In Religion diktiert uns Fräulein Tirschmann einen Neujahrs-Glückwunsch: Das ist der Wunsch zum Neuen Jahr: Komm, liebster Jesus, mach es wahr! Soll dieses Jahr das letzte sein, so führ uns in den Himmel ein!
Am nächsten Morgen habe ich Fieber, und Mama lässt mich nicht zur Schule gehen. Sie würde gern bei mir bleiben, aber in der Kaufstätte ist Winterschlussverkauf und ihre Kollegin ist krank und sie ist jetzt ganz alleine in der Abteilung. Sie macht eine Dose Pfirsiche auf, gießt den Saft in ein Glas und stellt es auf meinen Nachttisch. Sie sagt, um halb zwei kommt Paul aus der Schule, und ich soll im Bett bleiben und mich immer gut zudecken.
Als sie gegangen ist, schlafe ich noch ein bisschen, dann lese ich in dem Buch, das mir Tante Hilde zu Weihnachten geschenkt hat. Zwischendurch trinke ich von dem Pfirsichsaft. Mir ist furchtbar langweilig, und außerdem schwitze ich unter der Bettdecke, und deshalb stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer, um Schallplatten zu hören.
Am Nachmittag bringt der Postbote ein Telegramm von Onkel Georg, in dem steht, dass am Sonntag Tante Käthe gestorben ist. Ich kenne Tante Käthe nicht, aber Paul sagt, es ist die Schwester von Omi und von Onkel Georg und sie war ein bisschen plemplem und hat im Heim gelebt, erst in Bethel und dann in Badbergen.
Mama sagt, dass es ihr leidtut, aber sie muss bei der Beerdigung parat sein, weil Onkel Georg das so möchte. Es passt ihr gar nicht, mitten im Winterschlussverkauf, aber es ist nun mal nicht zu ändern.
Am Dienstag geht sie noch bis mittags zur Arbeit, dann kommt sie kurz nach Hause, misst mein Fieber, bettet mich auf das Sofa im Wohnzimmer um, damit sie das Kinderzimmer gründlich lüften kann, stellt mir einen Teller mit kleingeschnittenem Marmeladenbrot und ein Glas Pfirsichsaft hin und sagt, sie muss nochmal in die Stadt, um alles für die Beerdigung zu besorgen, Trauerkleidung und Blumen, und um sechs geht schon mein Zug. Aber bald kommt Paul aus der Schule, und am Abend ist Papa ja wieder da. Und übermorgen bin ich schon wieder zurück.
Ich schlafe ein und träume wirres Zeug, Buchstaben, Zahlen, Farben, und dabei rauscht es in meinen Ohren. Ich wache auf, in der Wohnung ist es still, draußen ist es dunkel. Mir ist heiß, ich strample meine Bettdecke nach unten, ich trinke einen Schluck Pfirsichsaft, dann schlafe ich wieder ein.
Vom Flur fällt Licht ins Zimmer, Papa kommt herein, fühlt mir die Stirn, murmelt So ein Heinrich und trägt mich zurück ins Kinderzimmer. Ich bin ganz heiß, aber mein Bett ist schön kühl. Papa zieht mir die Bettdecke bis zum Kinn und geht hinaus.
In der Nacht rüttelt Paul mich wach und sagt, ich rede wie ein Maschinengewehr, ich soll damit aufhören, er kann nicht einschlafen.
Es ist heller Morgen, ich bin allein im Zimmer, am Bett steht ein Teller mit Apfelsinenstückchen, sie sind ein bisschen eingetrocknet. Ich kaue auf ein paar herum, spucke den Rest wieder auf den Teller. Es wäre schön, wenn jemand bei mir wäre, aber Mama ist auf der Beerdigung, Papa im Anker und Paul in der Schule. Ich stehe auf und tapse ein bisschen im Zimmer umher. Ich bringe Mungo und meine anderen Stofftiere ins Wohnzimmer und setze sie auf das Sofa, weil ich mit ihnen Weihnachten feiern will. Aus der Küche hole ich eine Schachtel Streichhölzer und zünde den Adventskranz mit den fast heruntergebrannten Kerzen an. Dann setze ich mich gegenüber in den Sessel.
