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Wir kriegen Zeugnisse. Diesmal hat Paul die Versetzung geschafft und kommt nach den Ferien in die Untersekunda. Zur Abwechslung bin diesmal ich sitzengeblieben. Ein schreckliches Gefühl. Jetzt weiß ich, wie sich Uwe Seeler nach dem verlorenen Finale gegen England gefühlt haben muss. Papa und Mama sind schwer enttäuscht. Immer galt ich als der kleine Professor, der es besser machen wird als Paul, und jetzt bringe ich ihnen ein Zeugnis mit Fünfen in Latein und Mathematik. Ein bisschen kann ich sie mit der Nachricht beruhigen, dass ich zur Nachprüfung zugelassen bin.


Zum Glück ist Papa in Feierstimmung, weil er heute vom Kelter-Verlag in Hamburg den Vertrag für seinen Wildwestroman zugeschickt bekommen hat. Sie werden ihn aber nicht unter dem Pseudonym Pat Urban herausbringen, Papa muss sich Adam Cooper nennen. Adam wahrscheinlich wie Adam Cartwright und Cooper wahrscheinlich wie Gary Cooper. „Cycil gibt nicht auf“ nehmen sie nicht, weil das Gutachten schlecht ausgefallen ist. Angeblich hat Papa ein paar Fehler gemacht und Sachen erwähnt, die erst später erfunden wurden, zum Beispiel der Stetson-Hut. Papa ärgert sich, weil es darauf doch gar nicht ankommt. Der Lektor soll ihm erst einmal beweisen, dass er selbst Romane schreiben kann. „Postreiter“ haben sie auch zurückgeschickt. Erst war er ihnen zu kurz, jetzt ist er ihnen zu unübersichtlich. Papa will ihn noch einmal überarbeiten. Und er hat schon wieder einen neuen Einfall. „Tödlicher Atem“ soll der Roman heißen. Er handelt von einem Cowboy, der im Suff Streit sucht und dann sofort zur Waffe greift. Zum Glück hat er einen Partner, der ihn immer wieder raushaut und die Sache bereinigt. Bis er eines Tages selbst in die Lage kommt, das Ziel zu sein. Da schießt er schneller, so leid es ihm tut.


Ich wüsste gern, woher Papa seine Phantasie hat. Wenn man ihn fragt, sagt er bloß, dass er das alles vor sich sieht, er muss es nur aufschreiben. Und dass es ihm mehr und mehr zur Last wird, die Uniform eines Postboten zu tragen, denn er hat sich ein tägliches Pensum von 5 Seiten als Ziel gesetzt. Meistens schafft er das auch. Auf seiner Tour ist er mittlerweile so eingefahren, dass er in aller Regel um eins zurück ist und dann den ganzen Nachmittag zum Schreiben zur Verfügung hat. Deshalb hat er sich jetzt auch den Spitznamen „Der gelbe Blitz von Derikum“ verpasst.


Spätabends kommt der erste Teil von „08/15“ im Fernsehen, mit Joachim Fuchsberger und Mario Adorf, aber ich darf ihn nicht sehen, obwohl Schulferien sind und die „HörZu“ dafür große Reklame macht. Papa meint, ich soll lieber das Buch lesen, das viel besser ist als die Filme.


Das Buch ist noch dicker als „Das Jahrhundert der Detektive“. Im 1. Teil geht es um die Ausbildung der Soldaten in der Kaserne. Die Schikanen der Vorgesetzten sind oft grausam, Schwache und Ungeschickte müssen viel leiden. Sie werden von Spieß Schulz und Wachtmeister Platzek als Armleuchter und Wurzelsau beschimpft und geschleift, bis ihnen das Wasser im Arsch kocht. So steht es im Buch. Beim nächsten Streit mit Paul werde ich ihn mit diesen Schimpfwörtern in Schach halten.


Meine Lieblingsfiguren im Roman sind der Gefreite Asch und sein Freund, der Kanonier Vierbein. Vierbein ist schwächlich, aber musikalisch, genau wie ich. Die Zeit in der Kaserne übersteht er nur, weil Asch ihn beschützt. Er wird sogar Unteroffizier. Leider kommt er auf sinnlose Weise ums Leben, weil der Kompaniechef Hauptmann Witterer zu ehrgeizig ist. Gleichzeitig ist er auch feige. Als Vierbeins Stellung beschossen wird, türmt er mit der Zugmaschine. Asch verfolgt ihn und bedroht ihn mit der Pistole.


„’raus!“ sagte er zu Witterer, „’raus mit dir!“

Der war bleich geworden und begann zu zittern. Asch packte ihn mit der freien Hand vor der Brust, hob ihn hoch und stieß ihn aus der Zugmaschine. Witterer knallte auf den Erdboden und blieb dort liegen.

„Sofort zurück!“ sagte Asch zum Kraftfahrer.

Aber als er in der Feuerstellung ankam, war der Unteroffizier Vierbein gefallen.


