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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

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Aktualisiert: 15. Dez. 2024

Am nächsten Morgen steht Adenauer wie gewöhnlich gegen halb sieben auf und begibt sich ins Badezimmer. Zu den üblichen Prozeduren gehört, dass er sein langes Nachthemd ablegt und auf dem Rand der Badewanne Platz nimmt, die Frau Maiwald am Vorabend zu einem Drittel mit kaltem Wasser gefüllt hat. In dieser hockenden Stellung hebt er abwechselnd für jeweils ein paar Sekunden, die Fußspitzen leicht nach unten gebeugt, seine Beine aus dem Wasser. Wassertreten für Arme. Aber besser wie nix. Früher hieß es Regieren, jetzt Regenerieren.

 

Bis vor kurzem noch ist er morgens wie ein Storch in der Badewanne herumgestakst, und vor nicht allzu langer Zeit pflegte er als erstes in den Garten zu gehen und barfuß auf dem taufeuchten Rasen herumzuspazieren. Und ganz früher, als Student, wenn er nachts für das Referendarexamen büffelte und todmüde über den Büchern saß, zog er manches Mal Schuhe und Strümpfe aus, füllte seine Waschschüssel mit Wasser und stellte sie neben sich auf den Fußboden. Und immer, wenn ihm die Augen zufallen wollten vor Schläfrigkeit, tauchte er schnell die Füße ins kalte Wasser und war sofort wieder wach. Vergangen, vergessen, vorbei.

 

Als das Kältegefühl in den Beinen zunimmt, zieht er den Stöpsel aus der Wanne, dreht sich im Sitzen um neunzig Grad, streift mit den Händen das Wasser ab und tritt vor der Badewanne auf der Stelle, bis sich ein angenehmes Wärmegefühl in seinen Füßen breitmacht. Als wenn sich das Blut in den Gefäßen in Messwein verwandelt hätte. Also eine Art umgekehrte Transsubstantiation.

 

Wenn man sich mal ein bisschen umsieht, stellt sich heraus, dass die Leute, die heute etwas zu sagen haben, die die Welt ein bisschen sicherer machen, Männer zwischen fünfundsiebzig und achtzig sind: Franco, de Gaulle, Salazar. Wir Wundergreise. Auf der anderen Seite zum Beispiel Mao und Ho Chi Minh. Oder Tito. Gehen auch schon auf die achtzig zu. Haben nach allem, was man weiß, das Heft noch fest in der Hand. Das Alter allein sagt nichts über die Leistungsfähigkeit aus. Keiner ist klug vor seinem 80. Lebensjahr. Richtig klug erst mit neunzig.

 

Veranlagung kann es bei mir nicht sein. Vater starb mit dreiundsiebzig, Mutter mit siebzig. Von meinen Geschwistern hat es nur August knapp ins achte Lebensjahrzehnt geschafft. Ist vielleicht eine Frage der Haltung. Den Tod einfach nur verdrängen, das genügt nicht. Man muss innerlich scharf dagegen Stellung beziehen. Ihn regelrecht ablehnen. Die Grundlage dafür ist Selbstdisziplin. Um so mehr, je mehr Verantwortung man trägt. Man muss rechtzeitig anfangen, mit seinen Kräften haushälterisch umzugehen, sie sparsam gebrauchen, damit sie sich immer erneuern können. Es kommt nicht darauf an, vor der Öffentlichkeit den Tugendbold zu spielen. Ein Politiker muss begreifen, dass er auf starke und gesunde Lebenskräfte angewiesen ist. Also muss er seinen Verstand schützen und darf ihn nicht vernebeln oder betäuben.

 

Hab nie verstanden, wie Heuss so ein starker Raucher sein konnte. Dass sie ihm schließlich das linke Bein abnahmen, hat ihn auch nicht mehr retten können. Zu viele Zigarren. Das Rauchen ist eine echte Zivilisationskrankheit. Ich hab nie geraucht. Es gab einen Versuch mit einer nicht eingerauchten Pfeife, da war ich zwölf. Das hat gereicht, ein für alle Mal. Franco hat in seinem Amtssitz das Rauchen komplett untersagt. Eine sehr vernünftige Entscheidung.

