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Am zweiten Feiertag gehen wir endlich in den „Schatz im Silbersee“. Draußen ist alles dick verschneit, auf dem Weg ins Kino bewerfen Paul und ich uns mit Schneebällen und toben herum. Der Film ist ab zwölf. Papa sagt zu der Frau im Kassenhäuschen, zwei Erwachsene und zwei Kinder, Sperrsitz, und ich stelle mich hinter Paul, damit sie mich nicht sehen kann. Dem Platzanweiser gibt Papa alle vier Karten auf einmal, wir gehen dicht hintereinander rein, und schon bin ich drin.


Das Alhambra hat hunderte von Sitzplätzen, alle in rotem Plüsch. Wir setzen uns ganz an den Rand, weil Papa nicht eingeklemmt sitzen will. Diese Angst hat er, seit er als Kriegsgefangener unter Tage schuften musste. Damals ist nichts passiert, aber vor einigen Jahren sind dort fast 300 Bergleute ums Leben gekommen. Den Zeitungsausschnitt bewahrt er bis heute auf. ERST DIE KOHLE DANN DER MENSCH – EHEMALIGE KRIEGSGEFANGENE SCHILDERN DIE HÖLLE VON MARCINELLE.


Noch ist der Vorhang zu und es läuft Musik. Dann geht das Licht aus und der schwere Samtvorhang gleitet geräuschlos auseinander. Als erstes gibt es Werbung, dann „Blick in die Welt“ mit Sport, dann wieder Werbung. Der Vorfilm handelt von Wildpferden, und zwischendurch verkaufen die beiden Platzanweiser Langnese-Eiscreme. Mitten im Winter! sagt Mama und schüttelt den Kopf. Endlich ertönt die Constantin-Fanfare und der Film geht los.


Der Cornel und seine Tramps überfallen eine Postkutsche und erbeuten die Hälfte einer Schatzkarte, die dem Vater von Fred Engel gehörte. Die andere Hälfte der Schatzkarte gehört dem Farmer Patterson. Die Tramps entführen Patterson und seine Tochter Ellen und wollen sie nur im Tausch gegen die andere Hälfte der Schatzkarte frei lassen. Winnetou und Old Shatterhand verfolgen die Tramps zusammen mit Fred und befreien die Geiseln. Fred besiegt den Cornel im Zweikampf und nimmt ihm die eine Hälfte der Schatzkarte wieder ab, aber aus Versehen läuft Ellen den Tramps in die Arme. Fred tut so, als würde er die Tramps im Tausch gegen Ellen zum Schatz führen, aber in Wirklichkeit will er nur Zeit gewinnen, bis Winnetou und Old Shatterhand nachkommen können, die erst noch mit den Utahs die Friedenspfeife rauchen müssen. Der Schatz liegt in einer Höhle unter einem Wasserfall und wird von einem uralten Indianer bewacht, den der Cornel mit ein paar Schüssen aus dem Weg räumt. Der Schatz funkelt so prächtig, dass sich die Tramps vor lauter Gier in die Haare kriegen. Der Cornel knallt sie alle ab, damit er den Schatz für sich alleine hat. Der alte Indianer hat aber noch die Kraft, eine Falltür zu bedienen, wodurch der Schatz und der Cornel in einer Schlammgrube versinken. Jetzt sind alle tot, Ellen und Fred umarmen sich, und Winnetou und Old Shatterhand können zufrieden nach Hause reiten.


Am nächsten Morgen ist das Anmachholz knapp. Mama kniet vor der Ofenklappe und sagt, das Feuer ist aus und sie hat Malesche, es wieder in Gang zu kriegen. Deshalb dürfen Paul und ich versuchen, mit der Axt Späne von dicken Holzscheiten abzuhacken. Danach sagt Mama, wir sollen jetzt mal zuhören, sie will nämlich unsere Meinung einholen, weil sie sich entscheiden muss, wo sie ab nächstem Monat arbeitet. Sie hat zwei Angebote, eins von einem Gemüsegeschäft und eins von dem großen Schreibwarengeschäft am Postplatz, und sie weiß es selbst nicht. Im Gemüsegeschäft würde man sie sofort mit Kusshand nehmen, aber im Schreibwarengeschäft ist es ein bisschen vornehmer, weil es ein Traditionsgeschäft ist. Allerdings würde sie dort etwas weniger Geld bekommen. Paul und ich sind für das Gemüsegeschäft. Mama will es sich überlegen, aber auf jeden Fall wird es nun nicht mehr lange dauern, bis wir in eine richtige Wohnung ziehen.


Um fünf treffen wir uns mit Papa auf dem Parkplatz vom Anker. Er sagt, Los Jungs, jetzt wollen wir uns mal unsere künftige Bude ansehen. Sie ist noch nicht ganz fertig, aber zum Anschauen reichts.


Papa führt uns zur Karmeliterstraße. Vor dem Eckhaus zur Großen Gailergasse bleibt er stehen. Die Schaufenster im Erdgeschoss sind mit Papier abgeklebt, neben der Haustür ragen Drähte aus der Wand. Paul guckt sich die Klingelschilder an, aber sie sind leer. Als ein Mann im Monteuranzug mit einer Bohrmaschine aus dem Haus kommt, können wir einen Blick in das Treppenhaus werfen. Papa sagt, die Stufen sind aus Kalkstein und man kann darin Versteinerungen erkennen, Muscheln und Schnecken und Ammoniten. Dann schiebt er uns zurück auf die Straße.


Schaut mal hoch zu den Fenstern! Seht ihr die Rollläden? Oben links, das ist unsere Wohnung.


Haben wir dann wieder ein eigenes Zimmer mit elektrischem Licht?


Aber ja. Und mit Zentralheizung. Und ein Badezimmer mit Badewanne.


Und keine Kackeimer mehr?


Keine Kackeimer mehr.


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