Eine Woche vor Ostern habe ich mich endlich durchgerungen, einen Großteil meiner Ersparnisse für eine Gitarre zu opfern. Ich will Beatmusiker werden. Der Tod meines Lieblingsrennfahrers auf dem Hockenheimring beweist, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Die „Düsseldofer Nachrichten“ bringen die Nachricht heute groß auf Seite 1. Der Rest der Seite gehört der Politik.
WELTMEISTER JIM CLARK TOT – RENNEN GING WEITER
UNERWARTET HOHE ZAHL AN NEIN-STIMMEN – „DDR“-VERFASSUNG GEBILLIGT
ATTENTÄTER NOCH IMMER AUF FREIEM FUSS – TAUSENDE ERWEISEN TOTEM NEGERFÜHRER IN ATLANTA DIE LETZTE EHRE
Bei Radio Kistler in Neuß ist im Schaufenster eine kleine Gitarre für siebzig Mark ausgestellt. Im Geschäft hängen hinten an der Wand noch sehr viele große Gitarren, aber sie kosten alle zwischen hundertfünfzig und fünfhundert Mark, und einige sind sogar noch teurer. Der Verkäufer weiß nicht, dass ich auf der Post nur hundert Mark von meinem Sparbuch abgehoben habe, und meint, ich soll auch an eine Tasche denken, falls ich mit der Gitarre mal in den Regen komme, und für eine Kunstledertasche muss ich noch einmal mit zehn bis zwanzig Mark rechnen. Ich sage ihm, dass ich an der Gitarre im Schaufenster interessiert bin, die für siebzig Mark. Der Verkäufer sagt, dass er dafür keine passende Tasche hat, aber er steigt trotzdem ins Schaufenster und holt sie heraus. Vorne und hinten ist sie ganz flach, und schön glänzen tut sie auch nicht, aber sonst sieht sie eigentlich genau aus wie die großen Gitarren, und sechs Saiten aus Metall hat sie auch. Der Verkäufer stimmt sie und sagt, dass es sich um ein deutsches Markenfabrikat handelt. Dann drückt er sie mir in die Hand, damit ich sie ausprobiere.
Ich streiche mit dem Daumen über die Saiten und sage, dass sie sich ganz gut anhört. Der Verkäufer sagt, dass er eine Idee hat und verschwindet hinten im Geschäft. Als er zurückkommt, hält er eine schwarz-rot-grün karierte Hülle am Plastikgriff in der Hand und sagt, es ist eine Banjo-Tasche, die kann er mir für fünfzehn Mark lassen, und sie ist sogar gefüttert. Wegen dem Schottenkaro sieht sie ein bisschen aus wie ein Anorak, aber als der Verkäufer die Gitarre reinschiebt, passt sie wirklich genau hinein, bloß oben schlackert sie, weil der Hals zu lang ist. Der Verkäufer meint, oben soll ich die Hülle einfach mit Zeitungspapier ausstopfen, dann passt sie wunderbar. Ich sage, ich nehme die Gitarre und die Tasche, bezahle fünfundachtzig Mark und kriege noch eine kleine Metallröhre geschenkt. Der Verkäufer sagt, es ist eine Stimmpfeife auf A, mit der ich meine Gitarre stimmen kann.
Die Gitarrenschule von Drafi Deutscher, die mir helfen soll, Spielen zu lernen, war vor drei Jahren eine kleine Serie in „Lupo modern“. Es ist ein Kurs für Anfänger wie mich, und das erste Lied, das man von ihm lernt und auch gleich ausprobieren kann, ist sein Hit „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Drafis Gitarrenkurs ist idiotensicher, und das Beste daran ist, dass man völlig ohne Noten auskommt. Als erstes zeigt er, wie die Saiten heißen und wie man sie stimmen muss. Damit man es nie wieder vergisst, gibt es einen Merksatz: Ein Alter Dackel Geht Heute Ein.
Als nächstes lernt man Akkorde, die sich mit drei Fingern bewältigen lassen. Die Abbildungen zeigen einem ganz genau, was man zu tun hat: Man muss mit den Fingern der linken Hand die Saiten an bestimmten Stellen fest drücken. Nicht gut ist, dass einem dabei die Fingerkuppen von den Stahlsaiten regelrecht zerfleischt werden. Und dann muss man nur noch mit der rechten Hand an den Saiten entlang streichen. Aber wenn man mit dem Zeigefinger zu kräftig die Saiten anschlägt, scheuert man sich die Haut über dem Fingernagel ab, und das tut auch saumäßig weh. Doch für meine Karriere als Beatsänger bin ich bereit, Opfer zu bringen.
