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Am ersten Schultag reden wir eine ganze Stunde lang über Weihnachten und über Plätzchenbacken, wie wir den Christbaum geschmückt und welche Geschenke wir bekommen haben. Danach reden wir über den Winter. Frau Meisel sagt, dass es schon sehr lange her ist, dass sie so einen Winter erlebt hat, bestimmt über 30 Jahre. Wir reden darüber, wie man einen Schneemann baut, was man beim Vogelfüttern beachten muss, und daraus bilden wir Sätze. Frau Meisel erklärt uns, dass Schnee aus Kristallen besteht. Wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet, sehen sie aus wie Sterne. Sie malt die Schneesterne an die Tafel und wir malen sie ab.


Am Nachmittag gehe ich mit Paul zum Rhein. Kein einziges Schiff ist zu sehen. Das Ufer ist ganz vereist und schneebedeckt, und auf dem Fluss treiben große Eisschollen. Manchmal treffen sich welche und brechen entzwei. Einige geraten auch in die Strömung, werden in die Tiefe gezogen und tauchen an anderer Stelle wieder auf.


Drei Wochen später holt mich Mama von der Schule ab und geht mit mir nicht nach Hause, sondern in die Karmeliterstraße zu unserer neuen Wohnung. In den drei großen Schaufenstern im Erdgeschoß sind jetzt Badewannen, Duschvorhänge, Gasherde und Öfen ausgestellt, und darüber hängt ein Schild: „Franz Rueff Spenglerei u. Installation“.


Im zweiten Stock schließt Mama die Wohnungstür auf. Es riecht nach Farbe und Baustelle. Papa ist da und trägt einen Karton von einem ins andere Zimmer. Er gibt mir einen Kuss und sagt, das ist das Wohnzimmer. Da liegt der rote Wollteppich auf dem Boden, da steht der Tisch mit den vier Stühlen, und vor dem Fenster stehen die beiden Armlehnsessel aus Korbgeflecht. Papa zeigt mir das Badezimmer und die Toilette und die Küche mit der Balkontür. Der Balkon ist so riesig, dass man vier Liegestühle aufbauen kann, aber wir haben nur die beiden aus Vögisheim. Ich stelle mir vor, dass ich auf dem Balkon Obst und Gemüse züchte, dann haben wir im Notfall immer etwas zu essen.


Die Möbel stehen alle schon an ihrem Ort, auch die Musiktruhe. In der Küche hängt wieder der Schrank mit den Schiebetüren, und obendrauf stehen sechs blaue Weinkrüge aus dem Ochsen. Im Kinderzimmer stehen unsere Betten und die Kommode für unsere Spielsachen und der grüne Kleiderschrank. Im Flur steht ein runder Metalltisch mit hübsch geschwungenen Beinen aus dem Gastgarten, aber die andern Sachen aus Vögisheim sind nicht da, nicht der Kühlschrank und nicht die Gefriertruhe und auch nicht die Waschmaschine.


Mama sagt, übermorgen fängt sie halbtags bei Schreibwaren Thomann an. Paul und ich bekommen dann einen Schlüssel, aber wir müssen uns ordentlich benehmen, wenn wir allein zuhause sind und achtgeben, dass wir nichts kaputt machen, besonders im Wohnzimmer, wo der Fußboden aus Parkett ist, und toben dürfen wir auch nicht, weil unter uns Familie Rueff wohnt, denen das Haus gehört.


Am Sonntag machen wir einen Ausflug an den Rhein. Mama sitzt auf dem Klapphocker und schaut in die Ferne, Paul und ich gehen zu den Anglern und gucken, ob sie schon etwas gefangen haben, und Papa sammelt Treibholzstücke, weil wir daraus etwas schnitzen können.


Zuhause setzen wir uns mit ihm auf den Balkon. Er gibt jedem von uns ein Taschenmesser und sagt, wir sollen immer vom Körper wegschnitzen und bloß aufpassen, dass wir uns nicht in den Finger schneiden. Ich bringe eine Art Schwalbe zustande, die anschließend mit Sandpapier glatt geschliffen wird. Paul schnitzt aus einem geeigneten Ast einen Kranich und Papa aus einem Stück Besenstiel einen gekreuzigten Jesus, den Paul und ich komisch finden.


Wo sind denn bei dem Kruzifix die Arme von Jesus?


Die sind unter dem Gewand, sagt Papa.


Toll, Jesus am Stiel.


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