 

Genügsamkeit. Mäßigkeit im Essen und Trinken. Dazu ein seelisches Gleichgewicht, austariert durch einen sicheren Glauben. Aber je weiter die Menschheit in ihrer Wissbegier voranschreitet, desto mehr fällt sie leider im Glauben zurück. Woran es außerdem mangelt, ist ein lebendiges Sündenbewusstsein. Dabei müsste den Menschen ihre Sündhaftigkeit eigentlich ständig vor Augen stehen. Wie das monumentale Altarkreuz, das ich mal in Italien gesehen habe. Am Gardasee war das. Der Gekreuzigte, überlebensgroß schwebend über dem Hauptaltar, zu seinen Füßen die zerknirschte Gemeinde. Aus der Verantwortung vor Gott zu leben und zu arbeiten: Das ist etwas ganz anderes, als von irgendeiner ausgeklügelten Idee her zu leben und zu schaffen. Was wird mit dem westlichen Menschen geschehen, wenn er nicht mehr daran denkt, dass er eines Tages Rechenschaft ablegen muss?

 

Aus dem Spiegel starrt ihn das Gesicht eines alten, müden, einsamen Mannes an. Das Gesicht eines buddhistischen Würdenträgers. Das Gesicht eines weisen Führers. Das Gesicht eines Kämpfers, verwegen, entschlossen, mit allen Wassern gewaschen, unerschütterlich. Das Gesicht eines Mannes, der Licht und Schatten durchlebt hat. Das Gesicht eines scharfsinnigen Beobachters. Das Gesicht eines Denkers, grübelnd über dem Undenkbaren. Das Gesicht eines Zuchtmeisters, soldatisch-streng. Das Gesicht, hihihi, eines italienischen Bürgermeisters. Das Gesicht eines Mahners, geisterhaft und gespenstisch. Das Gesicht eines Verwaltungsdirektors. Mondgesicht. Drachengesicht. Fuchsgesicht. Mongolengesicht.

 

Er lässt das Waschbecken mit eiskaltem Wasser volllaufen, taucht abwechselnd die Arme in die erfrischende Kälte, reibt sie kräftig mit dem Waschlappen, um den Blutkreislauf anzuregen, wäscht die Achselhöhlen, den Hals und den Nacken und trocknet sich ab. Zum Schluss schüttet er sich ein paar Tropfen Eau de Cologne in die Hand und verteilt den Duft, der ihn an lange zurückliegende Spaziergänge in italienischen Orangen- und Zitronenhainen erinnert, in seinem Gesicht. Dann zieht er den blassgrünen Bademantel über, schlüpft in seine Pantoffeln und geht hinüber ins Arbeitszimmer, von wo aus er Frau Maiwald telefonisch Bescheid gibt. Die Zeit, bis sie ihn mit einer Tasse starkem Kaffee, zwei Scheiben angewärmtem Zwieback und dem „General-Anzeiger“ versorgt, verbringt er mit geschlossenen Augen im Biedermeiersessel. Eine Stunde später kommt er frisch rasiert herunter, kleidet sich an und nimmt ein zweites Frühstück ein, das aus Zwieback mit Butter und Honig und einem Kännchen Kräutertee besteht. Sachlichkeit und Nüchternheit, auch bei der Morgenmahlzeit.

 

Pünktlich um neun tappt er bedächtig die 54 Natursteinstufen zur Straße hinunter und nimmt freundlich die Meldung des Personenschützers entgegen, der vor dem kleinen Häuschen der Sonderwache postiert ist. Während er auf seine ehemalige Dienstlimousine zusteuert (nach dem Rücktritt bei Kilometerstand 43 000 günstig für keine 3000 Mark aus dem Wagenpark des Kanzleramts erstanden), wirft er einen kritisch messenden Blick auf die Position des rechten Hinterrads. Zufrieden nimmt er zur Kenntnis, dass es wie eh und je mittig auf dem Gullydeckel steht.

 

„Guten Morgen, Herr Bundeskanzler“ sagt Scharoun, der neben dem Wagen auf ihn gewartet hat, und öffnet mit einer leichten Verbeugung die Fondtür.

 

„Guten Morgen, Herr Scharoun“, erwidert Adenauer. Nachdem er eingestiegen ist, legt Scharoun ihm auf seine achtsame Art die braune Wolldecke mit den Initialen K. A. über die Knie und hakt den Sicherheitsgurt ein.

 

„Heute geht es nach Bonn in die Poststraße“, sagt Adenauer geheimnisvoll. „Ich will etwas einkaufen. Aber fahren sie ruhig die alte Strecke.“

 

„Jawohl, Herr Bundeskanzler“, sagt Scharoun und schließt die Beifahrertür.

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