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Über Nacht hatte sich das Wetter geändert. Der Himmel hatte die düstere Farbe von ungebleichtem Umweltschutzpapier angenommen, und ein kalter Wind blies von Westen. Als sie das Hotel verließen, fing es an zu regnen. Alexander brachte Kim zum Bahnhof und begleitete sie bis auf den Bahnsteig. Ihr Abschiedskuss war leidenschaftlich. Sie schien es ihm tatsächlich nicht übel zu nehmen, dass er noch einen Tag länger blieb.


Anschließend stieg Alexander in eines der vor dem Bahnhof wartenden Taxis und ließ sich zum Rohan-Palast fahren, wo er sich geduldig in die Reihe der Wartenden vor dem Kassenhäuschen einreihte. Offensichtlich zog die Aussicht auf „Schöne Biester“.


12 Uhr, hatte Bouchon gesagt, aber Alexander hielt es für schlauer, bereits um 10 an Ort und Stelle zu sein. Für das, was ihn interessierte, brauchte er Bouchon nicht.


Der Saal mit den Schädelabnormitäten war unverändert. Seite an Seite standen da die Kleinköpfe, darunter ein hübscher Schiefkopf mit gerade einmal 16 Zähnen im Kiefer, und die Großköpfe, umgeben von einigen geöffneten Schädeln mit zahlreichen Varietäten akzessorischer Knochen in der Naht zwischen Scheitel- und Hinterhauptbein. Des Weiteren die Kurz-, die Dick-, die Schmal-, die Tief- und die Dünnköpfe und schließlich die Turmköpfe.


Auch DOMINIQUE war da, das Streitobjekt. Der Acryl-Aufsteller mit der Exponatbeschriftung war zwar verschwunden – vielleicht wurde er gerade überarbeitet –, aber auf dem ihm zugewandten Oberschenkelknochen entdeckte Alexander ein rechteckiges weißes Feld mit einer Beschriftung, die aus Buchstaben und Zahlen zu bestehen schien. Mit dem Zoom seines Telefons würde sie sich entziffern lassen.


Fast gleichzeitig mit Alexander war auch Professor Croqué vor Ort, um sich davon zu überzeugen, dass sein Auftrag ausgeführt worden war. Gemessenen Schrittes, leicht in den Knien federnd, bewegte er sich durch die Ausstellung. Seine Ausstellung. Wichtige Zeitzeugen standen oder lagen hier herum, nackt bis auf die Knochen gewissermaßen, Innereien, getrocknet oder in Spiritus eingelegt. Die Schau war, daran gab es nicht den geringsten Zweifel, ein Leckerbissen für Fachleute und ein Vergnügen für Laien. Vor allem aber war sie ein Aufbewahrungsort des Wissens, eine Schatzkammer, mit ihm als Wächter, ohne den die Vergangenheit weggespült werden würde wie vor ein paar Jahren ein Teil der Île d’Oléron. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er ohne Vergangenheit, ohne diese Sammlung, ebenfalls nicht existieren würde. Er bedurfte ihrer Existenz, wie sie der seinen. Beide waren sie vom Verlust bedroht. Doch er war gierig genug, um sich daran festzuklammern. Wenn es sein musste, würde er sich selbst in einen dieser Schaukästen, in eine dieser Vitrinen einschließen und zur Schau stellen.


Zielsicher steuerte er auf die Vitrine mit den Großköpfen zu, vor der gerade ein Besucher sein Telefon aus der Gesäßtasche zog. Hinter ihm ragte die bleiche Silhouette von DOMINIQUE auf. Den Wutschrei, der sich seiner Brust entringen wollte, konnte Croqué gerade noch unterdrücken.


Alexander war gerade dabei, auf die Beschriftung zu zoomen, als in seinem Rücken eine sonore Stimme sagte: „Sie wollen doch nicht etwa fotografieren?“


Alexander drehte sich um und sah sich einem großen, schlaksigen, Selbstzufriedenheit ausstrahlenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber. Croqué trug einen stahlblauen Kammgarnanzug, darunter ein eierschalfarbenes Hemd mit anthrazitfarbener Krawatte und dazu weiße Schuhe mit schwarzen Kappen. Sein Gesicht war sonnengebräunt, blasse Augen standen dicht neben einer fleischigen Nase. Der schmale Strich seines Schnurrbarts war viel röter als seine unter der Baseballkappe straff zurückgekämmten Haare.


