In Derikum haben sich die Brüder Nissen ein neues Spiel ausgedacht. Sie stellen alle ihre Spielzeugindianer in einer Sandkuhle auf, und dann darf man mit ihren Wurfpfeilen darauf werfen, und was man trifft, darf man behalten. Jeder Wurf kostet fünf Pfennige. Eigentlich wollten sie zehn haben, aber Yogi Waschkies und ich konnten sie runterhandeln. Es ist das erste Mal, dass ich mit Wurfpfeilen werfe. Sie gefallen mir gut, weil sie schön schwer sind und vorne gefährlich spitz. Einer ist mir mal runtergefallen und in meinem Knöchel stecken geblieben. Es hat aber nicht wehgetan. Ich hätte auch gern Wurfpfeile, aber Mama erlaubt es nicht. Deshalb sage ich zu Mama, ich muss mir Flickzeug für mein Fahrrad kaufen und fahre am Nachmittag nach Neuß.
Bei Quelle gibt es keine Wurfpfeile, aber wenigstens Flickzeug. Danach versuche ich es im Kaufhaus Horten, das früher, zu Papas Zeit, Merkur hieß. In der Sportabteilung gibt es eine große Auswahl an Wurfpfeilen, billige mit Plastikschaft und Plastikflügeln aus einem Stück und teure mit echten Federn. Ich würde mir gerne wenigstens einen billigen kaufen, aber Mama wird es trotzdem nicht erlauben, weil man sich damit ins Auge werfen kann.
Noch ein anderer Junge stöbert in der Sportabteilung herum, mit hochgezogenen Schultern, als sei er vor irgendwas auf der Hut. Ich kenne ihn, es ist Hans-Dieter Glombek, in Derikum war er eine Klasse unter mir. Vielleicht hat er Angst, Pelzer und Rosendahl könnten sich wie seinerzeit von hinten an ihn ranschleichen und ihm aus Jux kräftig in den Hintern treten. Auf dem Schulhof, wo es immer hoch herging, Freundschaften geschlossen und Intrigen angezettelt wurden, war er meistens das Opfer. Aber anstatt sich in eine ruhige Ecke zu verziehen, suchte er immer wieder die Gesellschaft der andern, als wenn er darauf aus gewesen wäre, einen Tritt abzubekommen. Nicht mal die Mädchen wollten ihn bei ihren Spielen dabeihaben. Eine schrie ihm ins Gesicht: Hau ab, Glombek, deine Eltern sind geschieden! Bestimmt dachte sie, es sei eine ansteckende Krankheit.
Hallo, sagt er.
Hallo, sage ich.
Wonach suchst du?
Ich überlege, ob ich mir einen Wurfpfeil kaufe.
Einen was?
Hier, so einen Wurfpfeil.
Ach so, die Spicker.
Wir gucken uns die verschiedenen Sorten an, streichen über die Federn, befühlen die Spitzen.
Und, kaufst du dir welche?
Sind mir zu teuer.
Hättest du denn gern welche?
Eigentlich schon.
Welche denn?
Die da. Ich zeige ihm ein Päckchen mit drei teuren Pfeilen für DM 7,50.
Aber die sind mir zu teuer.
Dann nimm sie doch einfach und geh, sagt Glombek und fährt sich mit der Zunge über die Lippen.
Du meinst – klauen?
Ja. Einfach nehmen und gehen. Er reckt den Kopf nach oben und schaut sich um. Im Moment guckt auch gerade keiner, flüstert er verschwörerisch. Also, ich würd es machen an deiner Stelle.
Meinst du?
Na klar.
Ich weiß nicht.
Komm, mach schon.
Ich tue, was Glombek sagt, und wir gehen zur Rolltreppe; die Packung mit den Wurfpfeilen habe ich in der Hand. Als wir eine Etage tiefer angekommen sind, legt mir ein Mann von hinten die Hand auf die Schulter.
Wohin wollt ihr beide denn?