Das eine Auge vom großen Teddy ohne Namen leuchtet. Ich nehme den Teddy auf den Schoß, um mir das Auge anzusehen. Vielleicht ist es ein magisches Auge, wie beim Radio. Jetzt leuchtet das Auge nicht mehr. Bestimmt hat es sich ausgeschaltet. Ich versuche es wieder einzuschalten, indem ich es drehe, und auf einmal habe ich es in der Hand. Ich betrachte das Auge. In Freudenstadt hat uns einmal Pauls Freund Siegfried zum Schlachthof geführt, wo sein Vater arbeitete. Zu dritt schlichen wir uns an ein großes Fenster, durch das wir nach unten in die Schlachthalle sehen konnten. Zwei Arbeiter mit steifen Schürzen führten an einer Leine ein Kalb herein. Der eine drängte sich von der Seite an das Kalb und hielt ihm einen Apparat an die Stirn. Es gab einen Knall und das Kalb brach zusammen. Der andere Arbeiter legte dem Kalb Schlingen um die Füße, zog es hoch und stach ihm mit einem langen Messer in den Hals. Blut spritzte und floss in eine große Wanne. Wie auf Kommando fingen Paul und ich an zu schreien. Die beiden Arbeiter schauten verdutzt zu uns nach oben. Der eine brüllte irgendetwas zu uns hoch, der andere griff in eine Schüssel und schmiss etwas mit Wucht in unsere Richtung, das gegen die Glasscheibe klatschte. Wir rannten, als ginge es um unser Leben. Später, als wir vom Schlachthofgelände runter waren, stehen blieben und nach Luft schnappten, sagte Siegfried: Es ist ein Auge gewesen.
Ich werfe das Teddyauge gegen die Fensterscheibe. Es macht Ping, aber kleben bleibt das Auge nicht. Ich rutsche auf dem Teppich herum, aber das Auge bleibt verschwunden. Ich setze den einäugigen Teddy ohne Namen wieder zu den andern auf das Sofa und hole aus der Küche eine Wunderkerze, die von Silvester übrig ist. Ich zünde sie an einer Kerze vom Adventskranz an. Es knistert, es wird gleißend hell, Funken sprühen mit lautem Geräusch. Ich halte die Wunderkerze hoch über meinen Kopf. Bald wird es sehr heiß an meiner Hand und ich kann die Wunderkerze nicht mehr halten. Ich werfe sie in eine Ecke vom Zimmer. Sie fällt von der Wand auf den Boden, brennt noch ein kleines bisschen weiter und erlischt. Ich hebe die Wunderkerze vorsichtig hoch und sehe, dass der Fußboden darunter ein bisschen geschmolzen ist. Ich bringe die Wunderkerze in die Küche und stecke sie tief in den Mülleimer, so dass man sie nicht gleich sieht. Ich puste die Kerzen im Wohnzimmer aus. Ich mache die Fenster im Wohnzimmer auf, damit man den Geruch vom Feuer nicht riecht. Ich trage Mungo, Orsi, Leo, Leandros, Perry, Zorro und den großen Teddy ohne Namen wieder zurück ins Kinderzimmer und gehe wieder ins Bett.
Paul weckt mich. Er fragt, warum die Fenster im Wohnzimmer auf sind, draußen ist es saukalt. Ich kriege keine Antwort zustande. Ob ich vielleicht Musik hören will. Ich sage, Ist mir egal. Er geht rüber ins Wohnzimmer, und ich höre, wie er das Radio an der Musiktruhe einschaltet, weil er dann besser Hausaufgaben machen kann. Ich schlafe wieder ein und träume komische Sachen. Wieder habe ich dieses Rauschen in den Ohren.
Papa kommt herein, klemmt mir das eiskalte Fieberthermometer in die Achselhöhle, holt es nach einer Weile wieder heraus und murmelt irgendwas vor sich hin. Dann nimmt er mich auf den Arm und trägt mich in ein anderes Zimmer. Es ist schön, getragen zu werden. Ich schlafe, ohne zu wissen, wo ich bin.
Irgendwann werde ich geweckt. Mama? Ich zwinkere mit den Augen, denn das Licht blendet mich. Papa und eine fremde Frau stehen vor meinem Bett. Papa sagt, das ist Frau Dr. Wolter, sie gibt mir jetzt eine Spritze gegen das Fieber, ich soll mich mal auf den Bauch legen. Ist mir egal, sage ich. Papa dreht mich auf den Bauch und zieht meine Schlafanzughose herunter. Ich kriege einen Stich in die Pobacke, und dann brennt es an der Stelle ein bisschen. Papa dreht mich wieder herum. Ich hab Durst, sage ich. Papa richtet mich auf und hält mir ein Glas mit süßem Saft an den Mund. Ich trinke ein bisschen, dann nimmt er mir das Glas weg und ich lege mich wieder hin.