„Nein, ich... ich erwarte einen Anruf“, sagte Alexander verlegen.


„Telefonieren ist hier ebenfalls verboten. Wir haben überall große Verbotsschilder aufgestellt, haben Sie die nicht gesehen?“ Croqué deutete auf eines.


„Oh, entschuldigen Sie. Ich werde nach draußen gehen.“


„Aber wenn Sie wollen, dürfen Sie beides. Ich erlaube es Ihnen. Sie sind der Mann aus Washington, stimmts?“


„Ja. Und Sie sind –“


„Guy Croqué, Professor an der hiesigen Universität, Institutsdirektor und Kurator dieser Ausstellung.“


Sie reichten sich die Hände. Croqués Hand war groß und gepflegt, mit rötlichen Haaren auf dem Rücken und einem großen Siegelring am Mittelfinger.


„Alexander Fairchild, aus Washington.“


„Ich weiß, ich weiß, vom Nationalmuseum für Naturgeschichte“, sagte Croqué mit dem Lächeln eines Mannes, der von Berufswegen jederzeit seine Überlegenheit zeigen muss. „Sehr erfreut, Herr Kollege. Also, bitte sehr. Fotografieren Sie, was und wen Sie wollen. Es ist meine Ausstellung. Ich habe nichts zu verbergen.“


Alexander richtete sein Telefon erneut ein und fotografierte das Skelett, die Beschriftung in der Vitrine und die alte Beschriftung auf dem Oberschenkel. Croqué stand lächelnd neben ihm, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt.


„Okay.“ Alexander nickte ein paar Mal, um zu signalisieren, dass er mit seiner Arbeit fertig war. „Vielen Dank.“


„Sonst noch etwas?“ fragte Croqué und spähte dabei in das Gesicht seines Gegenüber.


„Nein, ich war ja schon am Sonntag mit meiner Frau hier. Wir hatten ausreichend Gelegenheit, Ihre exquisite Ausstellung zu bewundern.“


„Gut, dann begleite ich Sie noch zum Ausgang. Gleich kommen nämlich zwei Herren von der Nationaluniversität in Taipeh. Sie heißen beide Chen, sind aber nicht miteinander verwandt. Na ja, so ist das bei denen halt. Sie brauchen meinen Rat in Sachen Radiokarbon. In Taiwan steht man mit Kohlenstoff-Isotopen und der Kunst der C-14-Kalibrierung anscheinend noch auf dem Kriegsfuß. Erstaunlich eigentlich. In Rotchina ist man schon weiter. Na, mir soll‘s recht sein. Konkurrenz belebt das Geschäft. Wahrscheinlich zieht sich das bis in den Abend. Hier entlang bitte.“


Anlass für Croqués Zusammenkunft mit den Herren Chen aus Taipeh war keineswegs ein Fachgespräch über Altersbestimmungen nach der Radiokarbonmethode. In Wahrheit waren seine Gesprächspartner Geschäftsführer von Formosa Siliconware, einem mittelständischen Unternehmen, das seit 45 Jahren auf die Produktion von Anatomischen Lehrmodellen spezialisiert war und mit dem Slogan warb: „Bǐ dà zìrán gēng xiángxì / More detailed than nature“. Croqués Idee war, aus den über den ganzen Globus verteilten Neandertaler-Fragmenten ein komplettes Skelett, wie es bisher noch nie geborgen werden konnte, in Kunststoff zu rekonstruieren und mit Hilfe von Formosa Siliconware als Gelenkskelett, das durch einen Elektromotor in fließende Bewegung versetzt werden konnte, auf den Markt zu bringen. Deshalb hatte er sich auf internationalen Kongressen bei den abendlichen Zusammenkünften gern von seiner spendablen Seite gezeigt und mit vielen Kollegen Brüderschaft getrunken. Zahlreiche Forscher und Museumsleute hatten daraufhin seinen Herzenswunsch erfüllt und ihm leihweise die Sicherheitskopien ihrer Neandertaler-Fossilien überlassen: Die Dordogne und Kroatien stellten Abgüsse von Schädeln und Extremitäten zur Verfügung, Museen in Spanien, Israel und der Türkei von Brustkorb und Becken, Kollegen aus Gibraltar von Fingern und Zehen. Von allen hatte er heimlich Kopien gemacht und so nach und nach die weltweit größte Sammlung von Neandertalerfossilabgüssen aufgebaut.


