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Papa hat seine vier Romane vom Zauberkreis-Verlag wieder zurückbekommen, aber nicht, weil sie schlecht sind, sondern bloß, weil er sie nicht richtig getippt hat. Wenn der Verlag sie annehmen soll, müssen sie exakt zwischen 130 und 140 Schreibmaschinenseiten lang sein, und jede Seite muss sauber und ordentlich aussehen. Deshalb will Papa sein Manuskript jetzt von einer Sekretärin abschreiben lassen, die wird schon alles richtig machen. ZAUBERKREIS-ROMANE ZAUBERN ZIELBEWUSST ZERSTREUUNG!


Seit neuestem ist er Mitglied der Nebraska State Historical Society. Alle Bücher, die die Gesellschaft herausbringt, alte wie neue, kriegt er dann zum Mitgliederpreis, und allein dafür lohnt sich der Jahresbeitrag. Außerdem bekommt er jedes Jahr den „Historical Newsletter“ und viermal im Jahr das Mitteilungsblatt mit interessanten Nachrichten. Einen Bildband über Nebraska für $3,95 hat er sofort bestellt und noch zwei ältere Bücher zum Schleuderpreis von je $2,95. Nächstes Jahr soll ein Buch über die Planwagenroute entlang des Platte River über Fort Kearny nach Fort Laramie erscheinen, 582 Seiten für $7,95. Papa sagt, das ist die Masche. Bestimmt müssen Paul und ich ihm dann das eine oder andere übersetzen und werden uns dabei tüchtig blamieren.


Und noch bevor ich in Englisch möglicherweise auf einen grünen Zweig komme, kriegen wir eine zweite Fremdsprache beschert, und zwar Latein. Weil Paul trotz Nachhilfe bei Herrn Hagemann daran gescheitert ist, habe ich bei der Abstimmung vor den Sommerferien für Französisch gestimmt, aber die meisten wollten Latein, und jetzt haben wir den Salat und müssen so tun, als wären wir alte Römer, die sich darüber unterhalten, dass die Auerochsen den Elefanten an Größe nur wenig nachstehen oder die Helvetier die übrigen Gallier an Tapferkeit übertreffen.


Unser Lehrer heißt Heinrich. Heinrich, der Wagen bricht, raunt Manni mir zu. In der Schulzeitung stand, dass er früher auch in der Ostzone gewohnt hat. Er trägt immer einen Anzug mit Weste und Krawatte, im Sommer grau oder dunkelblau, im Winter braun. Meistens lutscht er auf einem Hustenbonbon herum, und wenn er spricht, schiebt er es in die Backe. Zu Pitti sagt er Bruno, weil er findet, dass Pitti so aussieht, als ob er Bruno heißt. Bruno nimmt es mit einem gequälten Lächeln hin, weil seine Versetzung auch ohne Latein schon gefährdet genug ist.


Zu Beginn jeder Stunde pickt sich Heinrich-der-Wagen-bricht einen von uns heraus und fragt ihn Vokabeln ab. Damit ihm keiner vorsagen kann, muss er nach vorne ans Lehrerpult kommen, wo er ihm völlig ausgeliefert ist. Entweder man kann die Vokabeln, oder man kann sie nicht. Heute ist Robert Fervers, genannt Ferkel, dran.


Equidem?


Allerdings.


Suus?


Ihr, sein.


Servus?


Sklave.


Servus grüßt alle Arschlöcher, murmelt Vieten hinter mir.


Nicht mehr?


Ferkels wachsbleiches Gesicht wird noch eine Spur blasser. Dann schnippt er nervös mit den Fingern.


Äh – nemo nescit.


Falsch. Was heißt nemo nescit?


Wieder Fingerschnippen, dann: Waddemal.


Wir lachen, weil Ferkel Bedenkzeit braucht und Herrn Heinrich aus Versehen geduzt hat, und das liegt daran, dass er zuhause immer von seiner großen Schwester abgefragt wird.


Äh – jeder weiß.


So. Und was heißt Nicht mehr?


Wieder Fingerschnippen, wieder Waddemal.


Wir lachen wieder, und sogar Heinrich-der-Wagen-bricht lächelt. Ferkel kommt nicht drauf, trotz Bedenkzeit. Aber weil er weiß, was frustra, non debere, neque/neque und sentire heißt, kommt er mit einer Drei davon. Vieten behauptet, wenn ihn Heinrich zur Schnecke macht, stellt er ihn sich in Unterhosen vor; das hilft.


Im Fernsehen läuft abends eine neue Serie. Sie heißt „Spionage“ und handelt von der Arbeit der Geheimdienste. Es werden Filme gezeigt, die auf Tatsachen beruhen, und zwischendurch befragt der Moderator einen ehemaligen deutschen Geheimdienstmann, von dem man aber nur seinen Schatten sieht, weil er unerkannt bleiben will. Sicher kennt er zu viele Geheimnisse und muss geschützt werden, damit keiner unserer Agenten auffliegt. In anderen Ländern gibt es sogar weibliche Agenten. Sie machen sich an wichtige Männer heran und spionieren sie in aller Seelenruhe aus, weil die Männer dann blind vor Liebe sind. In der ersten Folge war zu sehen, wie eine Agentin mit einem wichtigen Mann ins Schlafzimmer gegangen ist und dort ihren Büstenhalter ausgezogen hat, um ihn besser ausspionieren zu können. Also werden sie jetzt hochzeitfeiern, und das bedeutet, dass die Agentin neun Monate später ein Kind bekommt.


Für mich stellen sich viele Fragen. Wenn es kein Wunschkind ist, wird sich der ausspionierte wichtige Mann trotzdem darüber freuen? Oder wird er das Kind zur Adoption freigeben?

Wird der ausspionierte wichtige Mann die Agentin heiraten? Und was ist, wenn er schon verheiratet ist? Wenn die Agentin weiter für den Geheimdienst arbeitet, kümmert sich dann der Geheimdienst um dieses Kind? Gibt es vielleicht sogar eigene Kindergärten und Schulen für die Agentenkinder?


Alle diese Fragen stelle ich Mama, aber weil sie die Sendung nicht gesehen hat, kann sie mir keine zufriedenstellenden Antworten geben. Sie sagt nur, dass die beiden ja vielleicht gar nicht hochzeitgefeiert, sondern nur rumgeschäkert haben, und den Büstenhalter hat die Agentin vielleicht nur ausgezogen, weil ihr so heiß war. Außerdem, sagt sie, wird im Fernsehen sowieso immer alles übertrieben.


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