top of page
Suche

14

Die Zeit bis zu dem Treffen mit Pierre Angel vertrieb sich Alexander mit Zeitungslektüre in der legendären Patisserie Naegel in der Rue des Orfèvres, auf halbem Weg zwischen dem Institut und dem Hauptbahnhof. Er bestellte einen großen Kaffee und ein Stück Kuchen mit dem Namen Conversation, was er nach den Erlebnissen dieses Tages für sehr passend hielt. Weil es sich aber als Gebäck aus Blätterteig mit Marzipan- und Baiser-Füllung herausstellte, musste es umgehend mit einem doppelten Calvados und einem weiteren Kaffee neutralisiert werden, und erstmals seit Monaten bereute es Alexander, sich das Rauchen abgewöhnt zu haben.


Ursprünglich hatte er dem Tomi Ungerer-Museum noch einen Besuch abstatten wollen, aber ein Blick nach draußen verriet ihm, dass der Regen wieder eingesetzt hatte. So ging er gleich zum Abendessen über und bestellte einen Salade Niçoise und ein Sandwich, dessen Belag auf der Speisekarte minimalistisch als Rosbif bezeichnet wurde, trank dazu ein Pression und surfte durch das Online-Angebot der amerikanischen Presse.


Dann fiel ihm ein, dass er nach einem Ort namens Waldbach suchen könnte. Er tippte den Namen in die Google-Suchmaske ein, womit er 287.000 Treffer erzielte, wählte die Ergebnisse für Google Maps, bekam jedoch keinen Treffer aus Frankreich angezeigt, sondern nur zwei Gemeinden dieses Namens in Deutschland und Österreich. Um halb acht ließ er sich die Rechnung bringen und machte sich, vom Alkohol beschwingt, auf den Weg zum Bahnhof. Er zog am Automaten eine Fahrkarte, von der er hoffte, dass sie dem geforderten Tarif entsprach, und begab sich zum Bahnsteig. In kurzen Abständen fuhren Trams verschiedener Linien vorüber, die mit ihren großen, gewölbten Frontscheiben futuristisch anmuteten.


Erst als er in die Bahn der Linie C eingestiegen war, fiel ihm ein, Kims Beispiel zu folgen und im Internet nach Berichten über Croqué zu suchen. Sie hatte nicht übertrieben. Es handelte sich offenbar um einen handfesten Wissenschaftsskandal, der von zahlreichen Blättern aufgegriffen worden war. Mehrfach fiel der Name, den Croqué erwähnt hatte: Jos van Drongelen, Direktor des Archäologischen Instituts der Rijksuniversiteit Groningen. Der „Figaro“ zitierte aus seinem Artikel in der holländischen Tageszeitung „De Telegraaf“, in dem er Croqué von Schlampigkeit bis zur bewussten Täuschung alle nur erdenklichen Fahrlässigkeiten vorgeworfen hatte. Kein Wunder, dass Croqué auf van Drongelen nicht gut zu sprechen war.


Manche Zeitungen verbanden ihre Enthüllungen mit pikantem Promi-Klatsch. So fand es der „Nouvel Observateur“ erwähnenswert, dass Croqué in der Regel maßgeschneiderte Anzüge trug, gelegentlich aber auch in kariertem Holzfällerhemd und Flecktarnhose agierte und in seinem Büro neben einem Safe für wertvolle Präparate einen Humidor für seine Zigarren aufstellen ließ. Bei seiner Armbanduhr waren sich die Journalisten nicht sicher, ob es sich um eine Pilotenuhr der Firma Breitling handelte, wie „Le Monde“ schrieb, oder doch eine Rolex, wofür der „Figaro“ plädierte.


Erst als das Licht in der Tram ausging, bemerkte Alexander, dass niemand mehr außer ihm im Wagen war und dies die Endstation sein musste. Er stieg aus, überquerte einen Kiesweg und ein Stück nassen Rasen, folgte dem Schild SORTIE und stapfte schwerfällig eine lange Treppe hinauf. Er hätte es doch bei einem einfachen Calvados belassen sollen, dachte er. Bevor er den Schutz der Überdachung verließ, suchte er sich zu orientieren, aber der Regen dämpfte den Schein der gelben Straßenlaterne, und mehr als der Verlauf der Landstraße war nicht zu erkennen. Er schlug den Mantelkragen hoch, zog den Kopf ein und ging, die Hände in den Taschen, die Straße entlang, hart am Randstreifen, dort wo dieser in Rollsplitt überging. Die Straße war von unzähligen kleinen Rinnsalen überschwemmt, die sich gurgelnd neben ihm in einem Graben verliefen.


In breiten, in das Licht seiner Scheinwerfer getauchten Wasserwirbeln überholte ihn ein Auto, dessen Motorgeräusch sich rasch verlor. Er näherte sich dem Beginn der Kurve, und durch den Regenschleier hindurch sah er auch das kleine Haltestellenhäuschen, wo Pierre Angel ihn abholen wollte.


Das Auto, das mitten auf ihn zufuhr, sah er erst im allerletzten Moment. Offenbar hatte der Fahrer die Orientierung verloren und war zu weit nach rechts geraten. Nur mit einem Riesensatz konnte sich Alexander retten. Er stürzte die Böschung hinunter und landete auf den Knien im Straßengraben, die Hände weit vor sich ausgestreckt. Von oben war noch das Knirschen von Reifen auf dem Rollsplitt zu hören, dann ein schwächer werdendes Fahrgeräusch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Wagen ohne Beleuchtung unterwegs gewesen war.


Er wollte sich aufrichten, aber seine Beine gaben nach, und er stürzte erneut in den nassen Graben. Sein Herz schlug heftig, er atmete keuchend, und dann musste er sich plötzlich übergeben.

 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
18

Sie trafen sich am nächsten Tag um viertel nach Elf auf dem Bahnhof; die Wartezeit verbrachten sie gegenüber in der Filiale einer...

 
 
 
17

„Eine Inventarnummer“, fuhr Hilde mit geschlossenen Augen fort, „wird doch wohl vergeben, wenn eine Sache ins Inventar aufgenommen wird....

 
 
 
16

Alexanders Anruf hatte Mutter und Tochter Hahneman mitten in einer angeregten Unterhaltung erreicht, die sie anschließend nicht...

 
 
 

Kommentare


bottom of page