Angst vor einem Skandal hatte er nicht. Sollten seine „Freunde“ protestieren, würde er dagegenhalten, dass das Ganze stets mehr sei als die Summe seiner Teile und damit außerhalb kleinlicher Besitzansprüche stehe. Zudem würde er auf den Erkenntnisgewinn seiner Rekonstruktion verweisen, auch wenn er noch nicht wusste, worin er bestehen könnte. Vielleicht stellte sich heraus, dass der Rumpf des Neandertalers nicht, wie bisher angenommen, die Form einer Tonne hatte, sondern eher mit einer Glocke zu vergleichen war. Vielleicht auch ließ sich behaupten, dass die Frühmenschen nicht nur kräftig und untersetzt, sondern deutlich kleiner als bisher vermutet waren. In der Fachwelt mochte sein Mixskelett vielleicht umstritten sein. So what? Glänzend verkaufen würde es sich auf jeden Fall.

 

 
 
 

Als Alexander mit seiner Chipkarte die Hotelzimmertür öffnete, saß Kim, im weißen Frottee-Bademantel und mit Handtuch-Turban, auf der Bettkante und blätterte in den Gratiszeitschriften, mit denen das Hotel seine Gäste versorgte. Sie sah nicht auf, als sie Alexander fragte, wie sein Besuch im Institut verlaufen war.


„Dort wird anscheinend gerade nicht gearbeitet. Es gibt dort nur die Sekretärin, eine sehr attraktive junge Frau –“


„Oh!“


„Die sich nicht im Geringsten für mich interessierte, umso mehr aber für ihre Kaffeemaschine. Und ich war bei dem Assistenten. Ein seltsamer Vogel ist das. In seiner Höflichkeit war Verachtung eingeschlossen wie beim Mittagessen die Schweineschnauze im Aspik. Immerhin haben wir uns ein paar Minuten unterhalten. Es scheint, als ob das Institut in Schwierigkeiten steckt. Er sprach von einer Schmutzkampagne und hielt mich für jemand, der ebenfalls die Absicht hätte, ihnen am Zeug zu flicken. Dabei habe ich erst einmal um den heißen Brei herumgeredet und die Ausstellung gelobt, und das hat ihm auch gefallen. Aber als ich dann meine Zweifel betreffs des Turricephalus bekundete, bekam er plötzlich schlechte Laune.“


„Wundert Dich das? Niemand ist begeistert über eine abweichende Expertise.“ Sie klappte die Zeitschrift zu und stand auf. „Stell Dir vor, meine Mutter würde Dir morgen anvertrauen, dass Du Dich sehr in mir getäuscht hast. Dass ich nicht die bin, für die Du mich hältst.“ Sie nahm das Handtuch vom Kopf und schüttelte ihre langen blonden Haare aus.


Alexander grinste. „Du meinst, wenn ich einer Betrügerin aufgesessen wäre?“


„Fändest Du das gut, wenn sich herausstellte, dass ich in Wirklichkeit eine… sexgierige Schlampe bin?“


Die letzten Worte hatte sie mit lasziver Betonung ausgesprochen. Nun kam sie mit tänzelnden Bewegungen auf ihn zu, löste den Gürtel ihres Bademantels und ließ ihn zu Boden fallen. Ihr frischer, glatter Körper strahlte ihn an wie eine Verheißung.


Alexander lachte leise und legte seinen Zeigefinger auf die Spitze ihrer ihm nahen Brust, als handle es sich um einen Klingelknopf. „Das fände ich ausgesprochen – interessant“, sagte er, bevor sie ihm mit ihrem Mund die Lippen verschloss. Gleichzeitig machte sie sich zielstrebig an seiner Kleidung zu schaffen.


