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Vorsichtiges zustimmendes Nicken von allen Seiten. Groppes Lungen dürsten nach Nikotin. Mit aufgestützten Ellenbogen wickelt er ein Zigarillo aus knisterndem Zellophan. Er weiß, dass er schöne Hände hat, langfingrig und fein geformt, und stellt sie daher gern zur Schau. Sein Mund formt sich zu einer Höhle und empfängt die Rauchware, die er stilvoll mit einem goldenen Feuerzeug in Brand setzt. Für Adenauer weisen die fest zusammengepressten Lippen Ähnlichkeit mit Picassos Rosette auf.

 

„Die jungen Menschen wachsen heute in einer Welt auf, die sich ständig verändert, die rastlos und ruhelos ist. Und dadurch findet auch ihr eigenes Leben in ständiger Unruhe und ständiger Rastlosigkeit statt. Wir müssen aufpassen, dass sie trotzdem noch über gesunde Vorstellungen und Ideale verfügen. Es darf sich nicht alles nur ums Geldverdienen drehen. Sonst bringt sie die Gier schneller an den Haken, als sie denken. Schnappen beseligt nach dem Köder und sind im nächsten Moment schon die Beute eines noch Gierigeren.“

 

Die bildhafte Sprache, mit der Adenauer seine ethischen Grundsätze plausibel zu machen sucht, verwirrt seine Zuhörer aufs Neue; bei dem einen oder andern lösen die Metaphern sogar Schwindelgefühle aus. Zwar ist es keineswegs unmöglich, seinen Ausführungen zu folgen, doch scheint er damit eine tiefere Bedeutung zu verbinden, die außerhalb ihres Verständnisses liegt.

 

„Und nun können sie sich fragen“, spinnt Adenauer den Gedanken unbeirrt weiter, „warum erzähle ich ihnen das? Weil es natürlich auch in unserer Partei einander widerstrebende Interessen gibt. Das ist wegen der Verschiedenartigkeit der einzelnen Gruppen, die bei uns sind, unvermeidlich. Aber diese einander widerstrebenden materiellen Interessen müssen vereinigt werden durch eine gemeinsame ethische Grundlage. Und diese Grundlage muss bleiben die christliche Überzeugung. Die Wirtschaft kann nicht diese ethische Grundlage ersetzen. Wenn wir diese Grundlage verlassen und einfach eine Wirtschaftspartei werden, dann sage ich ihnen, bricht unsere Partei auseinander.“

 

 „Also daher weht der Wind“, raunt Forell, ohne den Kopf zu bewegen, seinem Nachbarn Giebel zu, was dieser mit einem mürrischen Grinsen quittiert. Der Alte, so kommt es ihm vor, scheint nicht mehr von dieser Welt. Eine Art Geistwesen, das auf seiner irdischen Existenz beharrt. Ein Streichholz auf der Suche nach einer Reibefläche. Ein abgebranntes Streichholz.

 

„Materialismus oder Christentum?“, tönt es mahnend aus Adenauers Mund. „Wem fällt die Welt von morgen zu?“

 

Salmen gähnt hinter vorgehaltener Hand. Salvelinus macht erneut Anstalten, zu antworten, wird aber von einer Handbewegung des Redners gestoppt.

 

„Die Frage“, stellt Adenauer klar, „war rhetorisch. Es wird keinen Frieden, keine Ruhe, keine Freude geben, wenn wir nicht zurückfinden zu den ewigen, unvergänglichen Gütern, auf denen allein das Glück der Menschen aufgerichtet werden kann. Das Recht des Individuums. Die Würde des Menschen. Die Idee der Gerechtigkeit. Der Sinn für das Maß. Und das sage ich nicht als der Privatmann Adenauer, sondern als einer der beiden Parteivorsitzenden.“

 

„Wer sagt das?“ flüstert der schwerhörige Esch in Richtung Döbel, seinem Nachbarn zur Rechten, doch der versteckt sein Gesicht hinter der zum Mund geführten Kaffeetasse.

 

Adenauer entgeht nicht, dass sich Unbehaglichkeit unter seinen Gästen breit macht. In beachtlicher Einmütigkeit warten sie darauf, dass er zügig zum Ende kommt. Statt beeindruckt zu sein von dem Eifer, den er an den Tag legt, scheinen sie seine Prinzipientreue mit Altersstarrsinn zu verwechseln. Seine Kampfbereitschaft gilt ihnen offenbar als sicheres Merkmal einer Verfallserscheinung. Sicher lauern sie insgeheim auf Anzeichen greisenhafter Unzurechnungsfähigkeit.

 

„Ich sehe Zweifel in einigen Gesichtern“, sagt er deshalb versöhnlich. „Zweifel an sich ist ja nichts Schlechtes. Wer behauptet, keinen Zweifel zu kennen, der tut so, als wüsste er alles. Und das ist schlichtweg nicht menschenmöglich, wenigstens meinem Dafürhalten nach.“

 

Esch, der dreimal das Wort Zweifel verstanden hat, nickt weise. Erschreckend, wie sehr er gealtert ist. Wangen und Stirn sind mit braunen Flecken und Knoten gesprenkelt, die Brauen zu struppigen Büscheln verformt. Ständig hält er seine ausgemergelten Hände dicht vor das Gesicht und massiert seine arthritischen Fingerknöchel.

 

„Sofern sich ihr Zweifel jedoch bezieht auf meine Person, ist das eine ganz andere Sache. Deshalb, wenn sie sich jetzt fragen, ist er es wirklich, dann sage ich ihnen: Jawohl, ihr Parteivorsitzender, das bin ich. Sie können meinetwegen sagen, der Herr Kiesinger ist der richtige Vorsitzende; Sie, Herr Adenauer, sind bloß die graue Eminenz. Das können Sie halten wie Sie wollen. Sitz und Stimme im Vorstand haben wir beide, mit dem kleinen Unterschied, dass ich eine Stufe höher gestiegen bin auf dem Parteitag im März vorletzten Jahres, auf dem mich die Union gewählt hat zu ihrem Ehrenvorsitzenden. Daraus leite ich mein Mandat ab und die Pflicht, meine Meinung zu sagen in allem, was unsere Partei betrifft.“

 

Salmen und v. Schley reagieren mit nervösem Kichern, was Adenauer nicht zu bemerken scheint. Ein paar Hände heben sich, die zaghaft Protest anmelden wollen. Schmerl, selbst ohne diesbezügliche Ambitionen, macht sich zu ihrem Sprecher: „Herr Bundeskanzler, gestatten Sie Fragen?“

 

„Nur zu“, antwortet Adenauer leichthin.

 
 
 

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