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„Jetzt sieh Dir das mal an, Kim. Ein Turricephalus vom Ende des 18. Jahrhunderts. Aus Waldbach, wo immer das liegen mag. Gott, ist der schön.“


„Ich mag nicht. Vielleicht nächstes Jahr.“


„Nächstes Jahr? Nächstes Jahr sind wir in Oslo. Schau doch mal. Es ist übrigens nicht ansteckend.“


Alexander griff nach Kims Hand und zog sie sanft zu sich. Der richtige Name seiner Frau lautete Sheila, aber er nannte sie Kim, weil ihm Kim besser gefiel, und sie hatte es akzeptiert, weil Kim Fairchild tatsächlich schöner klang als Sheila Fairchild. Von Alexander zu verlangen, dass er ihren Namen annahm und seine wissenschaftliche Karriere als Alexander Hahneman fortsetzte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen.


Alexander wiederum hatte vor seinen Freunden verkündet, gemäß den Internationalen Regeln für die zoologische Nomenklatur stehe ihm als Entdecker dieses weiblichen Hominiden das Recht der Namensgebung zu. Aber das war nach der Feier seiner Ernennung zum Assistant Professor für Paläoanthropologie in Bloomington gewesen, von der er sturzbesoffen nach Hause kam, und er hütete sich, diese Begründung gegenüber Kim zu wiederholen.


Kennengelernt hatten sie sich auf seiner Promotionsfeier, zu der Kim als Freundin einer Freundin mitgekommen war. Es war ein heißer Sommertag, und sie hatten sich beide an einen kleinen Tisch im Schatten geflüchtet, wo sie ihr Wodka-Zitronenparfait löffelten. Kim war anfangs ziemlich förmlich gewesen und hatte sich nach seinen Zukunftsplänen erkundigt, Alexander hatte brav über seine bisherige Karriere gesprochen und sich bemüht, sie im Nachhinein konsequenter erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich gewesen war, dachte er etwa an seine Ausflüge in die Jazzmusik und als Zwischenhändler für kalifornische Weißweine. Später erzählte sie ihm, es sei die Mischung aus seinem Unabhängigkeitsstreben und seiner Auffassung vom Sinn des Lebens gewesen, die sie sofort für ihn eingenommen hatte, und er revanchierte sich mit dem Bekenntnis, dass er sich in ihre Zugewandtheit und ihren Humor verliebt habe. Außerdem habe er augenblicklich erkannt, dass sie nicht zu jener Sorte Mensch gehörte, die über anderer Leute Leben zu bestimmen versuchte. Ein unersprießliches Erlebnis genau dieser Art hatte er damals gerade hinter sich gehabt. Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, an seine Partnerin grundlegende Änderungswünsche  heranzutragen, und die gleiche Zurückhaltung erwartete er auch umgekehrt. Dieses Gespräch unter einem mächtigen Zuckerahorn war es, das den Grundstein zu ihrer Beziehung legte. Sie hatten sich akzeptiert, so wie sie waren, und sie fuhren beide gut damit, von kleinen Irritationen abgesehen.


Eine solche passierte gerade. Widerwillig drehte sich Kim zur Vitrine, an der Alexander seine Nase platt drückte. Flüchtig registrierte sie hinter dem Glas ein etwa eineinhalb Meter großes Skelett, dessen zylindrisch nach hinten verlängerter Kopf wie aufgesetzt wirkte. Ihr Gefühl sträubte sich wie das Fell einer Katze, und sofort wandte sie sich wieder ab.