Nachdem Kim ihn von Hemd und Unterhemd befreit und seinen Slip bis zu den Waden heruntergeschoben hatte, entledigte Alexander sich auch des Rests. Für einen Moment pressten sie ihre Körper aneinander. Das Lustgefühl zwischen seinen Beinen blühte auf wie eine Jerichorose.


Nachher lagen sie erschöpft nebeneinander. Kim ließ ihren Arm in der Luft baumeln, Alexander starrte zur Decke. Seine Hand ruhte, wie meistens, auf Kims Schenkel. Weil er nach dem Beischlaf immer auf diese Weise den Kontakt zu ihrem Körper suchte, hatte er über einen möglichen entwicklungsbiologischen Grund dafür nachgedacht und sein Verlangen nach unmittelbarer Nähe schließlich als Atavismus gedeutet, als genetisch fixierte Geste, mit der das Hominidenmännchen einst das Weglaufen seiner Partnerin nach dem Koitus und das Begatten durch einen Rivalen verhindern wollte. Alexander nahm an, dass sich aus diesem Ursprungsverhalten das Händchenhalten der Verliebten entwickelt hatte. Er war der Meinung, dass es auch ein entsprechendes weibliches Ursprungsverhalten geben müsse, das natürlich das Gegenteil verfolgte, nämlich die postkoitale Erschöpfung des Hominidenmännchens auszunutzen, um sich von einem zweiten Männchen begatten zu lassen und dadurch die Chancen auf Nachkommenschaft zu erhöhen, egal von welchem Partner. Ihm war nur noch nicht klar, ob dieser atavistische Fluchtreflex sich nur in der weiblichen DNA versteckte oder ebenfalls in irgendeiner zivilisatorischen Geste zum Ausdruck kam.


„Kim…?“


„Hm?“


„Ich würde unsere Fahrt nach Clamart gern auf übermorgen verschieben.“


„Was?“ Ruckartig richtete sie sich auf.


„Ich möchte morgen noch einmal zu den Schönen Biestern gehen.“


„Zu dem Knochenmann? Ohne mich.“ Sie presste die Lippen zusammen.


„Kim, die Sache ist wirklich interessant. Sonst würde ich –“


„Interessant für Dich. Nicht für mich. Das ist ein kleiner Unterschied.“


„Sie könnte auch für Dich als Journalistin interessant sein, wenn sich herausstellte –“


„Vergiss es, Alex. Wir haben einen Termin bei Hilde. Und ich werde diesen Termin wahrnehmen, zusammen mit Dir und notfalls auch ohne Dich.“


Seit Kim zu Alexander nach Washington gezogen war, verbrachten sie jedes Jahr ein bis zwei Wochen im Anschluss an ihren Sommerurlaub bei Kims Mutter in Clamart. Als Startpunkt für Spaziergänge, Museumsbesuche und Einkaufsbummel in der Hauptstadt oder für Streifzüge in der Umgebung, ja sogar für Ausflüge in die Normandie oder an die Loire war die kleine Stadt südwestlich von Paris ideal geeignet. Und als Gastgeberin war Hilde Hahneman kaum zu übertreffen. Trotz ihrer 75 Jahre sorgte sie für das leibliche Wohl ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns, als gehörte das Bewirten anderer Menschen zu ihrem Alltag. Nicht einmal die Einkäufe ließ sie sich abnehmen, weil sie Bestandteil ihrer „Übungsmärsche“ waren, die viermal in der Woche stattfanden.


Alexander folgte Kim mit dem Blick seiner graugrünen Augen, wie er es stets tat, wenn die Zeichen auf Sturm standen.


„Termin... Wir haben uns für morgen angekündigt, das ist alles. Ob wir nun morgen oder übermorgen kommen, was macht das für einen Unterschied?“


„Für Dich sicher keinen, aber für einen Menschen von 75 Jahren sehr wohl. Sie lebt allein und hat sich ein ganzes Jahr auf diesen Besuch eingestellt und vorbereitet, und ich werde ihre Planung nicht durcheinanderbringen, bloß weil Du gestern einen Haufen aufrecht stehender Knochen mit einem Turmkopf entdeckt hast.“ Sie hatte sich richtig in Rage geredet. „Ich fahre morgen mit dem Zug um 9:10 nach Clamart. Von mir aus bleib hier.“


„Es geht doch nur um einen Tag. Ich rufe sie an und –“


„Nichts machst du. Mutter freut sich auf uns, und ich werde sie nicht enttäuschen. Komm nach, wenn Du fertig bist.“


„Du bist mir nicht böse?“ fragte er weich.


