An einem Samstagnachmittag darf ich Hansi Sprehn zuhause besuchen. Seine große Schwester liest die „Bravo“, und als ich sie frage, ob sie vielleicht alte Hefte hat, die sie nicht mehr braucht, schenkt sie mir einen ganzen Stapel. Paul macht große Augen, denn ihm schenkt niemand alte „Bravos“, wo sogar noch der Starschnitt mit dem Kopf von Rock Hudson und dem Revolverhalfter von Robert Fuller drin ist. Alle Hefte sind interessant, auch die Auskünfte von Harry Fix. An ihn muss man schreiben, wenn man wissen will, ob Ruth Leuwerik verheiratet ist, wann Horst Buchholz seinen nächsten Film dreht, wo Martin Lauer wohnt oder wie der Hund von Rex Gildo heißt. Ich hätte Lust, auch einmal an Harry Fix zu schreiben, aber die einzige Frage, die mir einfällt, nämlich wann Gitte und Rex endlich heiraten, ist schon beantwortet, und zwar von Gitte: Nie.
Harry Fix kennt auch die Adressen, an die man schreiben muss, wenn man ein Autogramm haben will. Paul hat echte Autogramme von Peter Kraus, Conny Froboess und Liselotte Pulver, aber er weiß nicht, ob sie echt sind oder gefälscht, weil er sie günstig gegen seine Fußballbilder von Eintracht Frankfurt eingetauscht hat. Er hat auch eins von Elvis Presley, wo die Unterschrift nur gedruckt ist, und dadurch ist es praktisch nichts wert. Ich werde nur echte Autogramme sammeln, die ich mir bei den Stars selbst besorge, indem ich ihnen einen höflichen Brief schreibe und, wie Harry Fix empfiehlt, Rückporto beilege. Für die meisten Stars reicht eine Zwanzigpfennig-Briefmarke, weil sie einen Autogrammversand in Kassel (wie die Animals) oder einen Fanclub in Gelsenkirchen haben (wie Pierre Brice), aber John Wayne hat nur eine Adresse in Amerika: 4250 Louise Avenue, Encino, California, USA. Harry Fix rät, bei Adressen im Ausland unbedingt einen Internationalen Antwortschein mitzuschicken, den die Stars dann bei sich zuhause gegen ihre eigenen Briefmarken eintauschen können. Auf der Post gibt es ihn für 1 Mark zu kaufen.
Für 1 Mark bekommt man fast zwei „Fix und Foxi“. Aber mit einem Autogramm von John Wayne würde ich Papa bestimmt beeindrucken, denn er ist sein Lieblingsschauspieler. Ein paar Mal hat er Wildwestromane nur deshalb gekauft, weil John Wayne auf dem Umschlag abgebildet war, obwohl die Verfasser der „Andy-Western“ komische Namen trugen wie F. G. Rabone oder Ward Brothers. Sehr schnell hat sich herausgestellt, dass die Romane großer Mist sind und die Filmfotos mit John Wayne nur als Köder benutzt wurden. Aber Papa ist bestimmt nicht als Einziger darauf hereingefallen.
Auf der Post neben dem Altpörtel kaufe ich einen Internationalen Antwortschein, und Paul schreibt mir englische Sätze auf, die ich für alle Stars in Amerika verwenden kann: Dear Mister, please send me your autogramm. Thank you. Respectfully. Genau das schreibe ich nach Kalifornien und hoffe, dass John Wayne mir sein Autogramm schickt.
Wochenlang höre ich nichts und glaube schon, dass er mich vergessen hat, aber dann kommt doch eine Postkarte aus Los Angeles, auf der John Wayne an großen Kakteen vorbei durch die Wüste marschiert, in der einen Hand seinen Sattel, in der anderen sein Gewehr. Es muss sehr heiß sein, denn dem Collie-Hund an seiner Seite hängt die Zunge aus dem Hals. Bestimmt ist gerade sein Pferd verdurstet und er hat ihm den Gnadenschuss geben müssen.
John Waynes Unterschrift steht in der Ecke, mit einem langen Wort darüber, das ich nicht entziffern kann, weil es amerikanisch ist. Paul meint, dass es Goodfuck heißen könnte, was wahrscheinlich soviel bedeutet wie herzliche Grüße. Das Autogramm ist leider nur gedruckt und deshalb nicht so viel wert wie ein echtes, aber wahrscheinlich kriegt John Wayne jeden Tag einen Haufen Autogrammwünsche aus aller Welt und will auf keinen Fall riskieren, wegen einem Schreibkrampf das nächste Filmangebot absagen zu müssen. Deshalb hat er auch aus meinem Brief die Absenderangabe einfach ausgeschnitten und mit Tesafilm auf die Postkarte geklebt. Vielleicht konnte er aber auch bloß meine Schrift nicht lesen. Als ich Papa am Abend triumphierend das Autogramm zeige, dreht er es hin und her, schüttelt den Kopf und sagt, dass es ein Wunder ist.
Weil das mit John Wayne so gut geklappt hat, schreibe ich auch an meinen Lieblingsschauspieler Robert Fuller, 8966 Sunset Boulevard Hollywood 69, California. Den Brief unterschreibe ich diesmal nicht mit Respectfully, sondern mit Goodfuck, das habe ich mir von John Wayne abgeschaut.
