Auf der Bio-Etage krabbelt Herr Gründling in einer der beiden großen Volieren herum und geht mit einem Käscher auf Vogeljagd. Ich schaue ihm eine Weile zu, und als er gerade einen erschöpften Zebrafinken aus dem Netz wickelt, sage ich sehr höflich Guten Tag, denn Herr Gründling ist ein netter Lehrer, der keiner Fliege etwas zuleide tut.
Guten Tag, sagt Herr Gründling und steckt den Zebrafinken in einen Pappkarton, in dem Flattergeräusche zu hören sind.
Was machen Sie mit den Vögeln, Herr Gründling?
Die müssen ausziehen.
Wieso?
Weißt du, ab nächstem Schuljahr bin ich am Humboldt-Gymnasium, und mein Nachfolger, Herr Kilian, der interessiert sich nicht für Vögel. Nicht mal für solche aus Afrika und Australien.
Schade.
Ja, das ist schade. Der will die Volieren in Terrarien umwandeln und Reptilien einsetzen. Da muss ich reinen Tisch machen.
Und was passiert jetzt mit den Vögeln?
Och, die werden von Herrn Kilian eingeschläfert, sagt Herr Gründling, stülpt das Fangnetz über einen dicken braunen Vogel, der sich am Gitter festgeklammert hat, und pflückt ihn vorsichtig ab. Die sind ja auch schon alle alt.
Die werden alle getötet? frage ich erschrocken.
Ja, aber das geht ganz schmerzlos, mit Gas, sagt Herr Gründling und stopft den Vogel ebenfalls in den Karton.
Kann man die nicht verschenken?
Ach, wer will denn Exoten haben, die nicht mal singen? Die meisten sind schon ganz zerzaust.
Ich würde sie nehmen, sage ich.
Alle dreizehn?
Ja, alle.
Hast du denn eine Voliere für so viele Vögel? Es sind alles Wildfänge, die brauchen viel Platz.
Nein... Aber einen sehr großen Käfig! lüge ich. Sogar zwei!
Ach ja? Und was sagen deine Eltern dazu, wenn du plötzlich mit so vielen Vögeln ankommst?
Och, die freuen sich. Die haben Vögel nämlich sehr gern. Wir haben auch schon viele Vögel aufgezogen. Mehrere Spatzen, vier Schwalben, einen Baumpieper... Und letztes Jahr drei Grünfinken.
Kaum habe ich es gesagt, tut es mir auch schon leid, denn Grünfink ist der Spitzname von Herrn Gründling. Aber Herr Gründling lächelt nur und sagt Na meinetwegen. Wann hast Du Schule aus?
Um Viertel nach eins, sage ich.
Dann komm anschließend wieder hierher, dann kannst du sie mitnehmen.
Zuhause erzähle ich Mama und Papa, dass die Vögel in unserer Schule vergast werden sollten, weil sie alt und zerzaust sind, und ich sie aber gerettet habe. Sie sind hier drin, sage ich und schüttle den Karton ein bisschen, damit die Vögel mit den Füßchen trappeln und ein Lebenszeichen von sich geben. Danach darf ich den alten Vogelkäfig aus dem Keller holen und in meinem Zimmer neben Püries Käfig stellen. Ich kann es kaum noch erwarten, die Vögel einzusetzen, aber erst muss ich den Käfig einrichten.
Als ich zum Schluss das Trinkwasserröhrchen mit Wasser fülle, fällt mir ein, dass die Kolibris in Südamerika sich von Nektar ernähren. Bestimmt mögen meine exotischen Vögel auch Zuckerwasser. Ich verrühre einen Teelöffel Zucker in einem halben Glas Wasser, fülle das Trinkwasserröhrchen mit der Mischung und hänge es an den Käfig. Dann öffne ich den Karton an der Seite und halte ihn vor die Käfigtür. Nach und nach flattern alle Vögel ins Helle und drängen sich ängstlich Seite an Seite auf den Stangen. Weil sie vorher in einer riesigen Voliere gelebt haben, müssen sie den Käfig natürlich als Gefängnis empfinden. Ich gehe vor ihnen in die Hocke, damit sie nicht in Panik geraten und wild durcheinander flattern. Für sie bin ich jetzt der große Vogelgott, der sie füttert und tränkt.
