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Salvelinus, der seine geschmeidige Fülle in einen Leinenanzug gehüllt hat, der in auffälligem Kontrast zu seinem feisten und faltenlosen Gesicht steht, hebt die Hand für eine Wortmeldung. Er ist irritiert. Was meint der Alte? Dass sich die Partei zu wenig um die mittleren Jahrgänge zwischen dreißig und fünfzig, um die weiblichen Wähler und um die Jungwähler gekümmert hat?

 

Adenauer, das Gesicht freundlich, aber undurchdringlich, überlässt ihm gnädiger Weise das Wort, woraufhin Salvelinus den Kopf dankend auf und ab bewegt. Ganz nach Pferdemanier, befindet Adenauer.

 

„Gewiss ist die Reform unserer Partei noch bei weitem nicht abgeschlossen“, räumt Salvelinus bereitwillig ein. „Auf gar keinen Fall. Ihre innere Verfassung, ihre Institutionen haben sie noch lange nicht wetterfest gemacht gegen Stürme und Belastungen, welche die Zukunft bringt, mit Sicherheit bringt. Immerhin haben wir mit über 47 Prozent bei den letzten Bundestagswahlen einen glänzenden Erfolg errungen. In rein bäuerlich-ländlichen Kreisen betrug unser Stimmenanteil sogar etwa 57 Prozent.“

 

„Unsere Partei hat bis dahin auch noch nie einen Wahlkampf geführt, der politisch, organisatorisch und technisch besser vorbereitet, gründlicher durchdacht, unbeirrbarer ausgeführt worden ist“, versucht Forell, ein kleiner Mann Anfang Fünfzig mit Hang zur Korpulenz, den seine Krawatte zu strangulieren scheint, Salvelinus zu übertrumpfen. Die einstmals scharfen Kanten in seinem Gesicht sind abgemildert, seit er kräftig an Gewicht zugelegt hat.

 

Adenauer spürt, dass sich in den Köpfen seiner elf Gegenüber die Meinung gebildet hat, das Thema sei bereits ausgiebig in den zuständigen Gremien erörtert worden. Wieder einmal verschließen die Uneinsichtigen ihre Augen vor dem Unheil, das noch abwendbar ist. „Sicher haben wir die letzte Wahl gut gemacht und auch gesiegt“, erwidert er unter zustimmendem Nicken. „Aber die Sozialdemokratie ist stärker in die Höhe gekommen. Sie hat mehr Prozente zugenommen an Stimmen wie wir. Und es ist eine weitere Tatsache, dass der Rückgang auf dem Lande sehr beträchtlich gewesen ist, und zwar namentlich in den katholischen Gegenden. Warum sind die Leute von uns weggegangen?“

 

Salvelinus spannt den Mund an, um zu antworten, erhebt sich sogar halb, aber Adenauer kommt ihm zuvor. „Außerdem, meine Freunde“, treibt er den Keil seiner Argumente tiefer zwischen sich und seine Gäste, „haben wir in fast allen großen Städten die Mehrheit verloren. In den reinen Großstadtwahlkreisen konnten wir keine vierzig Prozent mehr erreichen.“

 

Eine Feststellung, die allgemein mit schuldbewusstem Kopfnicken quittiert wird. „Es lag“, fügt Adenauer hinzu, „– nicht nur, aber auch – an unseren Wahlplakaten. Die Plakate waren alle schlecht. Sämtlich ungereimt. Da war nichts, was haften bleiben konnte.“

 

Salvelinus lässt sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Er erinnert sich eines Vorschlags, den der Alte im kleinen Kreis, nach einer Vorstandssitzung, bei der es um den Wahlkampf ging, gemacht hatte: Deutschlands Wunsch an Willy Brandt: Reich dem Ulbricht nicht die Hand! Die meisten hatten gelacht, weil sie es für einen Witz ihres Ehrenvorsitzenden hielten. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Die Erinnerung löst einen Hustenreiz bei ihm aus, den er selbst mit Hilfe der fest an den Mund gepressten Serviette kaum zu dämpfen vermag.

 

„Ich teile die Ansicht des Bundeskanzlers“, lässt sich seitwärts Bitterling vernehmen. „Die Spanne zwischen 57 und 39 Prozent gibt Anlass für ernste Betrachtungen“.

 

Wie wenig Ähnlichkeit er noch mit dem gutaussehenden Minister aus Adenauers erstem Kabinett hat. Das einst ausdrucksstarke Gesicht ist verschrumpelt wie Dörrobst und ohne jedes Mienenspiel, die Wangen sind ebenso wie der faltige Hals nicht ganz sauber rasiert, und schwarze Haare quellen aus seinen Nasenlöchern. „Niemand kann in Abrede stellen, dass daraus Folgerungen für unsere Arbeit gezogen werden müssen.“

 

Adenauer lehnt sich zurück. „Die letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen… Das ist eine sehr ernste und schwierige Sache, diese Niederlage, die wir da bekommen haben. Die SPD hat bewiesen, dass sie auch siegen kann, wo es ihr bisher nicht möglich war. Sie hat den Durchbruch geschafft. In Bremen und Niedersachsen ist sie weiterhin stärkste Kraft, in Berlin hat sie wieder die absolute Mehrheit bekommen. Sehr wahrscheinlich wird sie nächstes Jahr den Bundespräsidenten stellen (Unruhe), und das ist dann ein sehr schlechtes Vorzeichen für die Bundestagswahl im September. Jeder kann sich an den Fingern abzählen, dass zu wenig Zeit bleibt, um auf ein günstiges Wahlergebnis hinzuarbeiten. Meine Herren! Das ist jetzt sehr überlegt, was ich sage: Wir müssen die Bundestagswahl im Jahre 1969 nicht unter allen Umständen gewinnen. (Starke Unruhe.) In diesem Kreise darf ich sagen, dass ich überzeugt bin, dass unsere Partei auch als Oppositionspartei lebensfähig ist.“

 

Opposition! Augenblicklich frieren alle Mienen ein. Alle elf Gäste durchleben Sekunden schwindelnden Schreckens. Keiner von ihnen kann zwischen den Forderungen des Tages und Adenauers Ausführungen einen logischen Zusammenhang erkennen. Wahrscheinlich hat sein strapaziertes Gehirn es nicht mehr vermocht, sich von der letzten Erkrankung zu erholen. Am Ende triumphiert eben doch die Natur über den Geist. Schlimm nur, dass der Alte diesen peinlichen Moment kollektiver Betroffenheit sichtlich zu genießen scheint.

 

„Vorausgesetzt“, fügt Adenauer mit sorgenvoller Miene hinzu, „dass wir uns auf unsere geistigen Werte besinnen. Nur dann sind wir lebensfähig auch in der Opposition. In einer Welt, die Entwicklungen jeder Art – zum Guten und zum Schlechten – in rasendem Tempo bringt, brauchen die Menschen feste, unabdingbare Normen für ihr Leben.“

 
 
 

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