Im Englisch-Freiwilligenkurs müssen wir berichten, was wir zu Weihnachten geschenkt bekommen haben, damit Frau Ingenfeld alles auf der Tafel zusammentragen kann. Ich melde mich nicht, weil es für uns alle zu Weihnachten nur ein Gemeinschaftsgeschenk gab, und das war der Grundig-Fernseher. Frau Ingenfeld schreibt neben die Wörter die englische Übersetzung und übt mit uns die Aussprache. Dann müssen wir der Reihe nach auf Englisch sagen, was wir bekommen haben, und unser Satz muss immer mit At Christmas I got anfangen. Fernseher ist aber nicht unter den Wörtern, die an der Tafel stehen, und deshalb sage ich, als ich an der Reihe bin, At Christmas we got a Fernseh-Apparat, und Fernseh-Apparat spreche ich so aus, wie es vielleicht Chris Howland tun würde. Alle lachen, Frau Ingenfeld ruft Komm mal her, du drolliges Kerlchen, und nimmt mich auf ihren Schoß, aber es ist mir kein bisschen peinlich, weil Frau Ingenfeld eine schöne Frau ist mit dunklen Haaren, die sie hinten am Kopf kunstvoll zusammengesteckt hat. Sie trägt elegante Kleidung und dazu dicken Goldschmuck und riecht nach edlem Parfüm. Sie erklärt uns, dass Fernseh-Apparat TV set heißt und TV die Abkürzung für Television ist, und als sie es an die Tafel schreibt, darf ich mich wieder auf meinen Platz setzen.
Nach dem Unterricht gehen Peter Bender, Roland Waschkies und Hans-Peter Ganter aus der 7. Klasse zu ihr und wollen wissen, warum sich die Rolling Stones Rollende Steine genannt haben, aber das weiß Frau Ingenfeld auch nicht. Dann wollen sie wissen, was „Get Off of My Cloud“ heißt. Das heißt „Geh runter von meiner Wolke!“, sagt Frau Ingenfeld, und jetzt will Hans-Peter Ganter wissen, von was für einer Wolke, und Frau Ingenfeld sagt, da schwebt wohl einer auf Wolke Sieben und will seine Ruhe haben, und mit dieser Erklärung müssen sie sich zufrieden geben. Wenn sie schlau wären, würden sie einen Brief an Harry Fix schreiben und von ihm wahrscheinlich die Adresse von irgendeinem Rolling Stones-Fanclub in Mönchengladbach oder Wanne-Eickel kriegen und vielleicht sogar ein Gruppenfoto mit der Unterschrift von Mick Jagger. Bloß aufgedruckt natürlich.
Es ist Sonntagnachmittag, es klingelt an der Haustür, und als ich aufmache, steht da Hans-Jürgen Przybilla mit seinem Tornister auf dem Rücken, an dem eine Schnalle abgerissen ist. In der Schule nennen ihn alle nur Henne, weil seine Mutter nach seiner Geburt einen Herrn Henn geheiratet und mit ihm eine neue Familie gegründet hat. Er ist auch in der vierten Klasse, aber bei Mama. Wegen dem Tornister denke ich, er hat ein Problem mit seinen Hausaufgaben, aber tatsächlich ist er gekommen, um Heftchen zu tauschen. Irgendjemand muss ihm verraten haben, dass ich welche habe.
Ich tausche keine Heftchen, sage ich mit abweisender Miene. Aber so schnell gibt die Henne nicht auf.
Ich habe ganz viele Kunden in Derikum: Schmidt, Gerresheim, die Nissen, Hajo Pütz, Klemm, Hüter, Zimiak. Jeder hat was, das der andere noch nicht kennt. Da ist immer was dabei. Willst du mal gucken?
Ich führe ihn ins Kinderzimmer, und wir hocken uns auf den Fußboden, wo er einen Stapel zerlesener Heftchen aus dem Tornister zieht, das meiste „Sigurd“ und „Tibor“ und „Felix“.
Zeig doch mal deine.
Ich sage ihm, dass ich meine guten Heftchen nicht gegen seinen Schrott tausche, und damit er sieht, um was für Schätze es sich handelt, hole ich meine Lieblingshefte. Mit den weniger wertvollen fange ich an, meiner kleinen „Bessy“-Sammlung, ein paar „Felix“ und dem „Dennis“-Band. „Dennis“ hat die Henne noch nie gesehen. Dann zeige ich ihm das alte „Tarzan“-Heft von Paul. Die Henne verdreht die Augen.
Das ist besser als Tibor, oder?
Ja, viel besser.
Das ist das Vorbild!
Er fängt an zu lesen, aber ich nehme ihm das Heft weg.
Ich hab noch was Besseres.