Als ich aufwache, ist es hell. Ich liege im Kinderzimmer. Ich höre Geräusche aus der Küche. Ich rufe Mama. Ich muss dreimal rufen, dann kommt Papa. Er hat ein Abtrockentuch über der Schulter. Er sagt, Mama kommt heute Nachmittag wieder, und bis dahin bleibt er bei mir. Das ist schön.
Dienstag nach Ostern geht Mama zum letzten Mal zur Kaufstätte; am Mittwoch machen wir uns auf den Weg nach Neuß. Weil Papa arbeiten muss, bringt Paul Mama und mich zum Bahnhof. Zu dritt schleppen wir zwei Taschen und einen Koffer auf den Bahnsteig. Ich trage außerdem meinen Schulranzen, den Mama für mich gepackt hat. Pürie bleibt in Pauls Obhut. Ich habe ihm einen Zettel geschrieben, damit er nicht vergisst, ihn zu füttern. Dafür habe ich Mungo dabei. Ich wollte auch noch Perry mitnehmen, aber Mama meint, ein Stofftier ist genug.
Wir fahren erst nach Mannheim und dann mit dem D-Zug nach Köln. Lange geht es dicht am Rhein entlang.
Mama, warum fahren wir beide alleine nach Neuß?
Weil Papa noch im Anker arbeiten und Paul zur Schule gehen muss.
Aber ich muss doch auch zur Schule gehen.
Hör mal zu, Jakob. Ihr beide, das würde den Papa überfordern. Ihr wärt den ganzen Tag euch selbst überlassen und würdet euch bloß streiten.
Und wieso darf Paul dann nicht mit nach Neuß?
Weil wir in der kleinen Wohnung nicht zu dritt wohnen können. Und auf die Schule können wir auch nicht zu dritt gehen, weil es nur eine Volksschule ist.
Und warum können wir nicht in einer größeren Wohnung –
Weil wir uns das nicht leisten können. Jetzt sei doch nicht so ungeduldig, Bürschlein. Schau mal lieber nach rechts, das ist Burg Katz, und ein Stückchen weiter kommt Burg Maus.
Ich würde sehr gern ein bisschen herumhüpfen, denn wir sind ganz allein im Abteil, aber Mama lässt mich nicht. Stattdessen muss ich wieder aus dem Fenster gucken, weil da die Feindlichen Brüder zu sehen sind, wieder zwei Burgen, und die eine hat einem Heinrich gehört und die andere einem Konrad, und verfeindet haben sie sich wegen einem Mädchen. Beide haben es geliebt, aber nur Konrad durfte es heiraten. Bei dem Mädchen denke ich an Gunda Schickedanz, aber wegen der würde ich mich mit Paul bestimmt nicht streiten.
Dann sind wir auch schon bald in Koblenz und in Bonn. Mama sagt, dass hier die Regierung sitzt, mit Bundeskanzler Erhard. Inzwischen hat es angefangen zu regnen, und man kann kaum noch etwas von der Landschaft erkennen. In Köln müssen wir aussteigen und mit einem kleineren Zug noch eine halbe Stunde bis Neuß fahren. In der Zwischenzeit würde ich gern mit Mama ins Ali-Kino gehen, aber sie sagt, dafür reicht die Zeit nicht, nur für eine Bockwurst mit Brötchen.
In Neuß angekommen, schleppen wir unser Gepäck die Bahnsteigtreppe herunter. Dann zeigt Mama nach links zum Hinterausgang: Da lang. Regen fällt in feinen Striemen. Mama spannt einen Schirm auf und lässt mich darunter schlüpfen. Wir überqueren eine Straße mit Straßenbahnschienen und gehen durch eine dunkle Passage. Vor einer großen Straße mit Kopfsteinpflaster bleibt Mama stehen und stellt den Koffer und die große Tasche neben sich ab. Das ist die Neußer Hauptstraße, sagt sie. Dann zeigt sie auf die Straßenecke gegenüber und sagt: Und das ist die Kapitelstraße. Gleich sind wir da.