„Ich habe es Dir doch gerade selbst angeboten.“


„Danke, Liebes. Ich – ich muss da einfach hin. Da hängt eine Geschichte dran. Das Skelett ist einzigartig, die Beschriftung fragwürdig und das Institut im Gerede. Ich wette, da gibt es einen Zusammenhang.“

 

 
 
 

Der Blick auf das Display seines Telefons verriet Croqué, dass es sich bei dem Anrufer um seinen Assistenten Bouchon handelte. Nur diesem Grund nahm er das Gespräch überhaupt an, hielt das Gerät jedoch nicht an sein Ohr, sondern stellte auf ‚Laut‘, um seine Arbeit an Nr. 64 der Bestandsliste für das Gespräch nicht unterbrechen zu müssen.


„Wo brennt’s denn, mein Kleiner“, sagte er mit Ungeduld in der Stimme, wobei er sich über sein Telefon beugte, um die Schlinge des großen C, die sich um ein kleines g wand, zu vollenden.


„Entschuldigung, Chef“, sagte Bouchon, „aber bei mir war eben ein Amerikaner, angeblich vom Smithsonian Institute in Washington.“


„Ich weiß, wo das Smithsonian Institute ist“, sagte Croqué, während er im spitzen Winkel an den ersten Abstrich des M den zweiten Aufstrich setzte. „Oder glauben Sie, es gibt woanders noch eins? Vielleicht in Groningen?“


„Entschuldigung, Chef. Er war auf jeden Fall vom Fach, denn er kannte sich in Anatomie ziemlich gut aus. Und er spricht sehr gut Französisch.“


„Was wollte er? Kaufen, ausleihen?“


„Nichts davon. Angeblich interessierte er sich für DOMINIQUE.“


„Den alten Turricephalus aus dem Steintal? Soll er doch. Warum muss ich das wissen?“


„Er schien an der Echtheit zu zweifeln.“


„Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Das Ding gehört seit 200 Jahren zu unserer Sammlung. Soll er auf den Friedhof gehen und sich bei Helmlein beschweren.“


Croqués Zunge fuhr die Oberlippe ab, während er aus dem Bogen des C den Aufstrich zu einem verschnörkelten M entwickelte.


„In diesem Fall käme wohl Himly in Frage. DOMINIQUE ist von 1788.“


„Na also! Und wo ist das Problem?“


„Seine Argumente sind auf den ersten Blick triftig. Und ich weiß nicht, ob er nur interessiert oder ob er bösartig ist. Wenn ja, könnte er versuchen, uns etwas anzuhängen.“


Croqué legte den Federhalter beiseite. „Wie sind Sie mit ihm verblieben?“


„Er war hartnäckig. Weil er morgen noch einmal in die Ausstellung gehen will, habe ich mich für zwölf Uhr mit ihm verabredet. Das gibt uns genügend Zeit, um zu handeln.


„Sie meinen: mir?“


„Es gibt Ihnen Zeit für eine Entscheidung, wie wir weiter verfahren.“


„Was sagt denn Ihr Instinkt?“


„Ich halte es für nicht ausgeschlossen, dass er journalistisch unterwegs ist und den Auftrag hat, zu unserem Institut zu recherchieren. Und DOMINIQUE ist die Sonde, mit der –“


„Er in unseren Scheißhaufen sticht, meinen Sie?“


„Mit der er das Terrain erkunden will.“


„Das werden wir verhindern. Rufen Sie bei Artrans an. Morgen um Acht sollen sie hier mit einer Transportkiste auftauchen und das Ding ins Magazin zurückbringen. Sie begleiten den Transport. Und nehmen Sie als erstes die Beschriftung aus der Vitrine. Keine Beschriftung – keine Fehler. Und morgen… Wann sagten Sie, kommt er?