Glombek wartet gar nicht erst ab, was ich antworte, sondern geht sofort stiften. Ich kann nicht weg, weil mich der Mann festhält. Bestimmt ist er der Kaufhausdetektiv und ich bin verhaftet.
Ich will, stottere ich aufgeregt, hier an der Kasse bezahlen, oben ist niemand.
Das ist ja eine tolle Geschichte, sagt der Mann. Du kommst jetzt mal schön mit.
Wir gehen durch eine Tür in der Wand eine Treppe tiefer in einen Raum, wo ich mich gegenüber von einem anderen Mann an den Schreibtisch setzen muss. Der Detektiv sagt, dass er mich mit dieser Packung Dartpfeile in der Sportabteilung erwischt hat und dass wir zu zweit unterwegs waren, aber der andere ist ihm entwischt.
Ich würde gern sagen, dass ich unschuldig bin, wie die zu Unrecht Verdächtigten in der Spionageserie, aber der Detektiv hat das Beweismaterial in der Hand, und schon bin ich mitten im Verhör. Der andere Mann fragt mich, ob ich das schon einmal gemacht habe, und ich sage Nein und fange an zu heulen. Der Mann sagt, ich soll aufhören und alles aus meiner Hose und aus meiner Jacke rausholen und auf den Tisch legen, damit er sehen kann, ob ich noch mehr habe mitgehen lassen. Ich kann nicht aufhören zu heulen, aber ich zeige trotzdem mein Portemonnaie und meinen Schlüsselbund und das Fahrradflickzeug.
Na Freundchen, sagte der andere Mann und öffnet die Dose mit dem Flickzeug und schüttet den Inhalt auf seine Hand, du bist wohl heute auf Diebstahltour.
Nein, schluchze ich, das Flickzeug hab ich bei Quelle gekauft, aber der Mann glaubt mir nicht. Ich fange wieder an zu heulen, fingere nach der Quittung in meinem Portemonnaie und zeige sie ihm. Er schaut sie sich genau an, und dann sagt er, Na gut.
Der Detektiv geht wieder, weil er weiter die Kunden beobachten muss. Der andere Mann sagt, ich bin bei einem Diebstahl erwischt worden, das ist eine strafbare Handlung, und eigentlich muss er die Polizei rufen, und sofort muss ich wieder heulen.
Jetzt hör schon auf. Wie alt bist du?
Zwölf.
Hör mal, ich werde ausnahmsweise nicht die Polizei rufen.
Danke, presse ich mit erstickter Stimme heraus.
Aber ich werde deinen Eltern einen Brief schreiben, damit sie sich eine Strafe für dich überlegen können. Wie heißt du?
Wenn Papa und Mama durch einen Brief von Kaufhaus Horten von meinem Diebstahl erfahren, kann ich einpacken. Und Paul lacht sich ins Fäustchen und hat wieder Oberwasser, weil Mopedfahren ohne Zulassung das geringere Verbrechen ist und er dann besser dasteht als ich, obwohl ich überhaupt keine kriminellen Anlagen habe. Ich bin bloß zum Diebstahl überredet worden. Ich verdiene mildernde Umstände, und deshalb verrate ich dem Mann hinter dem Schreibtisch nicht meinen richtigen Namen, sondern verstecke mich hinter einem Pseudonym, einem Namen, der zu mir passt, so wie Helmond Rigby zu Papas Westernromanen. In Speyer hatten Paul und ich uns, für den Fall, dass wir mal auf frischer Tat ertappt würden, Andreas Schlüter und Justus Liebig als Falschnamen ausgedacht. Aber Speyer ist nicht Derikum.
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und sage Ralf Rückert. (Ralf wie Ralf-Peter Vieten und Rückert wie Gaby Rückert.)
Und der andere, der weggelaufen ist, wie heißt der?
Ich will auch nicht, dass die geschiedenen Eltern von Hans-Dieter Glombek einen Brief kriegen, weil er mich dann vielleicht verpetzt, und deshalb sage ich Mein Bruder.