Außerdem schreibe ich einen Brief an Rolf Kauka, den Herausgeber von „Fix und Foxi“ in Grünwald bei München, aber nicht wegen einem Autogramm, sondern weil ich eine Entdeckung gemacht habe, die ich ihm sofort mitteilen muss. Wenn man nämlich die streichholzschachtelgroßen Titelbilder, die es neuerdings in jedem „Fix und Foxi“-Heft als Vorankündigung der nächsten Nummer gibt, sauber ausschneidet, passen je drei auf eine Klopapierrolle, die dann aussieht wie eine Mini-Litfaßsäule.
Als Paul am Abend ins Bett kommt, bin ich noch wach und erzähle ihm von meinem Brief an Rolf Kauka und dass ich Angst habe, dass er meine Entdeckung nicht zu würdigen weiß oder, noch schlimmer, mir die Idee einfach stiehlt und unter seinem Namen herausbringt. Paul meint, das Risiko besteht. Er hat heute sieben Aufträge ausgeliefert, und der letzte ist in der Heydenreichstrasse gewesen. Er hat zweimal geklingelt und ist dann in eine Wohnung gegangen, wo eine Frau im Nachthemd aufgerichtet im Bett saß, und er hat ein Stück von ihrem Busen sehen können. Als er sagte, er kommt von Nothelfer und hat einen Blumenstrauß abzugeben, hat sie sich gefreut und er hat den Briefumschlag öffnen und die Karte vorlesen müssen, und darin stand, dass Mutti bitte bald wieder gesund werden soll, und dann hat die Frau angefangen zu weinen und hat die Hand ausgestreckt und ihn an sich gezogen und ihn umarmt, und er hat ihren Busen gespürt, und dann hat er sich aus ihrem Portemonnaie ein Fünfmarkstück nehmen dürfen. Zum Abschied hat er ihr die Hand gegeben und sich bedankt und sie hat ihn wieder an sich gezogen und umarmt, und er hat ihren Busen wieder gespürt und es sei eigentlich sehr schön gewesen. Er sagt, heute hat er an Stundenlohn neun Mark bekommen plus 9,50 Mark Trinkgeld, und dann lässt er mich seine braune Spardose in der Hand halten, die schon ganz schwer ist, weil so viele Ein- und Zweimarkstücke und sogar Fünfmarkstücke darin sind, und wenn das so weitergeht, kauft er sich mit sechzehn ein Moped.
Ein paar Tage später kriege ich tatsächlich Antwort von der „Fix und Foxi“-Redaktion in Grünwald bei München, aber nicht von Rolf Kauka, sondern von einer Frau Winter, die sich im Namen von Rolf sehr herzlich für meinen Vorschlag bedankt. Sie schreibt, dass Rolf oft Briefe von Kindern bekommt mit Vorschlägen, was man alles mit den Mini-Titelblättern machen kann, aber die Idee, sie auf Klopapierrollen zu kleben, hat noch keiner gehabt, und als kleine Anerkennung schickt sie mir mit getrennter Post einen hübschen Fahrradwimpel. Dabei habe ich doch gar kein Fahrrad, aber das können sie in Grünwald bei München nicht wissen.
Papa bekommt auch Post. Nicht vom Erich Pabel Verlag in Rastatt, wo die Wildwestromane von Robert Ullman erscheinen und auch „Fix und Foxi“, sondern vom Martin Kelter Verlag in Hamburg. An guten Westernromanen, schreiben sie, sind sie immer interessiert. Papa meint, dass er gute Aussichten hat, ins Programm reinzurutschen, und deshalb will er jetzt mal einen Schlag reinhauen.
Mama hat ebenfalls Neuigkeiten. Sie sagt, dass es vielleicht eine Möglichkeit gibt, dass sie wieder als Lehrerin arbeiten kann, wie in der Ostzone, aber dafür müssten wir wieder umziehen. Papa meint, daraus wird nichts, weil man hier keine Ostzonenlehrer haben will, aber Mama sagt, in Deutschland herrscht Lehrermangel bis zum Gehtnichtmehr und in Nordrhein-Westfalen ganz besonders. Es gibt sogar extra einen Verein für die ehemaligen Ostzonenlehrer, von denen es schon wieder viele in den Schuldienst geschafft haben. Ihre Freundin Christel will ihr dabei helfen, und das ist Gold wert. Leider sind Mamas Zeugnisse alle weg, weil sie bei der Flucht nur ganz wenig mitnehmen konnte, aber eventuell kann sie die Zeugnisse ersetzen, wenn jemand an Eides statt bezeugt, dass alles seine Richtigkeit hat, zum Beispiel ihr alter Rektor in Ludwigslust, der auch geflüchtet ist und heute im Ruhrgebiet wohnt. Sie hofft nur, dass er nicht gestorben ist, weil er schon damals ein älterer Herr war. Das Beste wird sein, sie fährt für ein paar Tage zu Christel nach Neuß und versucht mit ihrer Hilfe rauszukriegen, wo er abgeblieben ist. Außerdem kann sie Christel in die Schule begleiten und ihr beim Unterrichten zuhören, damit sie schon mal sieht, wie das heute ist als Lehrerin. Sie will sich zwei Wochen Urlaub nehmen und hofft, dass sie nicht so lange braucht.
Na denn viel Spaß, sagt Papa, aber seine Stimme klingt nicht so, als ob er es ernst meint.