„Angeln Sie auch, Herr Schwaderlapp?“, fragt Adenauer zuhause seinen Privatsekretär, als der ihm Hut und Stock abnimmt. „Sie wissen schon: Fische fangen mit der Angelrute.“
„Ich habe es bisher noch nicht versucht, Herr Bundeskanzler“, antwortet Schwaderlapp. Obgleich ihn sein ungefälliges Gesicht – bleich, kantig, mit einem blauschwarzen Bartschatten – als Darsteller für die Passionsfestspiele empfiehlt (nach Adenauers einmal gegenüber Paul ausgesprochener Ansicht würde er in der Rolle des Gekreuzigten eine hervorragende Figur abgeben), besticht er durch gepflegte Umgangsformen. Und um sich weitere Reaktionsmöglichkeiten offenzuhalten, fügt er schnell hinzu: „Ich könnte mir jedoch vorstellen, diese Herausforderung anzunehmen.“
Adenauer nickt zufrieden. Schwaderlapp ist ihm letztes Jahr vom Auswärtigen Amt vermittelt worden, als Nachfolger für die Prillwitz. Mit ihr ist es zuletzt wie zwischen Ehegatten gewesen. Oder vielmehr, um auf das Verhältnis nicht den Schatten eines ungerechtfertigten Verdachts fallen zu lassen, wie mit seinen Töchtern. Zugegeben: Er mochte die träge Sinnlichkeit dieses Frauenkörpers. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie, wenn sie ihm unter einem (sachlich begründeten) Vorwand nahekam, die weiche Fülle ihres Busens zur Schau stellte. Der Duft, der von ihrem Haar und ihrer Haut ausging. Es erweckte seine Libido aus dem Tiefschlaf und war ausreichende Stimulanz für einen halben Arbeitstag.
Natürlich geschah das alles ohne Anzüglichkeit ihrerseits, ergab sich allein aus dem Umstand der Nähe. Darüber hinaus gehender Extravaganzen bedurfte er nicht. Was Wünschen und Begehren angeht, verfügt er nur noch über rudimentäre Instinkte. Aber da waren eben auch diese eingeschliffenen Verhaltensweisen, war die Penetranz ihrer uneingeschränkten Aufmerksamkeit, unendlichen Zuvorkommenheit und sanften Beharrlichkeit. Beflissen und effizient. Immer bereit, ihm einen Tee einzuschenken, aus der Zeitung vorzulesen, ein Diktat aufzunehmen, seine Essenswünsche weiterzugeben, Scharoun zu bestellen. Alle Routine tötet. Am Ende spielte die Prillwitz sogar Krankenschwester. Wollte mir vorschreiben, wie lange ich mich mit meinen Gästen unterhalten darf. Meine Gunst erwirbt man sich durch Zuverlässigkeit, Treue, fachliches Können und eine gewisse Appetittlichkeit im Aussehen. Nicht durch Amtsanmaßung.
Neues Personal musste her, und zwar schnellstens. Fremde Menschen mit einer natürlichen Distanz, die nicht jeden meiner Schritte überwachen und mich ständig ihre Sorge spüren lassen. Wollte endlich wieder zurück in ein unbeaufsichtigtes, freies Leben. Und deshalb sitzt die Dame seit letztem Jahr wieder zuhause in Travemünde und widmet sich ausschließlich ihrer Doktorarbeit. Arbeitstitel: „Das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion beim Rücktritt Konrad Adenauers vom Amt des Bundeskanzlers. Unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Ludwig Erhards“. Zum Abschied gab es Tränen.
Die Stenotypistin ist auch weg, macht jetzt wieder im Bundeshaus Dienst. Sogar die Hausdame und ihre junge Gehilfin, beide aus Unkel, hat er gegen zwei neue Kräfte getauscht. Gewiss, die beiden waren tüchtig und gewissenhaft und sogar bescheiden, und es war durchaus lobenswert, dass die Ältere über eine erfrischend fröhliche Souveränität und Schlagfertigkeit verfügte. Nur Sklavennaturen unterwerfen sich. Aber sie konnte auch regelrecht frech sein. Mehr als einmal stand sie mit gepackten Koffern in der Hand vor der Tür und drohte mit Rückzug. Beziehungsweise tat so, als hätte Adenauer vor, sie zu feuern, weshalb sie meinte, ihm zuvorkommen zu müssen. Paul, der sie immer in Schutz nahm, hielt das für den Ausdruck eines gesunden Selbstbewusstseins. Wie konnte er sowas nur sagen? Selten eine solche Verblendung gesehen. Dass er den Frauen das Regiment über seine Kleidung und Ernährung anvertraute und sie auch in seine Diät- und Schlafgewohnheiten einweihte, gab ihnen doch noch lange nicht die Befugnis, sich auch in seine Lebensführung einzumischen.
