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Nach dem Mittagessen rief Alexander Kim an. Sie war gerade am Bahnhof von Clamart angekommen und nun auf dem Weg zu ihrer Mutter.


„Alex. Was gibt’s Neues? Hast Du mit dem Institutschef gesprochen?“


„Mit Professor Croqué? Ja, er hat mich beim Fotografieren erwischt. Dann haben wir uns einigermaßen freundlich unterhalten, und kurz danach kamen schon die Möbelpacker und haben das Skelett weggebracht.“


„Aber die Fotos hast du?“


„Er hat mich fotografieren lassen.“


„Das wundert mich.“


„Wieso?“


„Hast Du Dich inzwischen mal über den Herrn kundig gemacht?“


„Ich hatte noch keine Gelegenheit. Dass er ein Angeber ist, habe ich auch so gemerkt.“


„Im Netz findet man einige kritische Zeitungsartikel über ihn.“


„Ja, er deutete so etwas an. Er hat mich auch direkt gefragt, ob ich mit seinem Hauptfeind in Verbindung stehe.“


„Van Drongelen?“


„Das war der Name. Aber er machte auch Andeutungen über irgendwelche Hintermänner. Was wieder zu der Schmutzkampagne passt, von der sein Assistent gestern sprach.“


„Van Drongelen macht ihn laut ‚Le Monde‘ für absurde Fehler bei der Altersbestimmung von menschlichen Überresten verantwortlich. Anscheinend hat er im Labor einfach nur phantasiert.“


„Das ist ja wohl ein richtiger Halunke. Aber mich wundert es nicht. Ich habe viele solcher Existenzen wie diesen Croqué kennengelernt. Du musst nur hoch genug bluffen, dann stehen dir alle Türen offen und du fällst alle Treppen hinauf.“


„Erstaunlich, dass er in dieser Situation eine Ausstellung kuratiert.“


„Gar nicht erstaunlich. Wenn die Vorwürfe stimmen, hat er die Ausstellung vermutlich gemacht, um davon abzulenken.“


„Nicht zu fassen, dass so eine dubiose Figur ungehindert weiter agieren darf.“


„Wer gute Verbindungen hat, wird nicht so leicht fallen gelassen. Das ist –“


„Alex, ich bin da“, fiel ihm Kim ins Wort. „Lass uns heute Abend wieder telefonieren. Aber ruf Du bitte an und sprich selbst mit Mutter. Du weißt, es bedeutet ihr viel.“

  

Etwas später wurde Alexander erneut im Sekretariat des Anthropologischen Instituts vorstellig. Er rechnete nicht damit, Croqué dort anzutreffen. Aber vielleicht konnte er seinen Assistenten überreden, jetzt, wo er DOMINIQUE sogar im Beisein des allmächtigen Institutschefs hatte fotografieren dürfen, nähere Informationen preiszugeben, ihm vielleicht einen alten Katalog mit der Erstverzeichnung zur Einsicht zu überlassen.


Aus der Tatsache, dass die Institutssekretärin ihn auf Anhieb wiedererkannte, konnte er allerdings keinen Vorteil ziehen. Im Gegenteil zeigte sie ihm deutlich, wie ungelegen sein Besuch kam. Sie war gerade dabei, aus den großen braunen Metallschränken, die nebeneinander an einer Wand standen, Aktenordner herauszusuchen und unterbrach ihre Tätigkeit nicht, während sie verkündete, dass weder Professor Croqué noch Dr. Bouchon im Haus seien und er sich wegen eines Gesprächstermins telefonisch an das Institut wenden solle, um ihm künftig vergebliche Gänge wie diesen zu ersparen. Anschließend wandte sie ihm den Rücken zu und widmete sich wieder den Aktenordnern.


In der Caféteria zog sich Alexander am Automaten einen Kaffee und setzte sich an einen leeren Tisch. An den Fenstertischen saßen junge Leute vor ihren Getränkebechern und plauderten miteinander, bevor sie wieder in ihre Seminare zurückkehrten. Sie schienen entspannt und vergnügt, und Alexander beneidete sie dafür. Die Sonne warf kleine Flecken durch die große Scheibe, und auf der glänzenden Tischplatte zeichneten sich die Umrisse einiger Platanenblätter ab.


Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich ein schlanker, gutaussehender Mann vor ihm, dem trotz seines Jungengesichts anzusehen war, dass er nicht zu den Studierenden gehörte. Er trug eine graue Hose und einen etwas blasseren Kaschmirpullover und schien viel Zeit im Freien oder unter der Höhensonne zu verbringen. Sein dichtes blondes Haar war knapp über dem Kopf zu einem Zopf zusammengebunden.


„Entschuldigung, darf ich mich zu Ihnen setzen?“


„Bitte“, sagte Alexander und erhob sich. „Ich wollte sowieso gerade gehen.“


„Ich wollte Sie nicht vertreiben, Professor Fairchild.“


„Sie kennen mich?“ fragte Alexander verwundert und setzte sich wieder hin. „Arbeiten Sie auch am Institut?“


Der Mann ließ die Stuhllehne, die er bis dahin fest umklammert hatte, los und reichte Alexander auf geschmeidige Weise die Hand.