„Es ist ein Kind, oder?“


„Schwer zu sagen. Es hat die Größe eines Kindes. Aber soweit ich sehe, sind der Keilbeinkörper und das Hinterhauptbein vollständig verknöchert. Das passiert erst um das 25. Lebensjahr herum. Also eher ein kleinwüchsiger Erwachsener. Auf jeden Fall absolut ungewöhnlich.“


„Ich sehe nur ein Gerippe neben vielen andern“, sagte Kim und entzog Alexander ihre Hand. Es war eine arge Zumutung, dass Alexander sie in diese Ausstellung mit dem reißerischen Titel „Schöne Biester. Monster und andere Missbildungen aus der Schausammlung des Anthropologischen Instituts der Université Sébastien Brant Strasbourg“ geschleppt hatte und sie als Schwangere sich fehlgebildete menschliche Skelette ansehen musste. Aber er hatte vermutlich vergessen, dass sie schwanger war. Natürlich hatte er es vergessen. Es würde ihm erst wieder einfallen, wenn ihr Bauch anfing, sich zu wölben. „Was soll daran schön sein?“


„Schau Dir doch nur mal die Proportionen an. Das Verhältnis von den Füßen zu Unter- und Oberschenkeln. Der Rumpf. Der Hals.“


„Und der Kopf? Der Kopf ist viel zu lang. Kein Wunder, wir sind ja auch in einer Monster-Ausstellung... Alex? Hörst Du mir zu?“


Alexander hörte nicht wirklich zu. Er drückte seinen Körper dicht an die große Glasscheibe und rutschte abwechselnd nach links und nach rechts, als könne er so das Objekt seiner Begierde umkreisen.


„Natürlich, der Schädel ist abnorm vergrößert. Aber für meinen Geschmack verträgt er sich trotzdem noch mit dem Rest.“


„Jetzt sag nicht, Du fändest es schön, wenn ich mit so einem Schädel herumliefe.“


Kim war 39 Jahre alt, eine schlanke und sportliche Gestalt mit kräftigen Schultern und schmaler Taille. Hin und wieder schien es ihr geraten, ein bisschen abzunehmen, was ihr auch ohne viele Umstände gelang. Ihre Augen waren hellbraun, ähnlich der Farbe ihres Haars, das Gesicht fast viereckig, beides Erbteil ihrer irischen Urgroßmutter. Für ihre kleinen Zähne machte sie ihren Großvater verantwortlich, für ihre spitze Nase ihre Mutter.


„Na ja... Verlängerte Schädel galten ja in der Frühgeschichte bei einigen Kulturen als Schönheitsideal.“


„Ich fürchte nur, ich bin zu alt dafür. Ich kriege das nicht mehr hin. Schade, was?“


Alexander entging der ironische Unterton. Er war völlig auf die Betrachtung der bleichen Gestalt hinter dem Schauglas fixiert. „Wunderschön“ murmelte er.


„Also ich gehe lieber in eine Kunstgalerie.“


„Aber diese Ausstellung ist eine Kunstgalerie! Überall Kunstwerke. Und dieses ist das Beste. Eine architektonische Schönheit.“


Kim hatte genug gesehen. Ihre Fußsohlen brannten vom Herumlaufen in den Ausstellungssälen, und sie bereute es, zum Frühstück nur ein Früchtejoghurt gegessen zu haben.


„Ich sterbe vor Hunger, Alex. Lass uns etwas essen gehen. 5 Minuten von hier soll es ein gutes Restaurant geben, mit Blick auf die Ill. Ein Riesenschuppen mit 20 Kellnern und fünf Oberkellnern, aber die Küche hat vier von fünf Sternen.“


Alexander starrte unverwandt auf das Knochengerüst.


„4 von 5 Sternen? Großartig. Das machen wir. Nur noch zehn Minuten, okay?“


„Nein, keine zehn Minuten, Alex. Wir haben beide Hunger.“


Endlich drehte sich Alexander nach ihr um. „Wir beide? Also ich…“


Zur Begründung tippte Kim mit dem Zeigefinger auf eine Stelle knapp oberhalb ihres Bauchnabels.