Die Familie hat zum Glück begriffen, dass er weitgehend in Ruhe gelassen werden muss, insbesondere nicht wie früher der lärmenden Anwesenheit sämtlicher vierundzwanzig Enkelkinder ausgesetzt werden darf, wenn er wieder vollständig gesund werden soll. Obgleich es immer aufregend war, gewisse Facetten seiner selbst in ihnen zu entdecken. Jedenfalls nicht unaufregend. Außerdem weiß sie ihn in der Obhut von Frau Dr. Klepper und der neuen Hausdame Frau Maiwald nebst ihrer Gehilfin, die sich um die praktischen Dinge des Haushalts kümmern.
Schwaderlapp, jüngster Sohn eines früh verstorbenen Kirchenorganisten, sorgt selbst dafür, dass Adenauer seiner nicht überdrüssig wird. Offenbar ist er im Besitz eines der großen Weltgeheimnisse: Wie man es anstellen muss, um mit Jedermann gut auszukommen. Obgleich familiärer Umstände wegen ohne musikalische Ausbildung geblieben, versteht er es hervorragend, gleichzeitig auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen, nämlich jeder Person in seiner Umgebung, in diesem Fall allen Mitbewohnern, vom Hausherrn bis zur Reinemachefrau, den Eindruck zu vermitteln, exklusiv ihm bzw. ihr in ehrlicher Bewunderung und tiefem Respekt verbunden zu sein. Schwaderlapp besitzt das sichere Benehmen eines Menschen, der sich mit Leichtigkeit in jeder Anstellung zurechtfindet. Im Laufe seines Arbeitslebens wird er gewiss den einen oder anderen Botschaftsposten bekleiden. Wie vor ihm die Prillwitz wohnt er im Gästezimmer und wird von den Frauen mitversorgt. Erfreulicherweise bleibt er weitgehend unsichtbar, ist aber mit seiner zuvorkommenden Art zur Stelle, wann immer seine Dienste benötigt werden. Er stört nicht.
Sein Mittagessen nimmt Adenauer wie gewöhnlich allein in dem kleinen Raum neben dem Wohnzimmer ein, der Kajüte genannt wird – ursprünglich eine überdachte Terrasse mit südlichem Ausblick auf das Rheintal, die vor etwas mehr als zehn Jahren mit Glas und festen Wänden versehen und als Zimmer in das Haus integriert worden ist. Ihren Namen verdankt sie einer Schiffsuhr, die hier ihren Platz gefunden hat.
Wunschgemäß hat ihm Frau Maiwald heute Kalbsmedaillons in Madeirasoße zubereitet. Endlich Fleisch, das ich kauen kann. Ihr Rinderbraten vom letzten Mal ließ sich nicht durchbeißen. Hab mir stattdessen ein Rührei bringen lassen. Was zur Folge hatte, dass die Maiwald sich entsetzlich aufregte, schimpfte und fluchte. Bin in meinem ganzen Leben noch nicht so frech angefahren worden. Hab aber tüchtig Kontra gegeben. Schick doch nicht aus Mutwillen mein Fleisch zurück, sondern weil ich nicht das passende Werkzeug dafür habe, nur einen Ersatz. Dritte Zähne wird der Apparat beschönigend genannt. Fünfzig Jahre muss ich jetzt schon ohne die Originale auskommen. Herrlich harte, starke, verlässliche Gebilde waren das. Vergangen, vergessen, vorbei. Wenn man genötigt ist, sich ein falsches Gebiss einsetzen zu lassen, lernt man den ganzen Jammer unserer Existenz kennen. Erfährt am eigenen Leib, dass der Mensch wirklich zum Leiden geboren ist. Natürlich, die Alternative ist noch schrecklicher: Nacktes Zahnfleisch, Mümmeln statt Kauen, hässlich verzerrte Miene beim Sprechen, an Lachen nicht zu denken. Wie ich nachher in die Küche komme, ist die Maiwald am Heulen. Warum musste sie das auch so machen. Ich verlange ordentliches Fleisch. Darf nicht zu sehnig sein. Und selbst wenn es rundherum schier ist, nutzt es nichts, wenn es nicht richtig abgehangen ist. Kau mir sonst die Zähne dran lahm. Zähes Fleisch, ganze Äpfel, Brot mit harter Kruste, Brötchen… Alles Gift für mich. Das weiß sie doch.
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