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- Jan-Christoph Hauschild

- 13. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
An sämtliche Einzelheiten seiner Rückkehr ins Hotel konnte sich Alexander nachher nicht mehr erinnern. Sein Gedächtnis setzte erst wieder in dem Moment ein, als er minutenlang unter der heißen Dusche stand. Bruchstückhaft konnte er sich vergegenwärtigen, dass er im Regen zur Tram-Haltestelle gewankt, ohne Fahrschein zurück in die Stadt gefahren, aus Versehen zu früh ausgestiegen und dann minutenlang herumgeirrt war, ehe er ein Taxi anhalten konnte.
Er hatte große Lust, sich zu betrinken, aber er wusste, dass Kim und seine Schwiegermutter auf seinen Anruf warteten, und deshalb beschränkte er sich auf das Angebot in der Mini-Bar. Mit dem kleinen Whisky fing er an. Danach fühlte er sich um einiges besser. Er überlegte, ob er Kim von seinem Beinahe-Unfall erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Warum sie im Nachhinein beunruhigen? Das machte keinen Sinn. Er öffnete sich ein Bier, legte sich auf die linke Hälfte des Doppelbetts, auf der gestern noch Kim gelegen hatte, schob sich ein zweites Kissen unter den Kopf und tippte in seinem Telefon auf den Kontakt „Hilde Hahneman“. Dann nahm er einen tiefen Schluck.
„Ja, Hahneman?“
„Hilde, hier ist Alexander.“
„Guten Abend, Alexander. Schön, dass Du Dich meldest. Wir hatten schon geglaubt, Du hättest uns vergessen.“
„Aber wie könnte ich meine Lieblings-Schwiegermutter vergessen?“
„Haha, freilich, das fiele Dir sicher schwer.“
„Wie geht’s Dir, Hilde? Alles gut?“
„Danke der Nachfrage. Und wie geht es Dir, ohne Frau an Deiner Seite?“
„Och –“
„Das bist Du doch gar nicht gewöhnt.“
„Stimmt. Ich vermisse sie schon.“
„Dann musst Du ganz schnell herkommen. Aber das wird wohl nicht möglich sein. Oder?“
„Doch. Ich komme morgen.“
„Morgen? Das ist ja bezaubernd. Soll Sheila Dich irgendwo aufsammeln… Ich meine: abholen?“ Hilde Hahneman hielt unbedingt am Taufnamen ihrer Tochter fest.
„Nein, das schaffe ich schon alleine. Aber Du kannst sie mir mal geben.“
„Mit Vergnügen. – Sheila? Dein Göttergatte.“
Den kurzen Moment, bis Kim übernahm, überbrückte Alexander, indem er die Flasche leerte.
„Alex?“
„Sheila, mein Liebling.“
„Lass den Quatsch. Wann kommst du?“
„Morgen nach dem Frühstück mit dem nächsten durchgehenden Zug.“
„Hast Du alles erreicht, was Du wolltest?“
„Ich habe am Nachmittag zufällig einen netten Universitätsmitarbeiter kennengelernt. Wir haben uns für den Abend verabredet, er wollte mir einen alten Bestandskatalog zeigen. Aber dann –“
Alex zögerte einen Moment, ehe er den Satz zu Ende brachte. „Dann haben wir uns verpasst.“
„Wie blöd. Dann bist Du ja ganz umsonst in Straßburg geblieben.“
„Und auf dem Weg wäre ich fast überfahren worden.“
Der Satz war ihm gegen seine Absicht herausgerutscht. Aber Kim hielt es zum Glück nur für eine seiner üblichen Übertreibungen.
„Du machst Sachen. Kaum lässt man Dich mal allein…“
„Das war wohl ein Zeichen. Ich soll die Finger davon lassen.“
„Du glaubst an Zeichen? Alex, wirst Du etwa auf Deine alten Tage noch religiös?“
„Du tust mir Unrecht. Ich versuche lediglich, den Phänomenen Sinn zu geben. Und mein Fazit ist, dass ich seit unserem Ausstellungsbesuch keinen Schritt weitergekommen bin. Wohin ich mich auch wende, überall beiße ich auf Granit. Ich weiß nur, dass das Objekt von 1788 ist und laut Exponat-Beschriftung aus einem Ort namens Waldbach stammt. Ich habe sogar zwei Orte dieses Namens gefunden, aber keiner davon liegt in Frankreich. Aus dieser Sackgasse führt kein Weg heraus.“
Er hatte wohl einigermaßen bekümmert geklungen, denn sofort veränderte sich Kims Tonfall.
„Du wirst doch jetzt nicht schlapp machen… Alex! Reiß Dich zusammen!“
Es war ihre Art, Leute zu ermutigen; sicher ein Erbteil ihrer Mutter, die auch mit 75 Jahren noch ein Muster an Selbstdisziplin darstellte.
„Tut mir leid, aber ich weiß nicht, wo ich ansetzen soll. Es gibt nichts.“
„Doch. Deine Fotos. Deine Fotos von heute Morgen.“
Kim hatte Recht. An die Fotos hatte Alexander gar nicht mehr gedacht. Er hatte sie noch nicht einmal angesehen.
„Die Fotos, ja… Ich habe eins vom Registraturvermerk. Weil ich es auf die Entfernung nicht lesen konnte, habe ich es fotografiert. Auf den ersten Blick sagt es mir nichts.“
„Schick mir das Foto bitte. Die andern vom Skelett will ich gar nicht sehen. Die kannst Du Dir an den Hut stecken. Aber beim Entziffern und Interpretieren leisten Mutter und ich Dir gerne Beistand. Unser Ergebnis werden wir Dir morgen zum Mittagessen präsentieren.“
„Ich glaube kaum, dass ihr etwas herausbekommt.“
„Immer musst Du unken. Schick mir das Foto. Jetzt gleich. Und dann bis morgen. Je t’aime, mon amour!“
„Moi non plus“, knurrte Alexander, was Kim ihrerseits mit „Schuft“ quittierte. Dass er zur Entschuldigung noch das Wort „Zitat!“ hinterherschickte, hörte sie nicht mehr.
Nachdem Alexander Kim das Foto geschickt hatte, öffnete er sich eine zweite Flasche Bier. Während des Telefonats war ihm eingefallen, dass er es versäumt hatte, Angel zu verständigen, der vermutlich um halb neun an der Bushaltestelle vergeblich auf ihn gewartet hatte. Sollte er ihn jetzt noch anrufen? Dass er nicht gekommen war, hatte er ja selbst gemerkt. Allerdings gebot es die Höflichkeit, dass er sich für sein Ausbleiben entschuldigte. Was hatte Angel zum Abschied gesagt? „Rufen Sie mich an, falls etwas schiefgeht.“ Genau das würde er ihm jetzt sagen: Es ist leider etwas schiefgegangen. Er nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und wählte Angels Nummer. Doch statt eines Freizeichens kam die Ansage einer freundlichen Frauenstimme: „Die gewählte Rufnummer ist uns nicht bekannt.“
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