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Papa arbeitet nicht mehr als Koch im Kaufhaus Merkur, Papa arbeitet jetzt im Dom-Hotel in Köln. Er sagt, das ist ein vornehmes Haus und zeigt uns eine Speisekarte, auf der die Gerichte französische Namen haben: Crème St. Germain, Poulet de grain Stanley, Pommes Château, Chicorée braisée, Cassata napolitaine. Das Abendgedeck kostet 16,50 Mark, die Vorspeise ist Teufelsalat in Barquettes.


Wenn Papa abends nach Hause kommt, hat er immer eine Zeitung dabei, entweder „Bild“ oder „Express“ oder „Mittag“. Er hat sie dann schon ausgelesen, und ich darf alle Artikel und Bilder ausschneiden, die mich interessieren, über die Beatles und andere Beatgruppen oder über Rennfahrer. Manchmal bringt er auch Bücher mit, die er sich vom Amerika-Haus ausgeliehen hat. Eines handelt nur von Indianern, hat viele Bilder und ist auf Englisch. Er hatte gehofft, dass Paul ihm einige Stellen übersetzen kann, aber die meisten Wörter musste er dann doch selbst im Wörterbuch nachschlagen. Papa sagt, das sind notwendige Studien für seinen Western. Deshalb ist es auch praktisch, dass er nach vierzehn Tagen zum Kaufhaus Hertie am Neumarkt wechselt, um die Ecke vom Amerika-Haus. Da kann er nach Feierabend beinahe noch eine ganze Stunde in der Bibliothek arbeiten. Außerdem ist er das vornehme Getue im Dom-Hotel sowieso leid gewesen.


Wenn Paul mal zuhause ist, hockt er in seinem Zimmer und hört Musik, denn zum Geburtstag hat er einen Koffer-Plattenspieler mit Batterien geschenkt bekommen, den er mitnehmen kann, wenn er sich mit seinen Freunden trifft, und seine Tür ist abgeschlossen. Wenn ich mal etwas von ihm will, sagt er, Hau ab oder Halt die Schnauze. Außerdem ist er verliebt, und zwar in Marlene neben Lutter-Lebensmittel. Er traut sich aber nicht, sie zu küssen, weil sie Günnis Freundin ist. Günni hat jeden Tag Geld in der Hosentasche, mindestens fünf Mark, ab und zu sogar zwanzig Mark, immer in Münzen, und spendiert Paul oft eine kleine Cola oder gibt ihm die Hälfte von seiner Tafel Schokolade ab, und deshalb sind sie Freunde.


Ich bin auch verliebt, und zwar in Heidi Frambach. Mit ihr würde ich gern mal ein Abenteuer erleben, bei dem ich sie retten könnte. Vor dem Einschlafen stelle ich mir manchmal vor, sie ist entführt worden und gibt sich als Junge aus, weil der Entführer, der aussieht wie Curd Jürgens, sie sonst für zu schwach halten und gleich töten würde. Auf einem Spaziergang im Wald entdeckt mein treuer Collie Bessy das unterirdische Versteck, in dem sie gefangen gehalten wird. Es gelingt mir, sie zu befreien. Auch mir gegenüber tut sie so, als wäre sie ein Junge. Plötzlich steht Curd Jürgens mit gezogener Pistole vor uns. Auf mein Kommando springt ihm Bessy an die Kehle und macht ihn kampfunfähig, aber dabei löst sich ein Schuss, der Heidi an der Schulter verletzt, und daraufhin wird sie ohnmächtig. Weil ich kein Verbandszeug dabei habe, ziehe ich mein Hemd aus und reiße es mit den Zähnen in passende Streifen. Um ihr den Verband anlegen zu können, muss ich sie ein bisschen ausziehen, und dabei entdecke ich ihr Geheimnis. Im selben Moment schlägt sie die Augen auf und sagt kleinlaut: „Ja, ich bin ein Mädchen.“


