top of page
AutorenbildJan-Christoph Hauschild

14

Zwei Rabenkrähen lassen sich vor dem Fenster von Adenauers Gartenpavillon nieder, legen schwerfällig ihre Flügel an, stolzieren aufmerksam auf dem Rasen herum. Wunderliche Tiere. Ich beobachte sie schon lange. Sie haben ihre Nester oben im Wald. Bestimmt haben sie mich an meinem Schreibtisch bemerkt. Aber sie sind meine Gegenwart gewohnt. Respekt auf beiden Seiten. Sogar diese Nachfahren der Dinosaurier sind mit den elementaren Umgangsformen vertraut. Früher wär ich aufgestanden und hätte sie verscheucht. Aber seit ich sie ein bisschen kennengelernt habe, sind sie mir sympathisch geworden. Verglichen mit ihnen sind die anderen Vögel geradezu langweilig. Viel besser als ihr Ruf. Schlau und geduldig. Deshalb geht ihnen auch nie die Nahrung aus. Wie geschmeidig sie sind, und wie sie glänzen. Rundum feierliches, würdevolles Schwarz, sogar an den Krallen und an den Augen. Und wie sie fliegen. Zwei drei Hüpfer reichen für den Anlauf. Dann noch eine kräftige Anstrengung, und schon schwingen sie sich in die Luft. Fliegen muss ein herrliches Gefühl sein. Würde ich gern können. Nicht zu hoch, nicht zu tief, bloß den Berghang runter und wieder rauf. Im Traum habe ich es manchmal erlebt.

 

Leider Gottes mangelt es Kiesinger an der notwendigen Entschlossenheit bei der Durchsetzung der europäischen Interessen. Dabei schreit die Lage regelrecht danach, dass die Politik kräftiger und energischer geführt wird. Hab seine Wahl zum Bundeskanzler nicht veranlasst. Als Kanzler ist dieser Mann ein Weichkäse. Und wir wissen doch: „Weil du aber lau bist, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Am Lauen findet Gott keinen Gefallen. Im Duett mit Brandt ist er auf dem besten Weg, die Zick-Zack-Politik der Vorgängerregierung fortzuführen. Wie konnte er jemanden zum Außenminister machen, der sich als junger Mann nicht scheute, seine Volks- und Staatsangehörigkeit persönlicher Vorteile wegen zu verleugnen? Wird mittlerweile sogar als Kanzlerkandidat der SPD gehandelt. Wo doch bekannt ist, dass er und seine Freunde auf eine Anerkennung der DDR und eine freiere Politik mit den Russen lossteuern. Also auf den Untergang. Aber daran sieht man wieder einmal die ganze Dummheit des deutschen Volkes. Zeichen politischer Unreife. Trägt wesentlich zum Ruin eines Staates bei. Wir haben‘s erlebt.

 

Überall eine große Unsicherheit, und das einzig Gute an der Sache ist nur, dass Erhard endlich weg ist. Ein Phlegmatiker, wie er im Buche steht; die fleischgewordene Behäbigkeit, Gleichgültigkeit und Schwerfälligkeit. Ein Traumtänzer, der von Außenpolitik nichts versteht. Aber auch nichts hinzulernte, weshalb wir jetzt vor einem großen Scherbenhaufen stehen. Sein Beharrungsvermögen, das dicken Menschen naturgemäß eigen ist, wurde irrtümlich für Standfestigkeit gehalten. Hat durch seine Schwäche und Trägheit, dreist als Zuversicht getarnt, schreckliches Unheil über Deutschland gebracht. Trotzdem wurden ihm beim Abgang Lobeshymnen gesungen. Derlei Mitleidsgefühle sind ausgeblieben, als man mich seinerzeit aus dem Amt gedrängt hat.

 

Je mehr sein Gedächtnis an unguten Nachklängen zutage fördert, desto mehr nimmt gallenbitterer Groll von ihm Besitz. Erinnerungen an empfangene Seligkeiten und erlittene Schmerzen, rasch schwinden sie dahin. Nicht so die an eine Demütigung. Sobald man sich die Schmach ins Gedächtnis ruft, steht sie einem, wie auf ein Fingerschnipsen, sofort wieder vor Augen, nackt und blutig. Alles vergeht? Nichts vergeht.

 

Er starrt auf das eng beschriebene Blatt Papier vor sich. Was nutzt der genaue Blick zurück, wenn heute wieder alles ruiniert wird, was damals mühsam aufgebaut worden ist. Seltsames Paradox: Klar und hell erscheint nur die Vergangenheit, die Gegenwart bleibt nebulös. Und die Zukunft? Ein Buch mit sieben Siegeln.

 

Stunden später, beim Schlafengehen, kehren seine Gedanken wieder zu de Gaulle zurück. In Bonn, bei ihrem letzten Treffen vor seinem Rücktritt, hat ihm der General einige Nettigkeiten gesagt. Zum Beispiel, dass er immer der Staatsmann Adenauer bleiben werde. In Europa und USA wisse jedermann, dass umfassende Verhandlungen mit Deutschland nicht geführt werden könnten, ohne dass er, sei es in seiner bisherigen Funktion als Bundeskanzler, sei es als Privatmann, zustimme. Soll ich das im Buch erwähnen? Ich darf doch nicht strunzen.

 

Obwohl er eine Tablette genommen hat, wacht er um halb drei auf. Immer noch rumort de Gaulles Kompliment in seinem Bewusstsein. Satz für Satz versucht er, sich zurück in den Schlaf zu arbeiten. Die Formulierungsansätze wiederholen sich so oft in seinem Kopf, dass sie zu einem Geräusch werden.