Es gibt noch mehr Akkorde, aber die sind schwierig zu greifen, weil man zusätzlich den kleinen Finger braucht, in dem ich überhaupt keine Kraft habe, und für F muss ich sogar meinen Zeigefinger komplett über das Griffbrett legen, von unten den Daumen dagegen pressen und dann auch noch Mittel-, Ring- und kleinen Finger auf drei Saiten platzieren. Das grenzt an Akrobatik. Ich weiche lieber auf Drafis vereinfachtes F aus, wofür man mit dem Zeigefinger nur die zwei letzten Saiten abdecken muss und den kleinen Finger schonen kann. Allerdings darf man dann auch nur die vier Saiten anschlagen, auf denen sich Finger befinden, und auf gar keinen Fall die leere E-Saite, denn sie erzeugt einen Misston. Gern würde ich ganz auf F verzichten, aber wenn ein Lied in C beginnt, kann man davon ausgehen, dass irgendwann das verflixte F kommt. So ist es zum Beispiel bei „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Also heißt es, auch F zu lernen.
Tag für Tag übe ich Gitarre. Sobald ich aus der Schule komme, sage ich zu Pürie Ab morgen wird gearbeitet, setze mich aufs Bett und probiere Akkorde und Akkordwechsel so lange, bis mir die Finger wehtun. Allmählich bildet sich an den drei mittleren Fingern schon Hornhaut. Ich will es schaffen, dass ich Lieder spielen kann, ohne wegen der Wechsel ins Stocken zu geraten. Immer wieder greife ich die Akkorde, bis ich sie blind aufs Griffbrett setzen kann, und dann kombiniere ich sie miteinander, bis ich auch die Übergänge fließend hinbekomme.
Dann probiere ich aus, welche Lieder ich mit Drafis achtzehn Akkorden spielen kann. Was nicht hundertprozentig passt, wird passend gemacht. Es sind sehr viele: Volkslieder, sogar Weihnachtslieder, deutsche Schlager, englische Schlager.
Leider klingen die Beat-Songs in meiner Wiedergabe sehr dünn. Es liegt daran, dass mir die Begleitband fehlt, Bass und Schlagzeug und Sologitarre und Hintergrundgesang. Das wäre so, wie wenn John Lennon ganz alleine „Help“ singen und spielen müsste. Bei „When I Was Young“ ist noch eine Geige dabei, und bei „Nights in White Satin“ ein ganzes Orchester. Wenn ich „Blowin’ in the Wind“ oder „Colours“ spiele, klingt es schon eher wie das Original, und ich kann mir einbilden, Bob Dylan oder Donovan zu sein.
Donovan macht es weiterhin nichts aus, alleine auf der Bühne zu stehen, aber selbst Bob Dylan hat sich inzwischen eine Begleitband angeschafft. Wahrscheinlich macht es ihm so mehr Spaß. Ich möchte auch gern bei einer Beatgruppe spielen, am liebsten bei einer wie den Monkees: Vier Freunde, die sich aus Jux als Fremdenlegionäre verkleiden oder altmodische Badeanzüge anziehen und sich dann im Bett oder in der Badewanne durch die Straßen schieben lassen, damit die Leute blöd gucken. Wenn sie nicht gerade Quatsch machen, erleben sie ein Abenteuer nach dem andern, und zwischendurch nehmen sie ständig neue Stücke auf. Man muss auch keine Angst haben, dass man sich verspielt oder den Text vergisst, weil man Partner hat, die einem aus der Patsche helfen können. Man kann sogar zusammen Dutzende Hits schreiben, wie Lennon/McCartney oder Jagger/Richards.
Wenn Paul netter zu mir wäre und ein Instrument spielen könnte, würden wir vielleicht zusammen eine Band gründen, wie die Brüder Davies oder die Brüder Winwood. Aber Paul kann bloß singen, und das auch nicht richtig, obwohl er sogar schon mit Dobi, Waldemar Riedel und Heinzi Hoffmann bei einem Konzert der Arbeiterwohlfahrt in der Müggenburg-Scheune aufgetreten ist. Aber als sie als Zugabe „The House of the Rising Sun“ spielen wollten, hat Paul zweimal den Einsatz verpasst und ist danach einfach von der Bühne geflüchtet. Das hat mir Dobi erzählt. Es war der erste und letzte Auftritt der Cryin’ Moonfaces, danach hatten alle die Nase voll.