Gaby Rückert ist adoptiert und ein bisschen dick und hat dunkle Haare nur bis über die Ohren, und ich bin auch gar nicht verliebt in sie, aber wir verabreden uns trotzdem für den Nachmittag, weil ihr Adoptivvater nebenbei einen Kiosk hat, mit unglaublich vielen Süßigkeiten in Gläsern und Dosen und Kartons. Ich sage ihrer Mutter Guten Tag und dann gehen wir in ihr Kinderzimmer und spielen Halma und Mühle und Mensch ärgere dich nicht und trinken dazu Limonade. Gaby rutscht schon eine ganze Weile auf dem Stuhl hin und her, und dann sagt sie: Ich muss Pipi. Willst du mitkommen? Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Wir machen vorsichtig die Tür auf und schauen, ob die Luft rein ist, und dann schleichen wir uns aufs Klo und schließen hinter uns ab. Ich bleibe an der Tür stehen und schaue zu, wie sich Gaby den Schlüpfer herunterzieht und sich mit ihrem dicken Hintern auf die Klobrille setzt, weil sie im Stehen nicht Pipi machen kann. Sie lässt es laufen und lächelt mich dabei an. Dann wischt sie sich im Sitzen den Po ab, steigt von der Brille und zieht den Schlüpfer wieder hoch, aber ich kann nur ihren Bauch sehen, und das ist nichts Besonderes. Sie fragt, ob ich nicht vielleicht auch Pipi machen muss, aber ich muss nicht. Bevor wir wieder zurück in ihr Zimmer gehen, schaut sie erst, ob ihre Mutter in der Nähe ist.


Zum Abschied geht Gaby mit mir ins Warenlager ihres Vaters und füllt mir eine Tüte mit Mäusespeck, Liebesperlen, Fruchtgummischnullern, Schaumerdbeeren und Lakritz, und obendrauf legt sie noch eine Traubenzuckerkette. Sich selbst bedient sie bei der Gelegenheit auch. Dann bringt sie mich zur Tür und küsst mich auf den Mund und sagt, ich soll bald mal wiederkommen.



Obwohl Paul nach dem „Ölprinz“ geschworen hat, dass er nie wieder in einen Film geht, der ab zwölf ist, und Papa es furchtbar fand, dass nach Eddi Arent und Chris Howland nun auch noch Heinz Erhardt in einem Karl-May-Film mitspielt, schauen wir uns in den Herbstferien alle zusammen in Neuß im Gloria-Palast „Winnetou III“ an, denn diesmal ist wieder Lex Barker dabei, der uns besser gefällt als Stewart Granger.


Nicht nur Pierre Brice hat eine Vorahnung, dass er diesmal sterben muss, auch wir wissen Bescheid, denn wir haben alle das Buch gelesen. Genau wie bei Karl May (und wie sich in Papas Roman Daniel Roy für Tornado Pat opfert) fängt er die Kugel, die für seinen Partner bestimmt ist, mit seiner Brust auf. Weil sie zu nah am Herzen ist, kann sie der Militärarzt nicht entfernen. Winnetou ist aber nicht traurig, weil das Volk der Apatschen trotzdem gerettet und damit seine Aufgabe erfüllt ist. Vor seinem Tod wird er mehrmals ohnmächtig, und das gibt Old Shatterhand Gelegenheit, sich an die schöne Zeit mit ihm zu erinnern, wofür Ausschnitte aus „Winnetou I“ gezeigt werden. Bevor Pierre Brice endgültig stirbt, sieht er Lex Barker an und sagt: Mein – Bruder! und Lex Barker sagt auch: Mein Bruder!, und dann wird die Winnetou-Erkennungsmelodie gespielt. Den Rest des Films kann ich nur durch einen Tränenschleier sehen, aber das ist auch nicht schlimm, weil Old Shatterhand nur noch Pierre Brice aufrichten und im Arm halten muss, damit er sich verabschieden kann: Winnetous Seele muss gehen – Winnetou ist bereit – Leb wohl!, und dazu läuten die Glocken. Dann sinkt er zusammen. Lex Barker muss sich die Tränen verbeißen, damit ihn die Apatschen nicht als Memme verachten, aber ich kann mich in Ruhe ausheulen, weil ich noch ein Kind bin und nächste Woche erst zehn werde.