„Ich bin Pierre Angel.“ Er zog den Stuhl zu sich heran und setzte sich Alexander gegenüber. „Ich bin der hiesige Kommunikationsbeauftragte.“


„Aha. Also kein Mitarbeiter von Monsieur Croqué.“


„Oh, sagen Sie niemals Monsieur Croqué. Wo er sich so viel Mühe mit seinen Titeln gemacht hat. Sagen Sie immer Professor Croqué. Er verzeiht es nicht, bloß als Monsieur Croqué angesprochen zu werden. Als Amerikaner wissen Sie vermutlich nicht, dass croque-monsieur etwas zu essen ist.“


„Doch, jetzt wo Sie es sagen.“ Alexander nahm einen letzten Schluck Kaffee. „Also gut, Monsieur Angel“, sagte er dann. „Verraten Sie mir bitte, wie Sie meinen derzeitigen Status an ihrem Institut einschätzen.“


„Ihr Auftreten hat für einen beträchtlichen Wirbel gesorgt. Man nimmt an – ob zu Recht oder zu Unrecht, muss ich dahingestellt lassen – dass Sie gekommen sind, um mit ihrem ganzen Renommee als amerikanischer Fachgelehrter Croqué quasi den Todesstoß zu versetzen.“


„Und womit, bitteschön?“


„Indem Sie von Ihrem erhabenen wissenschaftlichen Standpunkt aus die Korrektheit seiner Expertisen in Zweifel ziehen.“


Alexander legte die Hände auf der Tischplatte übereinander und sah Angel starr in die Augen. Sie waren von einem milchigen Blau, als wären Himmel und Wolken darin zusammengeflossen.


„Nichts liegt mir ferner. Ich bin als Tourist zusammen mit meiner Frau ganz zufällig in die Ausstellung gekommen. Vorher waren wir zwei Wochen wandern in den Vogesen. Am Samstag kamen wir nach Straßburg, wo uns gleich das wunderbare Ausstellungsplakat ins Auge fiel, und gestern waren wir drin. Das ist die ganze Wahrheit.“


„Und doch haben Sie mit Kennerblick sofort ein falsches Tagging erkannt.“


„Tagging? Meine Generation nennt es Deskription. Aber egal. Sagen wir mal, ich wurde stutzig und meldete Zweifel an. Ich habe wirklich nicht vor, mich in irgendwelche Auseinandersetzungen einzumischen. Ich habe Interesse an einem einzigen Objekt, an DOMINIQUE, wie ihr Kollege Bouchon es zu nennen pflegt. Sie wissen, was ich meine.“


„Allerdings.“


„Was ich zuallererst gern hätte, wäre die Beschreibung im Bestandskatalog.“


„Nichts leichter als das. In der Institutsbibliothek gibt es Bestandskataloge aus drei Jahrhunderten, ungefähr ein Dutzend.“


„Mir geht es um die Erstverzeichnung.“

„DOMINIQUE ist von 1788, also kommt der große Katalog von 1803 in Frage, vielleicht auch ein älterer. Das werden Sie dann selbst feststellen.“


„Wo kann ich die Kataloge einsehen?“


„Im Magazin des Instituts. Das sich aber nicht hier auf dem Campus befindet, sondern in einem Gebäude am Rheinhafen. Zufällig verfüge ich über einen der drei Schlüssel. Wenn Sie wollen, können Sie schon heute Abend ihren Wissensdurst stillen. Und zwar ganz ungestört. Ich weiß nämlich aus zuverlässiger Quelle, dass Croqué und Bouchon um Acht mit zwei Gästen aus Taiwan zum Abendessen im Rebstock verabredet sind. Kennen Sie sich in Straßburg aus?“


„Nicht besser als jeder andere Tourist.“


„Es ist ganz einfach. Nach Neuhof fährt die Tram C von der Gare Centrale. Sie nehmen die Bahn um 20:05 Uhr. Dann sind Sie um 20:32 in Neuhof. Sie fahren bis zur Endstation, Allée Reuss. Die Haltestelle liegt unterhalb der Straße. Sie gehen die Treppen hoch und halten sich links. Nach etwa 200 Metern macht die Straße eine Kurve. Dahinter befindet sich eine Bushaltestelle. Dort werde ich Sie mit dem Auto abholen. Einverstanden?“


Alexander nickte.


„Für alle Fälle schreibe ich Ihnen noch meine Mobilnummer auf.“


Aus seinen Hosentaschen förderte Angel einen zerknüllten Kassenbon zutage, strich ihn glatt, notierte darauf ein paar Ziffern und schob ihn zu Alexander, der die Nummer seinen Kontakten hinzufügte.


„Wenn etwas schiefgeht, rufen Sie mich an.“

 
 
 

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