Und wie heißt dein Bruder?
Gerhard Rückert.
Und wo wohnt ihr?
Ich erfinde eine Adresse in Derikum, die vielleicht die Adresse von Heidi Frambach ist, aber das ist mir egal, ich bin einfach nur froh, dass mir alle diese Namen eingefallen sind und dass der Mann mir alles glaubt und sich nicht die Schülerfahrkarte in meinem Portemonnaie angeschaut hat, die ich mit meinem richtigen Namen unterschrieben habe.
So, sagt der Mann, das hätten wir. Aber ich bin noch nicht ganz fertig. Deine Eltern kriegen den Brief, und du kriegst auch etwas, nämlich Hausverbot. Weißt du, was das bedeutet?
Dass ich hier nicht mehr herkommen darf.
Richtig. Du darfst das Kaufhaus Horten nicht mehr betreten. Sonst beschäftigt sich doch noch die Polizei mit dir. Ist das klar?
Ja.
So, jetzt kannst du gehen.
Er bringt mich zur Tür und zeigt mir einen Ausgang. Es ist ein Nebenausgang, von dem aus man sofort auf die Oberstraße kommt. Die Kaufhauskunden gehen hier nicht raus. Bestimmt ist es der Ausgang für die ertappten Kaufhausdiebe, und ich hoffe sehr, dass mich niemand sieht, den ich kenne.
Wie ein geprügelter Hund schleiche ich zum Busbahnhof. Zum Glück ist es schon ein bisschen dunkel. Ich bekomme sogar noch den vorgesehenen Bus um halb sieben. Er ist ziemlich voll, und ich kriege nur einen Stehplatz. Auch Glombek ist drin. Er scheint auf mich gewartet zu haben. Wahrscheinlich will er wissen, ob ich ihn verpetzt habe.
Wie wars?
Im Flüsterton schildere ich ihm das ganze Verhör, einschließlich des falschen Namens und der falschen Adresse. Glombek ist ziemlich beeindruckt. Dass ich geheult habe, sage ich Glombek nicht.
Im Nachhinein bin ich selbst ziemlich beeindruckt von mir. Irgendwie fühle ich mich sogar wie ein Held, denn ich habe ein Abenteuer bestanden. Ich war in Gefahr und habe mich selbst daraus gerettet, weil ich die Nerven behalten habe. Ich habe zwar ein schlechtes Gewissen, denn ich habe gestohlen und gelogen, aber bis auf das bisschen Heulen war ich sehr tapfer. Ich hoffe nur, dass Mama so schnell nicht auf die Idee kommt, mit mir bei Horten einkaufen zu gehen, denn wenn mich der Detektiv wiedererkennt, bin ich geliefert.
Irgendwann werde ich ihr wahrscheinlich von meinem Missgeschick erzählen, aber jetzt noch nicht. Hoffentlich macht sie dann kein Theater, sondern reagiert wie Dr. Christoph Vollmer. Dr. Vollmer wurde mal in der „Bravo“ von einem Jungen um Rat gefragt, weil seine Freundin angeblich durch einen Unfall ihre Unschuld verloren hat und er nicht weiß, ob er ihr das glauben soll. Dr. Vollmer hat geantwortet, dass es wahrscheinlich eine Notlüge ist, und wenn der Junge das Mädchen wirklich gern hat, soll er darüber hinwegsehen und besonders lieb und nett zu ihr sein. Falls ich Mama eines Tages beichten muss, dass ich bei Horten meine Unschuld verloren und jetzt Hausverbot habe, werde ich auch behaupten, es sei durch einen Unfall passiert. Zum Beispiel könnte das Regal mit den Wurfpfeilen zusammengebrochen und die Packung durch die Luft geflogen und von mir aufgefangen worden sein. Es wäre schön, wenn Mama dann auch über meine Notlüge hinwegsieht und besonders lieb und nett zu mir ist.