Am Sonntag können wir Mama im Krankenhaus besuchen. Es ist ein großes dunkles Haus mit Gittern vor den Fenstern. Wir gehen rein, unten fragt Papa den Pförtner nach der Zimmernummer, dann gehen wir eine Treppe hoch und stehen in einem Flur. Wir suchen Zimmer 113, aber wir finden es erst nicht, weil alle Türen offenstehen und wir deshalb die Zimmernummern nicht lesen können, und als wir es gefunden haben, werden da gerade die Betten gemacht und wir müssen einen Augenblick warten. Das Zimmer ist groß und hell, und es stehen zwei Betten drin. In dem einen Bett liegt eine Frau mit einem Baby im Arm, und in dem anderen liegt Mama. Papa schiebt uns vor sich her und sagt zu Mama, Hier sind deine Kinder, und seine Stimme klingt fast ein bisschen ärgerlich. Mama guckt uns an und lächelt, aber sie richtet sich nicht auf, sondern bleibt still liegen und wir beugen uns zu ihr und umarmen sie, und sie weint, ohne ein Wort zu sagen.
Nach einer Woche darf Mama wieder nach Hause, und wir holen sie alle drei ab. Mama will nicht Auto fahren, und deshalb gehen wir zu Fuß, den ganzen Weg, und ich bin so froh, dass Mama wieder zuhause ist.
Ganz bald danach kommen Onkel Helmut, Tante Ingrid und Philipp aus Hamburg zu Besuch. Paul ist im Schwimmbad, und als das Taxi auf den Hof fährt, gehen Papa und ich ihnen entgegen. Philipp steigt als erster aus, breitet die Arme weit aus, als wenn er uns einfangen will, hüpft von einem Bein auf das andere, grinst und schreit Hier kommt die kleine Nervensäge! Hier kommt die kleine Nervensäge! Denn er weiß, dass wir ihn so nennen. Als Tante Ingrid ihm den Kinderwagengurt überstreift, damit sie ihn bequem zu fassen kriegen kann, wehrt er sich kein bisschen, obwohl er nur zwei Jahre jünger ist als ich.
Onkel Helmut packt seine Filmkamera aus, die er in einer Tasche über der Schulter trägt, geht über den Hof und filmt den Ochsen von allen Seiten. Tante Ingrid fragt, wo Mama denn ist. Papa sagt, dass sie eben noch da gewesen ist. Tante Ingrid meint, sie kann sie ja mal suchen gehen, nimmt Philipp an die eine und mich an die andere Hand und lässt sich von mir in unsere Wohnung führen. Im Kinderzimmer muss ich ihr meine Spielsachen zeigen, und als Philipp meine Lego-Garage mit dem roten Mercedes sieht, holt er ein kleines Auto aus seiner Hosentasche und sagt, das ist ein Ferrari, der hat mehr PS als ein Mercedes. Wir versuchen, den Ferrari auf einem Lineal in meine Lego-Garage fahren zu lassen, und Tante Ingrid geht von einem Zimmer zum andern und ruft Mamas Namen.
Dann hat Philipp Durst und möchte eine Limonade trinken. Unten stehen Tante Ingrid und Onkel Helmut in der Tür und sprechen über Mama. Wir gehen zu Tante Karola und lassen uns jeder eine Sinalco geben und gehen nach draußen, wo Tante Ingrid und Papa jetzt im Gastgarten sitzen und rauchen. Tante Ingrid untersucht Papas Arbeitsjacke und sagt, an der Jacke fehlt ein Knopf, und Onkel Helmut filmt sie dabei.
Am letzten Schultag vor den Herbstferien haben wir nur zwei Stunden. Zuerst liest uns Herr Reng eine Geschichte aus dem Lesebuch vor. Sie handelt von der Kartoffelernte. Das trockne Kartoffelkraut wird angezündet und in der heißen Asche werden Kartoffeln gebraten.
Das ist eine köstliche Mahlzeit. Inge hat schwarze Lippen bekommen. Es ist Abend geworden. Überall brennen jetzt die Kartoffelfeuer. Der Rauch zieht über die Äcker und verliert sich in der dämmernden Ferne.
Zu der Geschichte malen wir ein Bild. Danach wird gesungen, und dann teilt Herr Reng die Zeugnisse aus. Wir Erstklässler kriegen jeder ein kleines Heft mit dem Wappen von Baden-Württemberg vorne drauf. Auf der zweiten Seite steht geschrieben, dass meine Leistungen mit der Note Sehr gut zusammengefasst wurden. Für Mitarbeit und Betragen gibt es Extranoten. In Mitarbeit habe ich auch Sehr gut, in Betragen nur Gut, bestimmt bloß wegen dem zerrissenen Kleid von Gabi Leisinger.
Ich komme fast gleichzeitig mit Paul nach Hause. Wir gehen mit unseren Ranzen an den Stammtisch in der Gaststube und holen unsere Zeugnisse raus, um sie Mama zu zeigen. In meinem Heft blättert sie nur kurz, lächelt und streicht mir über den Kopf. Paul hat vom Gymnasium ein schönes weißes Blatt mitgebracht, wo alle Fächer aufgeführt sind, aber Mama schüttelt den Kopf, weil er in Mathematik und Englisch Mangelhaft bekommen hat, und in Religion, Kunst und Musik nur Ausreichend.
Aber in Leibesübungen Sehr gut, sagt Paul stolz, weil er so ziemlich der beste Schwimmer von der ganzen Schule ist, aber statt dass Mama ihm auch über den Kopf streicht, kriegt er eine von ihr geklebt.
In deiner neuen Schule musst du dich tüchtig anstrengen, Bürschlein. Sonst bleibst du nämlich Ostern sitzen. Vielleicht wäre es sogar besser, du fängst die Quinta noch einmal von vorne an.
Wieso neue Schule, will ich wissen und hüpfe ein bisschen um den Tisch herum.
Lass das, du unruhiger Geist, sagt Mama und hält mich am Arm fest.
Weil wir umziehen, sagt Paul. Wir ziehen nach Speyer.
Warum denn? Ich finde es aber schön in Vögisheim.
Weil die Gaststätte zu viel Arbeit macht, sagt Mama. Jetzt kommt bald der Winter, dann muss jeden Tag geheizt werden, und das kostet viel Geld. Außerdem hat Papa Migräne, weil er das Klima nicht verträgt. Und Paul kommt in der Schule nicht mit, weil ich keine Zeit für ihn habe. In Speyer läuft alles geregelter.
Ein paar Tage später kommt ein Umzugswagen auf den Hof gefahren und die drei Möbelpacker laden alles ein, was wir mit nach Speyer nehmen. Zum Schluss kommt Pauls Fahrrad dran. Als ich auf Mamas Fahrrad zeige, das sie vergessen haben, sagt Papa, das bleibt hier bei Tante Karola.