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- Jan-Christoph Hauschild

- 10. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Alexander gähnte hinter vorgehaltener Hand. Für ihn war es höchste Zeit, die Unterhaltung wieder zum Thema zurückzuführen, dessentwegen sie gekommen waren.
„Was für Informationen gibt es in den Kirchenbüchern?“
„Wenn es um einen Sterbefall geht, kommen die Beerdigungsregister in Frage.“
Alexander hätte gern gefragt, ob er sie jetzt gleich einsehen dürfte, aber schon fuhr Schweighaeuser mit Leidenschaft fort.
„Es gab damals keine landesweiten Regeln, wie die kirchlichen Verzeichnisse zu führen waren. Oberlin hat es einfach auf seine Weise gemacht, und das hieß: die bestmögliche. Ausführlich und bis ins kleinste Detail genau. Name des Verstorbenen, Beruf, gegebenenfalls öffentliche Ämter, Name der Eltern, Geburtsort und -datum, sämtliche Eheschließungen mit Namen der Ehepartner und Heiratsdaten, Todesursache, Sterbedatum mit Uhrzeit, Ort und Datum der Beerdigung und Sterbealter. Anschließend noch Namen, Berufe und Unterschriften der Zeugen. Dass sie ihre Namen überhaupt schreiben konnten, war natürlich auch das Verdienst von Oberlin. Woanders hätten die Leute zu dieser Zeit bloß ein Kreuz gemacht.“
„Sie kennen sich ja hervorragend aus“, sagte Kim.
„Ja, ich bin einigermaßen informiert. Früher bekam ich ab und zu Anfragen zu einem Kind, das 1778 gestorben ist, und musste nachsehen.“
Alexander war plötzlich hellwach. „Ein Kind?“
„Ja, ein kleines Mädchen in Fouday.“
„Es war nicht 1788?“
„Wie ich sagte, 1778, im Februar, als hier in diesem Pfarrhaus ein Besucher einquartiert war, ein Dichter.“
„Davon hatte ich keine Ahnung.“
„Die meisten Leute, die hier klingeln, kommen wegen diesem Herrn Lenz. Ein junger deutscher Dichter, mit Goethe befreundet. Er war drei Wochen zu Besuch bei Oberlin. Es war nicht einfach mit ihm, er war nämlich ein bisschen verrückt, dieser Lenz. Unter anderem hat er versucht, das tote Mädchen in Fouday zu erwecken. Wie Jesus im Markus-Evangelium.“
Jetzt mischte sich Kim ein.
„Gibt es etwas Besonderes an diesem Sterbefall, an das Sie sich erinnern können?“
„Ich kann mich sehr gut erinnern, ich habe für Wissenschaftler vor allem in Deutschland mehrfach Fotokopien anfertigen müssen. Es sind nur die üblichen Angaben, mit einer Ausnahme: Das Protokoll stammt nicht von Oberlin, weil er zu dieser Zeit verreist war, sondern vom Pastor in Rothau.“
„Wissen Sie noch die Todesursache des Mädchens?“
„Der Vermerk von Pastor Schweighaeuser lautete: Es starb unter Krämpfen. Mehr wissen wir nicht.“
„Und wie alt war das Kind?“
„Kein halbes Jahr.“
„Nein, dann ist es nicht das, wonach wir suchen“, sagte Alexander. „Wir suchen einen Sterbefall aus dem Jahr 1788. Können wir die Beerdigungsregister bei Ihnen einsehen?“
„In dieser Hinsicht habe ich eine schlechte und eine gute Nachricht für Sie“, antwortete Schweighaeuser. „Die schlechte zuerst: Die Kirchenbücher sind alle in Straßburg, in den Archives départementales, im schicken Neubau an der rue Philippe Dollinger. Wie übrigens der gesamte Nachlass von Oberlin. Das ist alles im Archiv. Wir haben hier gar nichts mehr, außer den letzten Jahrgängen ab etwa 1990.“
Er zögerte einen Moment, als ob er die Spannung erhöhen wollte.
„Die gute Nachricht: Alle Kirchenbücher in Frankreich wurden in den letzten Jahren digitalisiert und stehen online zur Verfügung. Kostenlos.“
„Kostenlos? Donnerwetter. Bei uns in den USA würde man damit Geld verdienen.“
„Die Website ist sehr übersichtlich und komfortabel. Dort finden Sie alles, was sie suchen.“
. . .
Weil der Zug nach Straßburg erst nach vier Uhr fuhr, ließen sich Alexander und Kim mit dem Rückweg Zeit. In den Vorgärten stritten Amselhähne um ihr Revier, Milchkühe trotteten gemächlich heimwärts. In Fouday besichtigten sie den Friedhof, auf den sie Pastor Schweighaeuser hingewiesen hatte. „PAPA OBERLIN“ stand auf dem schmiedeeisernen Kreuz, das die große, von oben bis unten beschriftete Steinplatte überragte, die das Grab bedeckte. Der achtungsvoll-zärtliche Name war ihm von seiner Gemeinde schon zu Lebzeiten verliehen worden. Erst 1826, im hohen Alter von 85 Jahren, war er gestorben, nach 59-jähriger Amtstätigkeit in Waldersbach, wozu sich auf dem Grabstein wieder die Namensvariante Waldbach fand.
Sie saßen kaum im Zug, als Alexander sein Telefon herausholte und auf die Website ging, die ihnen Schweighaeuser genannt hatte: Archives en ligne.
Kim sah aus dem Fenster. Bauernhöfe mit Nebengebäuden zogen an ihr vorbei und freistehende Häuser. Dann blickte sie zum Himmel, das Kinn auf die Hand gestützt. In jedem Wolkengebilde entdeckte sie die Spur von einem Turricephalus. Sie wechselte vom Platz gegenüber auf den Platz neben Alexander und stieß ihn an. „Bist Du aufgeregt?“
„Kein bisschen“, log er lächelnd.

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