Am Ufersaum, dort wo keine Wellen die Befestigung überspült haben, bleibt Adenauer stehen. Rechts in der Ferne quert die Dollendorfer Fähre den Fluss, und vor Mehlem gleitet ein Frachtkahn durch den Strom, dessen Bugwellen uferwärts wandern und sich schwappend an der Buhnenspitze brechen. Adenauer starrt in das schmutzig graue Wasser. Obwohl es hier an der Buhne seicht sein muss, kann er keinen Grund erkennen.
„Und jetzt? Einfach rein damit?“
„Ja“, ruft Andreas. „Und gut festhalten!“
Vorsichtig lässt Adenauer die Schnur ins Wasser gleiten. Sofort nimmt die Strömung den Schwimmer auf und trägt ihn, vom Wellenschlag zum Tanzen gebracht, davon.
„Er wird weggespült“, ruft er aufgeregt.
„Das macht nichts“, ruft Andreas zurück.
Tatsächlich treibt der Schwimmer nur so weit ab, bis er vom Ende der Schnur gebremst wird, wodurch er in Schräglage gerät.
Schade, denkt Adenauer. Ohne Strömung würde er jetzt ganz ruhig im Wasser stehen. Das wäre ein schönes Bild. Aber ein Fluss fließt nun mal. Von den Bergen kommt er und zieht aufs Meer zu. Das Fließen macht ja auch seine Anziehungskraft aus. Die Bewegung, die nie zum Stillstand kommt. Das Leben, das darin steckt, das wir nicht fassen können. Was treiben eigentlich die Jungens?
Jakob und Andreas sind nur ein paar Schritte von ihm entfernt, aber sie haben sich wieder ihrem eigenen Angelgeschäft zugewendet. Die Überzeugung, ein Stümper und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, verlässt Adenauer nicht. Verdammt, jetzt ist die Rutenspitze ins Wasser eingetaucht. Hoch damit! Kann doch nicht so schwer sein, die Angel in der richtigen Position zu halten.
Es heißt Angelsport. Berechtigter wäre es, von Angelspiel zu sprechen. Denn eine Schnur mit einem aufgespießten Wurm am Ende an einem Stock ins Wasser zu tauchen, hat mehr von einem Spiel als von einer Sportart. Was auch ein Glück ist. Hab keinen Spaß an Freizeitbeschäftigungen, bei denen alles bis ins Letzte festgelegt ist. Wo die Regeln das Spiel ausmachen. Deshalb spiele ich auch Boccia und nicht Schach.
Flussaufwärts kämpft ein Ausflugsdampfer gegen die Strömung. Die Sonne blendet, und er zieht den Hut tiefer in die Stirn. Vor ihm mitten im Fluss liegt eine langgestreckte Sandbank, an deren Rand Schafgarbe und Gänsekraut blühen. Ein Kormoran trocknet dort seine ausgebreiteten Flügel. Kleine Schwärme Mücken tanzen über dem Wasser.
Plötzlich ein kurzes Aufblitzen über der schattenlosen Wasserfläche. Ein Fischleib muss aus dem undurchsichtigen Wasser geschnellt sein; zu flink für seine Augen. Er ist mittendrin in einer Welt, in der es nur so wimmelt vor lauter Leben, und die er bisher nur aus Büchern kannte. Eine geheimnisvolle Welt. Wenig zu sehen, viel zu ahnen. Fische führen ein Leben im Verborgenen. Aus gutem Grund. Warum sich ohne Not im offenen Wasser zeigen? Besser, man hält sich bedeckt. Weiß das. Hab selber eine Zeitlang im Verborgenen gelebt.
Sein Blick schweift über die spiegelnde Fläche weiter zum gegenüberliegenden Ufer, dessen Konturen durch einen leichten Dunsthauch verschleiert sind. Zu seiner Linken teilen die Inseln Grafenwerth und Nonnenwerth den Rhein in drei Arme, rechts berühren sich Rüngsdorf und Bad Godesberg.
Der rot-weiße Korken verharrt weiter in seiner Schrägstellung. Kein Zweifel: Die Fische müssen auf Wanderschaft gegangen sein. Er hebt die Rute, zieht die Schnur ganz aus dem Wasser und späht nach dem Köder. Er wirkt unberührt. Von neuem setzt er den Schwimmer in den Fluss, der sofort wieder, hastig und hüpfend, flussabwärts drängt.
„Die Fische können dich bestimmt sehen, Herr Mann Josef“, mutmaßt Jakob.
„Meinst du? Von so tief unten?“
„Klar sehen die einen“, bestätigt Andreas. „Fische, die man sehen kann, fängt man nicht. Alte Anglerregel.“
„Also klein machen“, sagt Adenauer und geht ächzend in Kauerstellung, den Blick starr auf den Schwimmer gerichtet. „Unter Wasser Hören können sie am Ende auch noch. Also nur Zeichensprache verwenden. – Nein, ich hab bloß Spaß gemacht.“
Dieser Anglerroman. War ganz gut. Jedenfalls nicht ganz schlecht. Konnte mich sogar ein bisschen wiedererkennen in dem Romanhelden. Alt, aber gibt nicht auf, allen Widrigkeiten zum Trotz. Wie hieß er noch? Armando? José? Eine Don Quixote-Gestalt. Wie ich selbst eine bin.
Die Geschichte weiß ich noch genau. Ein sehr alter Mann, ein Berufsfischer irgendwo am Golfstrom. Nach Monaten ohne Jagdglück geht ihm endlich ein großer Fisch an die Angel. Ein sehr großer Fisch. Viel zu groß und zu stark für ihn und sein kleines Boot. Ein kluger Angler hätte wahrscheinlich die Schnur gekappt. Klugheit ist immer gut. Auch bei Politikern. Aber Erfahrung ist noch besser. Der alte Mann ist erfahren und sehr geduldig. Drei Tage dauert der Kampf, dann hat er den Fisch besiegt. Kann sich aber nicht lange freuen, weil sich auf der Fahrt nach Hause Haie über den Fang hermachen. Kehrt deshalb am Ende mit leeren Händen zurück. Den Kampf hat er also verloren. Aber im großen, im eigentlichen Kampf, im Kampf mit dem Fisch, da hat er gesiegt.
In der Geschichte liegt eine tiefe Wahrheit. Es kommt nicht darauf an, immer zu gewinnen. Entscheidend ist, dass man sich der Herausforderung stellt. Sich dem Schicksal nicht kampflos überlässt. Mit Zähigkeit und Gottvertrauen durchhalten. Sich niemals unterkriegen lassen. Nur so kann man seine Würde bewahren. Wahre Größe zeigt sich darin, wie sich der Mensch in der Niederlage behauptet.
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