Der Herbst ist vorbei und unser Feldsalat im Garten ist am Morgen mit Raureif überzogen. In unserem Haus ist es kalt, weil die Heizung nicht an ist. Die Reste von den Kohlen, die Herr Wiedenlübbert zurückgelassen hat, sind schon aufgebraucht, genau wie das Anmachholz. Sogar Tannenzweige und Tannenzapfen aus dem Garten haben wir schon im Ofen verbrannt, und jetzt haben wir gar nichts mehr zum Heizen. Papa hat sogar schon meine Mokassins verheizt, aber nur, weil er findet, dass ich es nicht nötig habe, abgelegte Schuhe vom Nachbarjungen in Speyer zu tragen. Dabei schäme ich mich kein bisschen dafür. Mama sagt, es lohnt sich nicht, Kohle zu kaufen, weil wir bald wieder umziehen, in eine Wohnung, die man ihr als Lehrerin versprochen hat, aber das Haus muss erst noch fertig gebaut werden. Ich bringe Mama meinen Baufix-Kasten, weil alle Teile darin aus Holz sind, sogar der Schraubenzieher. Ich schwöre Mama, dass es mir überhaupt nichts ausmacht, den Baukasten zu verfeuern, und sie ist auch fast schon bereit dazu, aber dann sagt sie, dass wir das lieber doch nicht machen, weil sonst Papa schimpft.


Kurz vor Weihnachten ist endlich unsere neue Wohnung fertig und wir ziehen nach Derikum, ganz in die Nähe von Mamas und meiner Schule. Hier stehen neugebaute flache Häuser, eins neben dem andern in langen Reihen, jedes für eine Familie. Die Väter arbeiten alle bei VAW, der neuen Aluminiumfabrik in Stüttgen. Bei uns in der Moselstraße gibt es außerdem sechs Hochhäuser mit Mietwohnungen, wo die Väter nicht alle bei VAW arbeiten, zum Beispiel wir. Unsere Wohnung hat ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein Kinderzimmer und einen Balkon, von dem man weit über die Felder in Richtung Allerheiligen und Nievenheim gucken kann. Paul sagt, er pfeift auf den Balkon, weil er mit fast sechzehn Anspruch auf ein eigenes Zimmer hat, und stattdessen muss er ständig auf mich Rücksicht nehmen, auf die bescheuerten Poster über meinem Bett starren und auch noch das Getriller von Pürie ertragen, der ebenfalls seinen Platz im Kinderzimmer hat. Über das Essen mault er auch, weil es ständig Pellkartoffeln und Dosengemüse gibt und dazu entweder Klopse oder Schnitzel oder Kotelett. Bei seinem Freund Heinzi, verkündet er beim Mittagessen, gibt es jeden Montag Pommfritt. Au ja, sage ich. Können wir die auch mal essen?


Mama sagt, wir sollen still sein, weil Papa und sie uns etwas mitzuteilen haben. Es geht um Papas Arbeit, und wir erfahren, dass Papa zuletzt nicht bei Kaufhaus Hertie, sondern in der Kaufhalle in Köln gearbeitet hat und damit ist jetzt auch Schluss, ein für alle Mal, weil Papa die Gerüche und Geräusche in einer Küche nicht mehr ertragen kann, den fettigen Kohlgeruch, das Pfannenklappern, die Enge und Abgeschlossenheit, und alles im Neonlicht.


Das schlägt Papa aufs Gemüt, sagt Mama.


Ich möchte den Tag kommen und gehen sehen und die Geräusche der Straße hören, sagt Papa.


Und deshalb fängt Papa jetzt bei der Post an, erstmal als Briefträger, und später am Schalter. Wie findet ihr das?


Bei der Post?


Bei der Deutschen Bundespost.


Kriegen wir dann die Briefmarken umsonst?


Mensch, bist du ahnungslos. Du glaubst wohl auch noch an den Weihnachtsmann.


Aber Onkel Helmut darf umsonst mit dem Zug fahren, sogar 1. Klasse, und seine ganze Familie auch, weil er bei der Bahn ist.


Das ist was ganz anderes.


Gar nicht.


Ahnungsloser Blödmann!


Was man sagt, das ist man selber!


Jetzt haltet mal den Schnabel! schimpft Mama. Also, was meint ihr?


Papa als Postbote? Paul zuckt mit den Schultern. Von mir aus. Solange wir nicht wieder umziehen...


Mit ist es auch recht, erkläre ich. Falls mal jemand eine blöde Bemerkung macht: Was, dein Vater ist Briefträger, sage ich in aller Seelenruhe: Und übrigens, meine Mutter ist Lehrerin. Dann guckt er doof aus der Wäsche.

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