Eine Sekunde lang schien Alexander ratlos. Dann stieß er plötzlich beide Arme in die Luft, als ob er einen riesigen Luftballon abwehren müsste. „Ach so! Entschuldige, ich bin ein Volltrottel. Ja dann – lass uns gehen. Auf der Stelle.“

 

 
 
 

Strassburg, 26. November 1788

 

Scharfe Sonnenstrahlen fielen durch das Oberlicht des Anatomischen Theaters, das ein süßlicher Geruch durchwehte. Auf dem schwarzen Marmor des Präpariertischs lag ein Körper, bis auf den Kopf in weißes Leinen gehüllt, das Gesicht wachsbleich, gezeichnet von der Unnahbarkeit des Todes, den blinden Blick in die Leere des Alls gerichtet. Die Blutrinnen des Tisches, die Zinkwannen, die mit wasserhellem Spiritus angefüllten Glasgefäße, die der Aufnahme der einzelnen Organe dienten, und das Silbertablett mit den sorgfältig aufgereihten Messern, Scheren und Zangen ließen keinen Zweifel daran, dass dieser Leichnam der Schamlosigkeit wissenschaftlicher Neugier preisgegeben war und unmittelbar vor der Zergliederung stand.


Nachdem der Gehilfe, ein stämmiges Faktotum mit einem Gesicht, das nur aus vorspringendem Kinn, platter Nase und niedriger Stirn zu bestehen schien und überdies gezeichnet war von einer Krankheit, deren Spuren er durch unbedachtes Kratzen vermehrt hatte, das Leintuch vollständig entfernt hatte, warf Professor Himly einen ausgiebigen Blick auf das Objekt.


„Ein zwergwüchsiger Turricephalus! Dass ich das noch zu sehen bekomme! Der rötliche Teint ist ja allein schon ein Roman für sich. Entweder hat er sich tagaus und tagein von der Sonne bescheinen lassen, was in unseren Breiten kaum möglich sein dürfte, oder er hat sein Leben lang nackt am Schmelzofen gestanden. Menschenskind, Berndt, wo hat Er diesen Casus aufgetrieben?“


Berndt wischte sich mit dem Ärmel die Nase. „Man hat so seine Relationen, Herr Professor.“


„Freilich muss es stets ehrlich dabei zugehen, Er weiß das.“


„Jawohl, Herr Professor.“


„Ich billige es nicht, wenn junge angehende Ärzte, nicht eigentlich aus Raubsucht, sondern aus Begierde, etwas zu lernen, sich zu üben, und um die Zahl ihrer Skelette zu vermehren, einen Leichnam, den sie vielleicht nie würden erhalten oder bezahlen können, durch Unterschleif an sich bringen. Denn es bleibt allemal ein Raub, etwas heimlich zu nehmen, was einem nicht gehört. Warum aber, Berndt?


„Weil eine Leiche keine res nullus ist, Herr Professor!“


„Res nullius“, verbesserte ihn Himly und lächelte nachsichtig. Dann ließ er sich von Berndt den Zollstock reichen.


„46 Zoll. Gewicht?“


„Achtundfünfzigeinviertel Pfund habe ich gewogen, Herr Professor.“


„Anders gesagt“, fuhr Himly sodann fort, während er die leicht zu überschauenden Stellen des Körpers, nämlich Augen, Nasen- und Rachenhöhlen, Gehörgänge und Achselgruben einer näheren Betrachtung unterzog, „weil eine Leiche stets Angehörige hat. Selbst eine totgefundene Leiche, sollte ihre Abkunft auch nicht ausfindig gemacht werden, gehört dem Staate, wenn er sie auch gleich sonst nicht gebrauchen, sondern vielmehr noch Kosten davon haben möchte. Alle übrigen Leichen gehören ihren Familien.“


Inzwischen war Himly bei den äußeren Geschlechtsteilen angelangt und fuhr mit der Hand über den Unterbauch. „Recht wenig Haarwuchs am mons Veneris. Schambein abgeplattet.“ Mit zwei Fingern hob er den Penis der Leiche hoch. „Was ist das?“ Vor Überraschung ließ er fast seine Lupe fallen. „Sapperlot, eine veritable Vulva! Berndt, Er hat mir einen Turricephalus und einen Hermaphroditen gebracht! Schau Er selbst!“


Berndt trat neben den Professor und verfolgte dessen Zeigefinger, der seine Ansprache begleitete.

