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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

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Als er fertiggegessen hat, geht er hinüber in den Pavillon, seine in den Garten gebaute Arbeitsklause mit der entzückenden Anmutung eines asiatischen Teehäuschens. Hier ist er angenehm weit entfernt von den Menschen im Haus und ihren Geräuschen: Zimmertüren, die zugeschlagen, Möbeln, die gerückt, Staubsaugern und Besen, die bewegt werden; dem Klappern von Geschirr, dem Knarren von Dielen und dem Schmatzen des nassen Wischlappens, wenn er auf den Boden trifft. Derartige Störungen sind hier nicht zu befürchten. Es gibt nicht einmal einen Telefonanschluss, nur eine Sprechanlage, die ihn mit dem Wohnhaus verbindet, damit er sich aus der Küche Tee oder Kaffee bringen lassen kann. Der achteckige Grundriss („Johnson hat sein Oval Office, ich hab mein Oktogon“) und die großen Fenster mit der ungehinderten Sicht, über den Turm von Mariä Heimsuchung und das Rheintal bis zu den Basaltkuppen der Hocheifel, sorgen für eine stille Harmonie, eine angenehme geistige Abgeklärtheit.

 

Seine Konzentrationsfähigkeit erhöht es nicht unbedingt. Um sich zur Arbeit zu zwingen, verschiebt er manchmal den Armsessel auf die Fensterseite, von wo aus er dann auf die umlaufende Regalwand blickt. Sie ist überwiegend mit Geschichtswerken bestückt. Breite Bücherrücken, manche mit goldgeprägten Ledereinbänden, andere in billigen Taschenbuchausgaben, schiefgelesen: Politische Publizistik, Epochendarstellungen, Biographien und Autobiographien, Reden und Briefwechsel.


Zwischen der Festschrift zur Siebenhundertjahrfeier des Kölner Dombaus und dem „Einmaleins des Guten Tons“, ein wenig nach hinten gerückt, sein heimliches Lieblingsbuch: „Schon gewusst?“ Hinter dem bescheidenen Titel verbirgt sich ein Füllhorn mehr oder weniger wissenswerter Tatsachen aus allerlei Sachgebieten, mit denen er immer wieder aufs Neue seine Umgebung zu verblüffen weiß. Weil er es nämlich versteht, die jedes Mal ins Staunen versetzende Information ganz beiläufig in eine Unterhaltung einzustreuen, so dass beim Gegenüber der Eindruck entstehen muss, er schöpfe aus einem schier unendlichen Wissensvorrat. Wie neulich, als er bei einem der letzten gemeinsamen Mittagessen mit der Prillwitz (Rindszunge in Madeira) beiläufig anmerkte, dass die Zunge eines Blauwals so viel wiege wie ein ganzer Elefant („Jawohl, vier Tonnen, stellen Sie sich das einmal vor!“) und am gleichen Abend ihre Aufmerksamkeit auf den Sternenhimmel richtete und damit die Empfehlung verband, sie möge sich den Mond noch einmal genau anschauen, denn für den 28. April stehe „wieder mal“ eine Finsternis ins Haus („Die letzte ist übrigens schon drei Jahre her“).

 

Die unteren Regalböden vollgestopft mit ausladenden Bildbänden: Kunstgeschichte, dazu „Die großen Häuptlinge der Indianer“. Auf den Konsolen Fotoständer mit Porträts berühmter Zeitgenossen, alle mit handschriftlicher Widmung, Erinnerung an gemeinsame Begegnungen: Churchill, Foster Dulles, de Gaulle, Ben-Gurion, Heuss, das japanische Kaiserpaar, der italienische Staatspräsident, Papst Paul VI. Dazwischen eine Lackschatulle mit Märchenmotiven, Geschenk Chruschtschows zum fünfundachtzigsten Geburtstag. Den Schreibtisch aus afrikanischem Kambala, der auf seinen schlanken Füßen zu schweben scheint, hat ein Honnefer Kunsttischler nach seinen genauen Angaben gefertigt. Bis zu seinem Ausscheiden stand er in seinem Büro im Kanzleramt (für günstige 1800 Mark dem Bund abgekauft).

 

Die Tür des Pavillons steht weit offen; entferntes Motorengeräusch von der Bundesstraße am Fluss mischt sich mit dem stoßartigen Plätschern des Kaskadenbrunnens neben dem rundgeschnittenen Ligusterbusch. Ein Lieblingsplatz der Vögel. Als Kind durfte ich Vögel halten. Ich hatte einen Zeisig, einen Stieglitz und einen Dompfaff. Als der Dompfaff gestorben ist, habe ich geweint.