Weil Herr Gründling die Namen und das Geschlecht mit Kugelschreiber auf den Karton geschrieben hat, weiß ich genau, was ich bekommen habe: Ein Bandfinken-Pärchen. Braun, mit einem roten Querstreifen am Hals. Kopf und Nacken sind wellenförmig gemustert. Das Männchen hat zusätzlich einen dunkelbraunen Fleck am Bauch. Zwei Grauastrilde. Ihr Federkleid ist schmucklos grau. Der rote Streifen, der vom Schnabel längs über die Augen verläuft, sieht aus wie eine Maske. Das Weibchen eines Webervogels, so schlicht wie ein Sperling, weshalb Herr Gründling nicht sagen konnte, welche Art es genau ist. Zwei Silberschnäbelchen, auch ziemlich unauffällig. Rücken hellbraun, Bauch fast weiß, langer schwarzer Schwanz. Ein Goldbrüstchenhahn. Goldgelber Bauch, tiefroter Schnabel, feiner roter Streifen über den Augen. Rücken grüngrau. Fünf bunte Zebrafinken. Die Hennen sind viel unauffälliger gezeichnet als die Hähne, aber alle haben einen leuchtendroten Schnabel und Zebrastreifen am Schwanz. Ich lasse sie in Ruhe, damit sie sich an die neue Umgebung gewöhnen können.
Als ich später nach den Vögeln schaue, liegen ein Grauastrild und zwei Zebrafinken am Boden und rühren sich nicht mehr, die Bandfinkenhenne sitzt mit weit aufgesperrtem Schnabel und gesträubtem Gefieder daneben und ein anderer Zebrafink putzt sich dauernd den Schnabel an der Sitzstange ab, wie wenn er sich von irgendetwas befreien müssen. Oje! Ich hole die drei Vögel heraus, aber sie sind schlaff und leblos. Bestimmt kommt das von meiner Zuckerlösung, die hat ihnen den Schnabel verklebt, und jetzt kriegen sie keine Luft mehr. Ich hole auch den halbtoten Bandfinken heraus und halte seinen Schnabel unter den Wasserhahn, aber es scheint zu spät zu sein, denn seine Augen schließen sich immer wieder, und dann ist er auch tot. Und als ich zu den Vögeln zurückkomme, sitzt der eine, die sich eben noch an der Stange den Schnabel abgeputzt hat, auch schon wackelig auf dem Boden, und mein Rettungsversuch unter fließendem Wasser kommt zu spät. Von wegen Vogelgott. Ich sehe die Schlagzeile in der „Neuß-Grevenbroicher“ schon vor mir: UNTERTERTIANER VERGIFTET WERTVOLLE ZIERVÖGEL – VATER ERFOLGREICHER WESTERNAUTOR. Ich kann von Glück sagen, dass es niemand gemerkt hat.
Die Vögel, die überlebt haben, lasse ich einmal in der Woche zusammen mit Pürie im Zimmer fliegen, damit sie ein bisschen Bewegung bekommen. Das geht aber nur abends, wenn es draußen dunkel ist, denn von alleine spazieren sie nicht in den Käfig zurück. Um sie einzufangen, muss ich das Licht ausschalten, mich im Licht einer Taschenlampe an sie herantasten und schnell in den Würgegriff nehmen. Alle lassen das ruhig mit sich machen, nur der Webervogel versucht sich mit aller Kraft zu befreien und hackt mir mit seinem kräftigen spitzen Schnabel in die Hand. Die schlanken Silberschnäbelchen muss ich mit dem Käscher einfangen, weil sie nicht auf dem Käfig landen, sondern sich mit ihren bläulichen Füßchen oben an die Vorhänge klammern wie an eine besonders dicke Liane. Der Bandfinkenhahn krallt sich mit Vorliebe an die Bilder aus dem Weißen Album, die ich über meinem Bett aufgehängt habe, und bleibt da hängen, bis ich ihn wegscheuche. Einmal hat er sogar auf das Bild gekackt, und als ich es hinterher saubergemacht habe, war ein bisschen von der Farbe weggeätzt. Zum Glück war es nur Ringo.