Endlich ist auch Papas zweiter Roman erschienen. Ursprünglich hieß er „Jim Hog“, nach dem Titelhelden. Weil er meinte, dass der Verlag sich wieder einen Titel ausdenken könnte, in dem Kansas vorkommt, hat er Jim in Kansas City geboren sein lassen. Aber statt wie befürchtet „Ein Halbblut aus Kansas“ oder so, heißt der Roman schlicht „Der letzte Kampf“. Dass es den Titel schon bei G. F. Unger gibt, spielt anscheinend keine Rolle. Auch das Pseudonym Ward Bros, das der Zauberkreis-Verlag Papa verpasst hat, gibt es schon, und das ist wahrscheinlich Absicht. Die Leute sollen denken: Ah, ein neuer Roman von Ward Bros, der ist sicher auch wieder gut, den kaufe ich mir. Sie können natürlich auch denken: Oh Gott, Ward Bros, der hat mir gar nicht gefallen, der neue Roman wird auch wieder schöner Mist sein, den kaufe ich auf keinen Fall, und das wäre dann Pech.
Außer dem Titel hat der Verlag nichts geändert, und auf dem Umschlag ist ein schönes Bild aus einem Kinofilm mit Jeff Chandler in der Uniform eines Sergeants der US-Armee, das genau zum Inhalt passt, denn Jim Hog ist Offizier bei der Kavallerie. Weil seine Mutter eine Cheyenne-Indianerin war, wird er manchmal angepöbelt. Der Anfang, als sich Jim in Fort Leavenworth zum Armeeeintritt meldet und gleich vom Sergeanten schikaniert wird, hat ein bisschen was von „08/15“.
„Name?“ bellt der diensthabende Sergeant am Tor von Fort Leavenworth.
„Hog“, sagt der Angerufene, „Jim Hog.“
„Alter?!“ bellt Sergeant Ed Mauk weiter, und sein Bellen ist scharf und kantig, dass dem Posten, der einige Schritte entfernt vor dem Tor steht, die Schultern frieren.
„Neunzehn“, erwidert Jim Hog höflich.
„Neunzehn?“ faucht Mauk. „Was, zum Teufel, neunzehn? Neunzehn Jahre, neunzehn Monate oder gar neunzehn Tag alt, du Säugling von einem Rekruten? Kannst du deine Zähne nicht auseinander kriegen, wenn dich ein Vorgesetzter anspricht? – Steh gefälligst still, du Lümmel! Du schäbiger Zivilist! Und dann noch eins, du ungehobelter Satteltramp: Ich werde mit ‚Sir’ angeredet!“
Aber so schnell lässt sich ein Jim Hog nicht unterkriegen. Als halber Indianer wird er oft mit Friedensmissionen beauftragt. Zum Beispiel darf er den Sioux-Häuptling Crazy Horse in die Gefangenschaft nach Fort Robinson eskortieren. Leider kann er nicht verhindern, dass der Sieger der Schlacht am Little Bighorn, als er sich gegen das Anlegen von Handschellen wehrt, in der Gefängniszelle von Soldaten, die unter dem Kommando des unfähigen und sadistischen Oberstleutnants Dewis stehen, erschossen wird.cMeine Lieblingsstelle ist, als Jim und Dewis sich in einem letzten Gefecht Mann gegen Mann gegenüberstehen.
„Du hältst mich nicht auf, du roter Hund“, schreit Dewis heiser vor Wut. „Da! Nimm diese Kugel und stirb!“
Er drückt ab.
Dewis ist ein guter Schütze, doch seine Erregung ist zu groß, er schießt vorbei. Nach seinem Schuss fliegt auf ihn ein Feuerblitz zu – und ein harter Schlag in seine Brust wirft ihn um. Crazy Horse ist gerächt!
Jim nimmt dem toten Dewis den Degen ab und bricht ihn mit einem einzigen Druck entzwei.
„Du warst ein Lump“, sagt er leise, „kein Offizier!“ Und er wirft beide Stücke auf den Leichnam.
Papa ist mit seinem Roman sehr zufrieden. Außerdem besteht die Hoffnung, dass der Zauberkreis-Verlag auch seine anderen Manuskripte ankauft, die er ihnen schon vor längerer Zeit geschickt hat.
Wenn ich Papa eine Note für seinen Roman geben müsste, wäre es nur eine Zwei minus. Für meinen Geschmack hat er diesmal zu viel hineingepackt. Wettschießen, Pokerspiele, Blizzard, Indianerüberfall, Kriegsgericht, Entscheidungsschlacht... Alles folgt so schnell aufeinander.
Auf den Werbeseiten werden echte amerikanische Blue Jeans angeboten, Schreibmaschinen, massive Golduhren und Spezialbrillen für nur 9,95 DM, die den Fernseher groß wie eine Kinoleinwand erscheinen lassen. Dass auch für unanständige Sachen wie das Buch „Sex-Spiel. Hingabe und Ekstase“ (335 Seiten Erfahrungsberichte, Versand nur gegen Altersangabe) Werbung gemacht wird, gefällt Mama gar nicht. Auf der vorletzten Seite, als Jim seiner Frau erklärt, dass sie jetzt nach Hause reiten, steht sogar mitten im Text, zwischen zwei Absätzen:
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