 

Vorgestern hat ihm der Verlag die ersten Druckfahnen zum vierten Band der Memoiren zukommen lassen. Hoffentlich bin ich davon bald erlöst. Manche Arbeiten beschleunigen das Zeitgefühl und manche bewirken das Gegenteil. Auch Zeit kann zäh werden, wie falsch gebratenes Fleisch. Genauso geht es mir mit den verdammten Memoiren. Wer das nicht nachempfinden kann, soll sich selbst mal dranmachen, dann wird er sehen, was das für eine scheußliche Arbeit ist. Wie vorsichtig man sein muss, wenn man halbwegs die Wahrheit sagen will. Bin eben kein Schriftsteller, hab nie einer sein wollen. Das habe ich auch meinen Verlegern klargemacht. Wollten mir tatsächlich nahelegen, das Manuskript stilistisch bearbeiten zu lassen, von einem Schriftsteller, mindestens aber von einem Journalisten. Mein sachlicher Stil war denen wohl nicht gut genug. Die habe ich schön auflaufen lassen. „Kommt ja gar nicht infrage! Ich bin weder Historiker noch Schönschreiber. Wem der Stil nicht passt, der braucht das Buch ja nicht zu lesen!“ Gewisse Leute, die es wissen müssen, halten mich für einen großen Mann, da muss ich nicht auch noch großartig schreiben. Lass die andern sich auf dem Papier abzappeln, die geistigen Zwerge, die Kleingeratenen und Zukurzgekommenen, wie diesen Böll. Totensicher ein kleiner Mann. Oder Grass, Hochhuth, die ganze Bande. Alle drei starke Raucher und Werbetrommler für den linken Flügel der SPD. Nicht zu vergessen ein gewisser Schmidt. Soll eine Eremitenexistenz in der Lüneburger Heide führen. Schwerste strafwürdige Beleidigungen, aber so raffiniert versteckt, dass der Normalmensch sie nicht wahrnimmt. Hofft wahrscheinlich, dass ich ihn anzeige, damit er, wenn schon nicht als sogenannter Dichter, wenigstens als politischer Märtyrer Berühmtheit erlangt. Den Teufel werd ich tun.

 

Hab längst bereut, mich überhaupt auf das Memoirenprojekt eingelassen zu haben. Schon die Ankündigung gab ein falsches Signal. Was bei den Leuten hängen blieb, war, dass sich ein alter Mann an das erinnert, was gewesen ist. Abschluss einer Periode. Aber so ist es nicht bei mir. Rückzug aus der aktiven Politik? Keine Rede von. Andererseits drängt es mich, die Sachen los zu werden. Wenn ich zu lange warte, sind sie am Ende nicht mehr akut. Die Erinnerung an diese Zeit darf im deutschen Volk nicht verloren gehen. Das ist für mich eine moralische Aufgabe. Und deshalb muss ich dieses Werk so schnell wie möglich fertigkriegen.

 

Mal sehen. Das Atomthema. Brisante Sache. Das Kapitel über Frankreich könnte eine Erweiterung vertragen. Gerade mit Blick auf die letzten Kapriolen von de Gaulle. Hab zu lange geglaubt, in ihm nicht nur einen Verbündeten, sondern einen echten Freund zu besitzen. Schließlich sind wir beide vom selben Holz, praktizierende Katholiken. Weiß natürlich nicht, wie genau es der General mit seinen religiösen Pflichten nimmt. Für meine Person kann ich mich nicht erinnern, den Dialog mit dem lieben Gott einmal versäumt zu haben. Und das immer und überall, auch auf Auslandsreisen. Sogar in Moskau. Beide sind wir große Männer, schon dem physischen Erscheinungsbild nach. Geprägt durch unsere hochgewachsene Gestalt. Das hält den Kopf schön weit weg von der platten Erde, und der Kopf ist schließlich die Schaltzentrale. Also bessere Übersicht. Ein großer Mensch wird niemals das Gefühl der Unterlegenheit spüren, das dem Kleingewachsenen so vertraut ist. Ewig von oben herab angeschaut zu werden, das macht die Kleinen kirre. Es heißt nicht umsonst Gernegroß. Napoleon. Seine ganze Karriere eine einzige Kompensation seines körperlichen Zukurzgeratenseins.

 

Was den Charakter de Gaulles betrifft, habe ich mich zum Glück nie irgendwelchen Illusionen anheimgegeben. Extrem komplizierte Persönlichkeit, der General. Sieht die Dinge nur so, wie er sie sehen will. Erträgt es nicht, wenn jemand anderer Meinung ist. Besessen von der Idee, alles beherrschen zu müssen. Ein Taktiker, unnachgiebig. Im Moment der Gefahr von erstaunlich zynischer Kälte und Gelassenheit. Spricht zwar viel von Europa, denkt dabei aber zuerst an das Wohl der Grande Nation. An der Wiedervereinigung ist er nur interessiert, weil er die Russen möglichst weit vom Rhein halten will. Aber warum spricht er dann dauernd von einem größeren Europa unter Einschluss der Ostblockstaaten und des europäischen Teils von Russland? Und macht einen Staatsbesuch im Kreml, mit anschließender Rundreise. Wie wir uns das letzte Mal sahen, kamen ihm die Städtenamen immer noch flüssig über die Lippen: Moskva, Leningrad, Wolgograd, Akademgorodok. Wollte seinen Gastgebern mit der richtigen Aussprache eine besondere Freude machen. Soweit ich weiß, hat er auf der Schule kein Russisch gelernt. Diese Liebedienerei gegenüber den Russen ist unerträglich. Die Russen wollen die Erde beherrschen, und sie wollen Menschen haben, die sie beherrschen können. Das ist bei denen eine Art missionarisches Gefühl. Anders wären sie auch nie an ihr Weltreich gekommen: 15 % der Landmasse der Erde. Mehr als doppelt so groß wie die USA. Sehr viel größer sogar als das römische Reich zur Zeit seiner größten Ausdehnung („Schon gewusst?“, Seite 18).

 

All das eignet sich natürlich nicht zu Niederschrift. Am besten, man belässt es bei den Fakten.

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