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„Der Russe an sich“, verkündet Adenauer, um sich das heikle Thema vom Hals zu schaffen, „ist ja im Allgemeinen friedliebend.“

 

„Ich weiß“, nickt das Mädchen.

 

„Ja?“

 

„Sie kommt aus der Ostzone“, erklärt Andreas, woraufhin sich Angelas Gesicht noch eine Spur dunkler färbt. „Können wir jetzt bitte gehen?“, sagt sie und dreht sich, zum Zeichen, dass sie entschlossen ist, den Rückweg anzutreten, halb um. „Wir sind nämlich spät dran.“

 

„Natürlich“, sagt Adenauer und schiebt sich an ihre Seite. „Wir gehen. Bis zum Hotel komme ich noch mit.“ Alle vier setzen sich in Bewegung.

 

„So, aus der Ostzone kommst du. Wann seid ihr denn rüber?“ fragt Adenauer das Mädchen. „Wann seid ihr denn geflüchtet?“

 

„Wir sind nicht geflüchtet“, antwortet das Mädchen kopfschüttelnd. „Wir sind zu Besuch hier.“

 

„Besuch aus der Ostzone, soso“, murmelt Adenauer. „Ich wusste gar nicht, dass das so einfach geht. Und ihr wollt wirklich wieder zurück?“

 

„Übermorgen. Übermorgen fahren wir zurück. In die Deutsche Demokratische Republik. Eine Ostzone gibt es nicht“, sagt das Mädchen und presst die Lippen zusammen.

 

„Sagen wir mal: Ostdeutschland“, sagt Adenauer. „Mit dem Namen Deutsche Demokratische Republik habe ich so meine Schwierigkeiten. Ein Land, das seine Bevölkerung hinter einer Mauer einsperrt, ist ja wohl keine Demokratie.“

 

„Mein Vater sagt, das ist nur vorübergehend. Die Mauer kann auch wieder abgebaut werden, wenn die Zahl der Arbeitslosen in Westdeutschland weiter in die Höhe geht.“

 

„Dein Vater ist anscheinend Berufsoptimist“, stellt Adenauer amüsiert fest. „Beziehungsweise Pessimist, wenn man es von Westdeutschland aus betrachtet.“

 

„Und dass man daran sieht, dass die CDU längst abgewirtschaftet hat“, fährt das Mädchen unbeirrt fort.

 

„Jetzt aber mal halblang, junges Fräulein“, entgegnet Adenauer gelassen. „Die Rezession und die hohe Arbeitslosigkeit, das muss man als gesamteuropäisches Problem sehen. Die Schuld nur auf die CDU zu schieben, das bringt gar nichts.“

 

„Aber die CDU regiert doch.“

 

„Glaubst du etwa, es sähe anders aus, wenn die SPD regieren würde? Die CDU trägt momentan halt die Regierungsverantwortung.“

 

„Und deshalb wird sie auch dafür verantwortlich gemacht. Das ist doch logisch“, befindet das Mädchen.

 

Logisch ist es vielleicht, denkt Adenauer. Aber Politik ist zu kompliziert, um mit logischen Maßstäben gemessen werden zu können. Na ja, das Mädel ist Mathematikerin, also ist sie es gewohnt, logisch zu denken. Wenn sie aus einem kommunistischen Elternhaus kommt, um so mehr. Kann vielleicht gar nicht mehr anders. Was wohl ihr Vater von Beruf ist? Wahrscheinlich Politiker. Dürfte sie sonst mit ihrer Mutter in den Westen reisen? Was für eine Jugend wächst da hinter der Mauer bloß heran.

 

„Dann bist du wohl bei der Thälmannjugend und trägst die Einheits-Uniform?“, fragt er freundlich lächelnd.

 

 „Das sind die Jungen Pioniere“, erwidert das Mädchen. Die blauen Augen funkeln angriffslustig. „In anderen Ländern tragen die Kinder doch auch Uniformen, sogar in der Schule. Zum Beispiel in England.“

 

„Ich glaube, vor allem aber in China und Russland.“

 

„Das ist doch gut, dass das so einheitlich ist.“

 

„Dass alle so gleich aussehen?“

 

„Ja, weil niemand ausgeschlossen wird, bloß weil er nicht so tolle Anziehsachen hat. Dass es keine Rolle spielt, wieviel Geld die Eltern verdienen. Im Westen geht es immer nur ums Geld, sagt mein Vater. Da denkt jeder nur an sein eigenes Wohlergehen. Und das wäre für ein Volk im Ganzen nicht gut.“

 

„Das ist auch nicht gut. Da stimme ich ganz mit deinem Vater überein.“

 

„Mein Vater meint auch“, sagt das Mädchen mit fester Stimme, „wenn sich die Lage in Westdeutschland nicht bald bessert, dass dann radikale Parteien an die Macht kommen können.“

 

„Da hat er Recht, hundertprozentig Recht“, stimmt Adenauer zu. „Das deutsche Volk ist noch lange nicht im Gleichgewicht. Ich habe große Sorge, dass die Deutschen wieder dem Extremismus verfallen.“ Und nach kurzem Schweigen fügt er mit maliziösem Lächeln hinzu: „Die Gefahr besteht in Ostdeutschland natürlich nicht. Da haben sich alle Parteien auf den Kurs der Einheitspartei eingeschworen.“

 

„Und das ist gut so. Zum Beispiel ist bei uns der Faschismus verboten. Mein Vater meint, dass in Westdeutschland noch die alten Nazis mitreden. Deshalb ist er auch gegen eine Wiedervereinigung.“

 

Ich bin auch gegen eine Wiedervereinigung, denkt Adenauer, während sie, einer nach dem andern, die Steinstufen zum Hotel Bellevue hinaufsteigen. Solange drüben noch die alten Kommunisten mitreden. Vom KZ ins ZK, was soll dabei schon herauskommen. Die ersten freien Wahlen würden wir totensicher verlieren.

 

Oben angekommen, sagt er laut: „Das ist – aber schade.“ Das angestrengte Atmen nötigt ihn zu Zwangspausen beim Sprechen. „Ich glaube –, die Menschen – in Deutschland –, im Westen wie – im Osten –, wünschen sich – nichts sehnlicher.“

 

„Tja, Pech“, sagt das Mädchen. „Hier ist das Hotel. Auf Wiedersehen.“

 
 
 

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