Ich finde, sich für andere einzusetzen und für sie zu kämpfen, ist das Größte, besonders, wenn man dafür selber leiden muss wie Jesus. Wer dabei sein Leben verliert, stirbt als Held, wie die Geschwister Scholl oder die Brüder Kennedy, genau wie vor ihnen Abraham Lincoln, der die Südstaaten besiegt und die Neger befreit hat. Robert Kennedy wäre beinahe Präsident von Amerika geworden, wie sein Bruder, aber wie sein Bruder wurde er bei einem Attentat erschossen. Das FBI konnte es beide Male nicht verhindern. Bei John F. konnten sie nichts machen, weil der Schuss aus dem Hinterhalt abgefeuert wurde, aber bei Bobby haben seine Leibwächter versagt. Um sein Leben zu schützen, hätte sich einer in den Schuss werfen müssen, wie es Winnetou für Old Shatterhand und Daniel für Pat getan hat, obwohl Pat nur ein Halbblut war. Dann würde John F. jetzt noch leben. Wenn ich beim FBI wäre, hätte ich es jedenfalls getan. Ob ich auch ein Organ oder ein Körperteil für die Kennedys gespendet hätte, wenn sie darauf angewiesen gewesen wären, weiß ich nicht. Wenn ich dadurch ihr Leben hätte retten können, würde ich es wahrscheinlich getan haben. Zumindest einen Arm. Das sind neuerdings meine Gedanken vor dem Einschlafen.


Auf dem Feld hinter unserem Block hat Bauer Meese das Getreide geerntet. Bevor es umgepflügt wird, ziehe ich mit einigen Nachbarkindern über das Stoppelfeld und grabe mit einer Schaufel nach Mäusen, die ich mit nach Hause bringen will. Ich muss gar nicht lange graben, schon habe ich ein Nest ausgehoben. Sechs nackte und blinde Mäusebabys liegen darin. Diesen Bau schütte ich schnell wieder zu. Beim nächsten Bau lege ich ein Nest frei, das von einem Mäuserich bewacht wird, der sich drohend auf die Hinterbeine stellt. Als ich nach ihm greife, beißt er mir in den Finger und hängt fest, bis ich ihn abschüttle. Die Wunde blutet kaum, aber nach drei Tagen wird mein Finger dort, wo der Mäuserich mich gebissen hat, dick und es bilden sich Bläschen. Mama meint, die Wunde hat sich entzündet, und dagegen hilft ein Bad mit Kamille.


Der Finger wird nicht besser, und durch die Kamille wird er auch noch gelb. Nach weiteren drei Tagen fährt Mama mit mir nach Neuß zur Klinik von Dr. Greifensteiner. Ich erzähle dem Arzt, was passiert ist, und schon kriege ich eine Spritze gegen Tollwut in den Oberarm. Dann sagt der Arzt, er muss die Wunde ausschneiden, aber ich werde davon nichts merken, weil ich vorher eine lokale Betäubung bekomme. Angst habe ich keine, weil wir ja nicht im Wilden Westen sind, wo solche Wunden unterwegs mit einem glühenden Eisen ausgebrannt wurden und die Patienten statt einer Betäubung einen dreifachen Whisky bekamen. Wenn es soweit war, bissen sie fest die Zähne zusammen, und damit sie dabei nicht ihr Gebiss beschädigten, klemmten sie sich ein Stück Holz zwischen die Zähne, und damit sie sich wegen der unmenschlichen Schmerzen nicht aufbäumten, hielten ihre Kumpel sie die ganze Zeit über eisern fest.


Nach der Operation bekomme ich einen Gipsverband, nicht nur um den Finger, sondern um die ganze Hand. Meine Klassenkameraden und auch die Lehrer denken, ich hätte mir die Hand gebrochen, und alle staunen und schütteln den Kopf, wenn ich sage, dass mich eine Maus gebissen hat. Dass ich die Maus fangen wollte, sage ich nicht, weil sie mich dann für bekloppt halten.

Nach einer Woche kommt der Gips wieder ab. Eine dicke Narbe bleibt als Andenken zurück. Eine noch größere habe ich am rechten Knie, weil ich mit drei Jahren in Freudenstadt mit dem Roller in den Kotflügel von einem geparkten Auto gestürzt bin. Mit neun habe ich mir am Treppengeländer in Speyer die Haut am rechten Handgelenk aufgerissen. Es hat zwar kaum geblutet, aber ist eine sehr lange Narbe zurückgeblieben. Es sieht aus, als hätte ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Der Mäusebiss ist meine dritte Trophäe.


