Lothar Offermann, Hans Pohl oder Norbert Peerenboom haben auch was zu sagen und machen zum Beispiel UvD, wecken uns morgens oder passen nachts auf, dass Ruhe im Schlafsaal ist. Außerdem gibt es zwei Gruppenleiterinnen für die Mädchen, Rosy Meier und Anke Lindemann, und Frau Emons und Frau Küpper für die Küche, und der Chef von allen ist Pastor Arndt, der mittwochs morgens den Gottesdienst in der Christuskirche leitet.
Am nächsten Tag gehen wir mit Högi wandern. Dafür, dass er selbst erst sechzehn ist, spielt er sich ziemlich auf. Zum Beispiel hat er es nicht gern, wenn ich mich auf der Wanderung mal hinsetze, um mir die Steine am Wegrand näher anzusehen, ob es vielleicht versteinerte Korallen sind. Immer treibt er uns an, und wenn wir mal nicht so wollen wie er, beschimpft er uns als Lahmärsche und faule Säcke und scheucht uns weiter. Irgendwann haben Manni und ich die Nase voll und erklären, dass wir jetzt keinen Schritt weitergehen. Thomas und Rainer schließen sich uns an, und die andern bleiben auch stehen, weil sie genau so wenig Lust haben wie wir.
Wie, sagt Högi, ihr wollt meutern? Ich zähl bis drei, und dann marschiert ihr weiter oder ihr könnt was erleben. Wilfried, Elmar und Christoph meinen, sie können schon wieder und wollen weitergehen, aber ich sage, nö, wir streiken. Ein Streik gegen einen Diktator ist unser verfassungsmäßiges Recht, das habe ich von Helge Malchow gelernt. Högi sagt, wir können uns unser Verfassungsrecht in die Haare schmieren und packt uns und stößt uns nach vorn, und als wir bockig einfach stehen bleiben, tritt er Thomas und mich in den Hintern, bloß weil wir die größten in unserer Gruppe sind. Warum gibt es keine Gerechtigkeit, warum warum warum?
Nach dem Mittagessen, wenn wir die Tische gesäubert und das Geschirr gespült haben, müssen wir uns im Speisesaal eine Stunde lang ausruhen. Wir können Gesellschaftsspiele machen oder lesen oder Briefe schreiben, aber raus dürfen wir nicht, und nach oben gehen auch nicht.
Wenn Matthes und Didi nicht in der Nähe sind, denen man nichts vormachen kann, weil sie bei den Larks spielen und sogar Auftritte haben, packe ich meine Gitarre aus, nehme mein Beat-Book Nr. 1 zur Hand und spiele Thomas und Manni und Rainer und allen anderen, die es hören wollen, meine sämtlichen Drei- oder Vierakkord-Lieder in C vor, nämlich „Marmor, Stein und Eisen bricht“ und „Ob-la-di, ob-la-da“ und „Was wirklich zählt auf dieser Welt“ und „A Well Respected Man“, und dann noch ein paar Lieder in Moll, zum Beispiel „Donna Donna“ und „Paint it black“, aber nur den Anfang. Und während ich „Hejo, spann den Wagen an“ spiele, weil man das schön als Kanon zusammen singen kann, wandert mein Beat-Book mit den ausgeschnittenen Songtexten von Hand zu Hand und wird bewundert, und alles bloß, weil ich weit und breit der einzige bin, der sich eine solche Arbeit macht.
Steffi Groß aus der Gruppe Anke interessiert sich auch für mein Beat-Book und will es nach dem Abendessen mit nach oben nehmen. Von mir aus. Am liebsten würde ich mitkommen und mir den Mädchenschlafsaal mal in Ruhe ansehen. Vielleicht zieht sich eine gerade den Schlafanzug an und man sieht den nackten Po oder sogar den Busen, aber für Jungen ist es verbotenes Gelände. Sollte es doch mal einer von uns wagen, dann kreischt garantiert irgendeine herum und schon kommt ein Betreuer angewetzt und nimmt ihn in den Schwitzkasten. Wenn es keiner wagt, sind die Mädchen auch nicht zufrieden und denken sich irgendwas aus, wie sie uns rüber locken können, zum Beispiel, indem sie uns irgendwas mopsen, bloß damit sie wieder ihr Theater und Gekreische anfangen können.
Wir Jungen schlafen in einem großen Raum in Doppelstockbetten. Früher war hier der Dachboden, was man an den vielen Balken sehen kann, zwischen denen unsere Spinde stehen. Obwohl im Rüstbrief stand, die Jungen brauchen einen warmen Schlafsack, hat mir Mama nur zwei zusammengenähte rot-weiß-karierte Leintücher mitgegeben. Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass es hier Einzelzimmer mit Heizung gibt. Zwei Nächte mache ich das mit, dann rufe ich von der Telefonzelle vor dem Tante-Emma-Laden aus zuhause an. Bevor Papa mir sagen kann, dass es in der Nähe von Winterscheid eine Erzgrube gibt, wo man früher Bleiglanz, Limonit und Baryt gefunden hat, jammere ich Mama vor, dass ich nachts vor Kälte nicht schlafen kann, weil ich als einziger keinen richtigen Schlafsack habe und weil die Fenster nachts auf Kipp stehen, damit es nicht mieft. Hier darf man das sagen, ohne dass man gleich zusammengeschlagen wird. Daraufhin muss Paul am Sonntag mit dem Auto nach Winterscheid düsen, um mir etwas Warmes zu bringen, und das Warme ist Onkel Heinos Schlafsack, den er im Arbeitsdienst in Minsk gehabt hat, wo es im Winter sehr kalt gewesen sein soll.
Nachdem wir die Zähne geputzt und unsere Schlafanzüge angezogen haben, ist noch ein bisschen Zeit, bevor der UvD das Licht im Schlafsaal ausschaltet und zur Nachtruhe pfeift. Der eine oder andere zeigt dann das Fahrtenmesser, das er heimlich mitgenommen hat oder die „Micky Maus“, die er sich in Bleialf gekauft hat, und Mike Bauer zeigt seinen Steifen, weil er behauptet hat, seiner wäre siebzehn Zentimeter lang und keiner von uns wollte es glauben. Elmar holt sogar extra sein Mäppchen heraus, um genau nachzumessen, aber das Lineal ist nur fünfzehn Zentimeter lang und der Rest muss geschätzt werden.
Dann kommt auch schon der Pfiff. Wer jetzt noch irgendwelchen Blödsinn im Bett macht und dabei erwischt wird, muss aufstehen und zehn Minuten mit ausgestreckten Armen neben dem Bett stehen, und dieser Trottel bin ich.