Ich zeige ihm „Fix und Foxi“ mit allen dreizehn Folgen von „Durch die Wüste“, aber er sagt, „Winnetou“ hätte ihm besser gefallen. Bestimmt weiß er nicht, dass Sam Hawkens und Hadschi Halef Omar vom selben Schauspieler gespielt werden. Danach lege ich ihm zwei „Lupo modern“ vor, mit den letzten Folgen von „Kampf um Rom“. Die Henne weiß natürlich nicht, dass Lupo längst eine eigene Heftchenreihe hat. Er blättert ungläubig darin herum und bleibt nach wenigen Seiten bei „Lucky Luke“ hängen. Bevor er sich festliest, muss er meine beiden allerbesten Hefte sehen, „Mickyvision“ mit „Merlin und Mim“ und das brandneue Sonderheft „Die tollsten Geschichten von Donald Duck“, Folge 1, mit „Donald Duck und der goldene Helm“.
Na, was sagst du nun?
Eigentlich kann die Henne jetzt einpacken und wieder abdampfen. Stattdessen geht er in aller Ruhe meinen Heftchenstapel durch und zieht drei „Bessy“ heraus.
Ich tausche nicht, hab ich doch schon gesagt.
Warte.
Auf die „Bessy“ legt er den „Dennis“-Band, die beiden „Lupo modern“, „Merlin und Mim“ und das Donald Duck-Sonderheft, zählt nach und ergänzt die Auswahl um drei „Fix und Foxi“.
Pass auf, ich leihe mir von dir diese zehn Heftchen.
Elf. Es sind elf Heftchen.
Er legt ein „Fix und Foxi“ zurück, aber ich sage, das Heft kann er haben, dafür kriegt er den Donald Duck nicht.
Okay. Und dafür darfst du alle von mir behalten.
Er schiebt seinen Stapel zu mir herüber.
Damit man mal wieder was Neues zum Lesen hat.
Leihweise?
Kannst dich drauf verlassen.
Ich sage ihm, dass ich nicht alle seine Heftchen will, weil ich „Sigurd“ und „Tibor“ blöd finde. Ich wähle drei „Fix und Foxi“, zwei „Bessy“ und alle „Felix“, die er dabei hat, und den Rest darf er wieder einpacken, zusammen mit meinen zehn Edelsteinen.
Nächsten Sonntag komme ich wieder, sagt er, schwingt sich den Tornister auf den Rücken und lässt sich von mir zur Tür bringen.
Wie verabredet steht die Henne eine Woche später wieder vor der Tür. Wieder gehen wir ins Kinderzimmer, wieder zieht er seinen Heftstapel aus dem Tornister.
Ich lege ihm seine Hefte vor und er sagt, ich kann mir neue aussuchen.
Erstmal will ich meine Hefte zurückhaben.
Ach so.
Diesmal sind es mehr Hefte als vorher, wieder jede Menge „Sigurd“ und „Tibor“, ein paar „Fix und Foxi“, drei „Micky Maus“ und ein „Sheriff Klassiker“. Von meinen Heften hat er nur ein „Bessy“ und zwei „Fix und Foxi“ dabei.
Wo ist der Rest? Es fehlen sieben Hefte.
Sind die nicht dabei?
Ich gehe den Stapel noch einmal durch, zeige ihm jedes einzelne Heft und sage dazu jedes Mal: Schrott. Wo ist „Dennis“, hä? Wo ist „Merlin und Mim“, wo sind die beiden „Lupo modern“? Hä? Außerdem fehlen zwei „Bessy“ und ein „Fix und Foxi“. Wo sind die?
Die Henne zuckt die Achseln. Die müssen dann noch verliehen sein.
Wie – verliehen? Du hast meine Hefte weiter verliehen?
Ja, ich hab doch gesagt, ich hab einen Tauschring.
Hast du noch alle Tassen im Schrank? Ich springe auf und stampfe mit den Füßen. Du Blödhammel! Betrüger!
Die Henne läuft rot an und wühlt in den Heften, als ob er sie dort doch noch entdecken könnte, wodurch meine beiden „Bessy“ und das „Fix und Foxi“ wieder in seinen Stapel geraten. Ich sage ihm, dass er ein Idiot ist, ziehe meine Hefte heraus und bringe sie auf meinem Bett in Sicherheit.
Du gehst jetzt zu deinen Kunden, und holst meine Hefte zurück! Und zwar alle sieben! „Dennis“, „Merlin und Mim“, zwei „Lupo modern“, zwei „Bessy“ und ein „Fix und Foxi“!
Okay, sagt Henne und sammelt seine Hefte ein.
Willst du trotzdem was Neues tauschen – äh, leihen?
Tauschen? Tauschen? Ich will nicht tauschen, ich will meine Hefte zurück!
Die Henne verschwindet, und ich schlage vor Wut mit der Faust auf dem Bett herum, dass Pürie aufgeregt zu piepsen anfängt.
Vor dem Abendbrot erzähle ich Mama, dass Hans-Jürgen Przybilla aus ihrer Klasse sieben Hefte von mir einfach weitergetauscht und mir dafür sieben Schrotthefte gegeben hat, und als wir Viertklässler am nächsten Tag zusammen Singen bei Mama haben, muss die Henne aufstehen und kriegt von Mama ein paar saftige Ohrfeigen. Geschieht ihm ganz recht. Günter Gerresheim aus meiner Klasse hat von Mama auch schon Ohrfeigen bekommen, weil er die Unterschrift seiner Mutter gefälscht hat.