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- Jan-Christoph Hauschild
- 5. Mai
- 3 Min. Lesezeit
In das dornige Schweigen, das dieser Feststellung folgt, fällt der dunkle Viertelstundenschlag von Mariä Heimsuchung. Bonnnn. Auftaktgong zur Endrunde, denkt Adenauer. Ihm ist bewusst, dass er die Geduld seiner Zuhörer nicht bis aufs Äußerste strapazieren darf. Wieder nimmt er die fünf vor ihm Sitzenden fest ins Visier.
„Meine Herren! Ich habe vorhin gesagt, dass wir die Bundestagswahl im nächsten Jahr nicht unter allen Umständen gewinnen müssen. Ich hätte auch sagen können, dass wir die Bundestagswahl sehr wahrscheinlich verlieren werden. (Unruhe.) Meine Herren! Dadurch, dass man die Wahrheit nicht erkennen will, schafft man die Realität nicht aus der Welt. (Starke Unruhe.) Also, das Wahlergebnis steht mehr oder weniger fest, und wir tun gut daran, über den Horizont des Jahres 1969 hinaus zu blicken. Erler ist tot, Wehner ist krank. Wenn Wehner auch wegfällt, wird die SPD immer mehr nach links abrutschen. Der linke Flügel wird zur Macht kommen. Eine Regierung Brandt wird mit der SED, der Zone und der Sowjetunion zusammengehen.“
„Das müssen wir verhindern“, ruft Bitterling empört. „Das wäre der Untergang.“
Giebel rutscht schon eine ganze Weile unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Mir ist bekannt“, platzt es jetzt aus ihm heraus, „dass Brandt sich im Januar 1968 in Rom mit dem Chef der italienischen Kommunisten, Herrn Longo, getroffen hat, um über die Möglichkeit einer Anerkennung der DDR zu sprechen. Fast zwei Stunde saßen die beiden Herren zusammen.“
„Sie verfügen offenbar über geheime Erkenntnisquellen, Herr Giebel“, erwidert Adenauer und lächelt ironisch. Unzählige winzige Falten kerben sein Gesicht. „Nur zwei Stunden? Ein bisschen kurz für so ein ernstes Thema. Mindestens zwei Tage wären zu erwarten gewesen.“
Von Schley hat sich eine neue Zigarette angesteckt. Wie er so dasitzt und aus seinem Mund stoßartig ein trübes Wölkchen nach dem andern entlässt, erinnert er Adenauer an einen überreifen Bovist, dem man beim Waldspaziergang versehentlich auf den Fruchtkörper tritt.
Forell bittet per Handzeichen ums Wort und ergreift es dann doch, ohne eigens dazu aufgefordert worden zu sein. „Wir sollten überlegen“, verkündet er feierlich, „was zur Aufklärung der Menschen über Brandt geschehen kann.“
„Sein gesamter Werde- und Entwicklungsgang muss von den Diensten untersucht werden“, schlägt Groppe vor und streicht sich mit seiner schön geformten, langfingrigen Hand übers Haar. „Vielleicht gibt es da etwas Belastendes aus seiner Zeit im Ausland. Von den bekannten Frauengeschichten ganz zu schweigen.“
Adenauer stützt beide Hände auf und späht nach weiteren Wortmeldungen in die kuchengesättigte, heimlich koffeinbetrogene Runde. Um ihn herum zu seiner Genugtuung nur erschöpfte Mienen.
„Über Brandt wird noch manches gesagt werden müssen“, erklärt er ruhig. „Aber damit wollen wir uns hier die Zeit nicht töten.“ Wieder hat er das Fuchsgesicht aufgesetzt. „Politik ist ein Haus mit vielen Türen. Wenn manche davon mit Brettern vernagelt sind, steigt man eben durchs Fenster ein. Man muss nur aufpassen, dass man auf den Füßen landet.“
Die ermatteten Gäste schweigen. Keiner von ihnen hat mit einem solchen Auftritt gerechnet. Das rheinische Räderwerk aus endloser Erfahrung und politischer Phantasie ist also doch noch nicht zum Stillstand gekommen. Das ist der Alte, wie er leibt und lebt, die personifizierte Schlauheit und Verschlagenheit.
„Ich hatte kürzlich“, fährt Adenauer fort, „ein sehr gutes Gespräch mit einem hiesigen Professor der Politikwissenschaft. Professor Zander, Paul Zander. Ein jüngerer, aber ziemlich erfahrener Mann. Jedenfalls nicht unerfahren. Er hat mir folgendes klargemacht: Die Kunst ist nicht, den politischen Gegner auf dem schnellsten Weg auszuschalten. Das geht meistens schief. Beispielsweise, weil man die Stärke des andern unterschätzt oder seine eigene überschätzt. Es ist weitaus klüger, ihm Gelegenheit zu geben, sich selbst zu schwächen. Also langfristig denken. Was heißt das für uns? Brandt erst einmal machen lassen. Ihn an der langen Leine herumziehen lassen, bis er sich völlig verausgabt hat. Denken Sie dabei an einen Angler, der einen Fisch an der Leine hat. Was ist das Dümmste, das er tun kann? Versuchen, den Fisch mit einem Ruck aus dem Wasser zu ziehen. Das geht zu 90 Prozent schief. Entweder kommt der Fisch dabei los, oder die Schnur reißt oder sonst etwas. Nein, man muss dem Fisch scheinbar den Willen lassen, bis er sich ganz mattgekämpft hat. Bis er ruiniert ist. Wenn man das erst einmal begriffen hat, kommt es einem ganz selbstverständlich vor. Und das habe ich nicht von Machiavelli, sondern von einem jungen Politikwissenschaftler hier in Rhöndorf.“
Erneut blickt er prüfend in die Runde. „Meine Freunde“, sagt er mit kraftvoller Stimme, „die Zeit ist kurz und rinnt rasend schnell dahin, und es muss gearbeitet werden aus ganzer Kraft, damit unsere Partei die erste Partei in der Bundesrepublik bleibt.“ Er breitet die Arme aus. „Ihre Mission, meine Herren, ist es, mit ganzer Kraft diese Aufgabe in die Hand zu nehmen und mit Gottes Hilfe zu erfüllen. Ich fühle mich nicht nur befugt, das zu verlangen, sondern sogar bevollmächtigt.“
In diesem Moment scheint die Sonne ins Zimmer und legt einen Strahlenkranz um Adenauers Uraltkanzlerkopf.
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