 

De Gaulle bemerkte, eins wisse man in Europa sehr genau: Ohne dass ich, ob als Bundeskanzler oder nur als Herr Adenauer Auch Präsident Johnson wisse, dass ohne mich kein wirkliches Verhandeln Verhandeln mit langfristigen Folgen sei ohne mich Ohne meine Zustimmung, ob ich nun Bundeskanzler sei oder nur Herr Adenauer, seien grundlegende Verhandlungen General de Gaulle Präsident Johnson Herr Adenauer

 

In dieser Nacht träumt er von einer Beerdigung, deren Zeuge er, wieder einmal, ist. Wie es sich gehört, steht er in der ersten Reihe der Trauergäste am Grab.

 

„Warum schon wieder“, fragt er den Trauergast neben sich, der das Gesicht von Stresemann hat, von dem er aber genau weiß, dass es nicht Stresemann sein kann, denn Stresemann, so erklärt es ihm sein Traumbewusstsein, ist evangelisch.

 

„Weil es ihre verdammte Pflicht ist“, bescheidet ihn der Nicht-Stresemann.

 

„Aber ich war schon so viele Male Zeuge!“

 

„Die vielen Male zählen nicht“, lautet die Antwort.

 

„Dies ist aber wirklich das letzte Mal“, ruft der träumende Adenauer über die Köpfe der Trauergemeinde hinweg, „jetzt ist endgültig genug!“

 

„Pscht!“ mahnt Erhard neben ihm, dessen Gesicht in eine Tabakwolke eingebettet ist, die beim Einatmen einen brennenden Schmerz in ihm auslöst.

 

Die Traueransprache wird vom Bundespräsidenten gehalten. Er sieht aus wie Lübke und spricht wie Lübke. Echt-Lübke konzentriert sich auf die Fähigkeiten des Verstorbenen als Politiker, erinnert an seine Energie und Originalität, die die Zusammenarbeit mit ihm zu einem Vergnügen werden ließen. Doch es fällt kein Name. „Sein Leben und Werk“, lispelt Echt-Lübke in seinem sauerländischen Idiom, „waren gebaut auf Grundsätzen, die tief in seiner Überzeugung und Verantwortungsbereitschaft verankert waren. Einmal als richtig erkannte Ziele verfolgte er mit Beharrlichkeit und nüchternem Sinn für das Mögliche.“

 

Von wem spricht Lübke? Seine Lebensdevise, die zugleich seinen Glauben am besten beschreibe, habe gelautet: Gott und den Menschen dienen. „Er verfügte über entwaffnenden Humor, Schlagfertigkeit und Gelassenheit; Eigenschaften, die ihm halfen, die schwierigsten Situationen zu meistern.“

 

Himmelherrgott, wer ist dieser Er? Oder weiß Lübke es am Ende selbst nicht, nicht mehr? Hat der Kerl vergessen, an wessen Grab er steht? Hält er seine Ansprache etwa frei, ohne Manuskript? Warum begibt er sich ohne Not in solch eine gefährliche Situation?

 

„Stets hat er sich als Teil der Gemeinschaft begriffen“, fährt Echt-Lübke fort, erstaunlicherweise ohne sich zu verhaspeln, „das beweist auch sein Engagement als Vorsitzender des Katholischen Bürgervereins und des Ortsvereins seiner Heimatstadt. Darüber hinaus ist er Gründungsmitglied des Rotary Clubs in Köln und Förderer des Deutschen Werkbunds gewesen und hat auch hier Weitblick und Gespür für eine sich anbahnende Entwicklung bewiesen.“

 

Im Kölner Rotary Club bin ich auch, denkt der träumende Adenauer. Und gleichfalls Mitglied im Deutschen Werkbund. Bestimmt kenne ich den Verstorbenen. Dann steht auch schon der Geistliche am Grab, dem Gewand nach ein Kardinal, um den in den Schoß der Erde gesenkten Sarg mit Weihwasser zu segnen und mit Weihrauch zu inzensieren. Das ist bestimmt Frings, denkt der träumende Adenauer, ich könnte die Gelegenheit nutzen und ihn fragen, wann ich endlich mit der Genehmigung für meine Kapelle rechnen kann, aber weil Fragezeichen-Frings mit dem Rücken zu ihm steht, kann er nicht erkennen, ob es wirklich Frings ist. Noch während der mutmaßliche Frings den Mariengruß murmelt, erhält der trauernde Adenauer von hinten einen schmerzhaften Rippenstoß. Er begreift, dass er jetzt an der Reihe ist. Gehorsam tritt er nach vorn, greift eine der Schaufeln, die in dem großen Erdhaufen neben dem Grab steckten, nimmt ein wenig Erde auf, verharrt kurz in Gedanken und lässt das Häufchen mit einer kurzen Bewegung ins Grab rutschen. Daraufhin wird von allen Seiten applaudiert, Blitzlichter zucken und Blumensträuße fliegen durch die Luft, die in kurzer Zeit einen Hügel über dem Grab bilden. Ein dreirädriges Fahrzeug knattert vorbei, auf dessen Dach ein großer Lautsprecher montiert ist. Lautes Knacken und Knistern, dann ein Räuspern und eine Stimme mit französischem Akzent: „Die Europa-Union nimmt Abschied von dem Privatmann Dr. Konrad Adenauer.“

2 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

16

Seit seinem Autounfall vor gut fünfzig Jahren ist es Adenauer nie mehr gelungen, fremder Fahrkunst zu vollen hundert Prozent zu...

15

15 Am nächsten Morgen steht Adenauer wie gewöhnlich gegen halb sieben auf und begibt sich ins Badezimmer. Zu den üblichen Prozeduren...

13

Als er fertiggegessen hat, geht er hinüber in den Pavillon, seine in den Garten gebaute Arbeitsklause mit der entzückenden Anmutung eines...

Comments


bottom of page