„Um Zwölf.“


„Morgen um Zwölf werde ich mir den Vogel mal vorknöpfen. Wenn er wirklich auf der Seite des Bösen ist, werde ich das nach fünf Minuten wissen. Für sowas habe ich einen siebten Sinn. Roma locuta, causa finita. Ich habe noch 43 Crania, die für die nächste Ausstellung gereinigt werden müssen.“


„Ich habe Ihnen bereits angeboten, die Arbeit zu übernehmen, Chef.“


„Das ist keine Arbeit, sondern Genuss, und deshalb lasse ich mir diese Freude nicht nehmen. Ich lasse Sie ja auch nicht meine Cohibas zu Ende rauchen. Aber Sie können etwas anderes für mich tun. Sie können zusammen mit Marine ein Rundschreiben vorbereiten, etwa folgenden Inhalts: Angebot von exzellenten Abgüssen aus der Balanica-Höhle. Aus einer Privatsammlung, bei Interesse nähere Auskünfte. Statt einer Adresse geben Sie meine dienstliche Handynummer an. Überschrift: Neue Neandertalerfunde in Serbien. Erst einmal nur auf Englisch und Deutsch, die Amis und die Boches haben noch das meiste Geld. Suchen Sie dafür 20 bis 30 geeignete Adressen heraus. Was meinen Sie, wie viel kann man dafür nehmen? 400 bis 500 Euro pro Stück? Denken Sie mal darüber nach. Auf Wiedersehen.“


Als Bouchon das Telefon aus der Hand legte, hatte sich sein Gesicht vor Wut rot verfärbt. Dass Croqué es ausgerechnet ihm, Bouchon, überließ, über den Verkaufspreis der Neandertaler-Abgüsse nachzudenken, kam ihm wie eine nachträgliche Aberkennung seiner Entdeckerleistung vor. Nein, es war eine Aberkennung. Und eine Enteignung. Und eine Anmaßung.


Vor drei Jahren waren Croqué und er und ein internationales Studierenden-Team zu Nachgrabungen nach Serbien gefahren. Russische Archäologen hatten in den 1980er Jahren in der Nähe von Niš ein Unterkieferfragment mit vier Zähnen entdeckt, das die Anwesenheit von Neandertalern vor 200.000 Jahren bezeugte. Bei ihren Nachgrabungen, die ab der zweiten Woche Bouchon leitete, hatte das Team etwa drei Dutzend weiterer Fragmente gefunden, und auch in der ersten Woche war Croqué nur nominell Teamchef gewesen. Einheimische Geographiestudenten unter Leitung ihres Dozenten hatten auf halber Höhe zwischen der Nišava und der kleinen Balanica-Höhle für sie ein Basiscamp errichtet. Croqué allerdings bevorzugte die Unterkunft im Best Western Hotel in Niš, von wo aus er jeden Morgen die 25 Kilometer mit seinem tarnfarbenen Land Rover angebrettert kam, auf dem Kopf einen grauen Filzhut mit schwarzer Garnitur, der ihn wie Indiana Jones aussehen ließ. Am Ende des gemeinsamen Mittagessens, das aus einer Militärküche stammte und mit der Gulaschkanone angeliefert wurde, pflegte er jeden Tag aufs Neue ein paar Meter nach oben zu klettern und mit den Worten „Wer den fängt, darf gleich das Geschirr spülen!“ einen zu einem Papierflieger gefalteten 20-Euro-Schein in Richtung des Teams zu werfen. Danach verschwand er wieder. Wo er den Rest des Tages verbrachte, war unklar, und nach einer Woche stellte er seine Besuche ganz ein. Von Bouchon hatte er sich mit den Worten verabschiedet: „Ich bin dann mal weg. Inzwischen schmeißen Sie den Laden. Ich habe in Kroatien ein Golfturnier. Brijuni. Wissen Sie vielleicht, wo das ist?“


Als Bouchon sich all diese Demütigungen wieder ins Gedächtnis rief, begannen plötzlich seine Augen zu brennen. Aber dies war nicht der Moment, um Tränen der Verzweiflung zu vergießen. Es war der Moment der Nemesis. Höchste Zeit, dass jemand Croqué endlich seine Grenzen aufzeigte. Und dieser Jemand würde er sein. Die Zeit des Zauderns, des Einsteckens und Runterschluckens war vorbei.

 
 
 
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