In Latein bringt Heinrich-der-Wagen-bricht einen Referendar namens Metzinger mit. Erst darf er sich bloß in die letzte Reihe setzen und zuhören, dann muss er selbst unterrichten, und Heinrich hört zu. Metzinger ist viel netter als Heinrich und kein bisschen streng. Sein Gesicht verrät starken Bartwuchs, seine Augen huschen unruhig hin und her, und er hat eine komische Aussprache. Der Satz: Soeder, dekliniere pauper, klingt bei ihm so: Södä, dekliniere paupä. Er muss nur den Mund aufmachen, und schon beömmeln wir uns, aber Heinrich passt auf, dass wir es nicht zu bunt treiben. Heinrich ist aufmerksam und streng, egal ob er vorne steht oder hinten sitzt und nur zuhört. Wenn er einen Übeltäter erspäht, schleicht er sich an ihn heran, packt ihn an den Schläfenhaaren, dort, wo es besonders wehtut, zieht ihn zu sich hoch und murmelt dabei gedehnt: Du dummer Junge, du…


Dann kommt der Tag, als Heinrich-der-Wagen-bricht wegbleibt. Es ist der Mittwoch, an dem wir eine Doppelstunde Latein haben. Metzinger in seinem braunen Anzug macht seinen Unterricht wie immer, und wir machen heimlich ein bisschen Quatsch, auch wie immer. Metzinger lässt es meistens durchgehen, weil er schüchtern ist oder sogar Angst vor uns hat, denn wir sind vierunddreißig Mann und er ist ganz allein.


In der kleinen Pause, als Metzinger rausgegangen ist, fährt Achim Mehwald die elektrischen Rollos runter. Das fällt kaum auf, weil hier im Keller sowieso die meiste Zeit das Licht brennt. Mit Neumann, der rechts außen sitzt, hat er ausgemacht, dass er das Licht ausknipst, sobald Metzinger uns den Rücken zudreht. Alles Weitere wird sich dann schon ergeben.


Es klingelt, die Pause ist vorbei. Metzinger kommt herein und geht sofort an die Tafel. Fast im selben Moment tritt vollkommene Verfinsterung ein. Die halbe Klasse grölt und jauchzt vor Vergnügen. Schon fliegen die ersten Gegenstände nach vorn. Irgendwann knipst Petzold das Licht wieder an, weil ihm Metzinger leidtut; dann müssen auch die Rollos wieder hochgefahren werden. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten für Streiche. Zum Beispiel ist Lärm unter der Bank schwer zu orten. Oder Summen mit geschlossenem Mund. Nach kurzer Zeit gibt Metzinger auf. Ich gehe zu Dr. Brych! schreit er. Bleich und erschöpft schleicht er zur Tür und ist weg.


Augenblicklich erstirbt jedes Geräusch. Die Drohung mit dem Direx macht uns allen Angst, denn Dr. Brych braucht einen nur anzusehen, und schon macht man sich vor Angst fast in die Hosen. Wenn er dann auch noch losbrüllt, möchte man nur noch im Boden versinken. Einmal hat er einen Sextaner, der auf dem Schulhof Schneebälle gegen die Scheiben vom unteren Foyer geworfen hat, gepackt, übers Knie gelegt und ihm tüchtig den Hintern versohlt. Es spielt keine Rolle, dass er ein eher kleiner Mann ist. Er trägt eine schwarze Hornbrille und macht fast immer ein böses Gesicht. Dotzeck meint, er hat glühende Augen, und das könnte stimmen. Wahrscheinlich sendet er eine Art Hypnosestrahlen aus, mit lähmender Wirkung, wie Dr. Mabuse. Wenn er doch einmal lächelt, dann höchstens über eine Dummheit. Was nun?


Mehwald kommt auf die Idee, Metzinger hinterher zu schleichen. Erleichtert kehrt er nach kurzer Zeit zurück: Metzinger ist nur die Treppe hochgegangen, steht oben um die Ecke und heult.


Zwei Wochen später meldet sich Herr Lieberknecht krank, und wir kriegen Benseler in Englisch als Vertretung. Er beginnt sofort mit seinem Unterricht und stellt Fragen. Mich sticht der Hafer. Ich mache den üblichen Aufzeige-Scherz und melde mich, obwohl ich gar nichts zu sagen habe. Benseler nimmt mich sogar dran, aber statt der erwünschten Antwort frage ich scheinheilig, ob wir vielleicht ein Fenster öffnen dürfen. Von meiner Unfugslaune mitgerissen, pflichtet mir Olli lauthals bei: Ja, hier mieft es nämlich so!, ruft er Richtung Lehrerpult, wobei er wieder mit dem Auge plinkert, was man unter Umständen missverstehen kann. Der nicht ganz stubenreine Ausdruck erregt bei vielen von uns Heiterkeit, und grienend sonnt sich Olli im Gefühl allgemeiner Zustimmung,


Mit Benseler geschieht in diesem Moment etwas Merkwürdiges. Er scheint ganz zu vergessen, wo er sich befindet. So, murmelte er vor sich hin, während er sich hastig durch die Bankreihen einen Weg zu Olli bahnt, So, hier mieft es also. Und dann beugt er sich auch schon über ihn und schlägt mit beiden Händen zu. Hier mieft es also!


Olli hält schützend die Hände vors Gesicht, Benseler schlägt weiter, mit links und mit rechts. Blut läuft Olli aus der Nase, wird von Benselers Händen aufgenommen, verteilt sich von da über Ollis Gesicht. Totenstille ringsum. Keiner von uns wagt zu atmen, über allen schwebt die inbrünstige Bitte, dass Benseler sich mit diesem einen Opfer zufrieden geben möge. Aber schon hat er seine Fassung zurückgewonnen; schweratmend setzt er sich wieder ans Pult.


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