„Das Rüstzeug beider Geschlechter, und Testikel, wo sie hingehören!“


Berndt presste die Kiefer zusammen und nickte. Wut stieg in ihm auf wie heißes Wasser in einem Destillationskolben, Wut über sich selbst. Ein Zwerg, ein Zwitter und ein Turmkopf... Die 15 Francs, die er für die Beschaffung der Leiche geltend gemacht hatte, waren viel zu niedrig bemessen gewesen. Für diesen Kadaver hätte er das Doppelte, vielleicht gar das Dreifache herausschlagen können.


Himly ließ sich von Berndt das Skalpell reichen und begann mit der Öffnung des Kopfes. Durch einen bis an die Hinterseite des linken Ohres reichenden Schnitt trennte er die Schädelhaube vom Knochen, schlug den durch den Schnitt gebildeten Hautlappen über das Gesicht, den hinteren über den Hinterkopf. „Schwarte nach dem Abziehen an ihrer Innenseite von rötlicher Farbe“, diktierte er seinem Gehilfen. Dann durchtrennte er die Schlafmuskeln, um zu verhindern, dass die Zähne der Säge sich in den zähen Muskelfasern verfingen.


Er unterbrach seine Arbeit und wandte sich seinem Gehilfen zu.


„Mein lieber Berndt, dass er’s nur weiß: Er hat mir aus einer großen Verlegenheit geholfen. Das Lazarett, unsere einzige sichere Quelle, besteht derzeit bloß aus vier Patienten, wovon alle leider einer baldigen Genesung entgegensehen, und uns von da auch in diesem Winter nichts zu hoffen bleibt. Wenn die kriminellen Subjekte erst einmal um die Kostbarkeit eines Leichnams wissen, werden die Leichendiebstähle zunehmen wie die gewöhnlichen Diebstähle. Noch sind sie eine quantité négligeable, ausgenommen in Universitätsstädten und andern Orten, wo Zergliederungsschulen sind.“


Berndt ging um den Präpariertisch herum, wobei er den rechten Fuß in einer Weise nachzog, als schleppe er eine unsichtbare Kugel, und reichte ihm die Bogensäge.


„Gewiss, Herr Professor. Aber seitdem ein königlicher Befehl an alle Gerichte ergangen ist, dass selbst die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begraben werden, und nur jene, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, auf die Anatomie kommen, ist es für einen angehenden Studiosus der Anatomie freilich kein leichtes, Material zum Präparieren aufzutun. Wenn ich nicht irre, hat dies bereits zu einem Rückgang der Einschreibungen in unserer Fakultät geführt.“


„Das ist bedauerlich. Gerade die anatomischen Wissenschaften sollten den Regierungen doppelt wert sein, weil sie die jungen Leuten nicht nur in ihrer Wissbegierde befriedigt, sondern auch von aller Apprehension gegen widerwärtige Dinge befreit, und das ist für den Staat allemal von Nutzen. Nun, es bleiben immer noch die Almosenleichen und die Totgeburten.“


Während Berndt den Kopf mit beiden Händen fasste, setzte Himly die Säge in der Stirnmitte senkrecht an, hielt sie mit der Spitze des Daumens in der Richtung, führte mit kurzen starken Zügen den ersten Einschnitt durch und setzte diesen vorsichtig in die Tiefe fort, bis der Knochen um den Schädel durchsägt war, ohne das Gehirn oder die Hirnhäute zu verletzen. Danach konnte er mit Hilfe des Sprengers das Schädelgewölbe von vorne nach hinten abheben. Mit einem Skalpell durchschnitt er die harte Hirnhaut, die an einigen Stellen mit dem knöchernen Schädeldach leicht verklebt war. Es war wie das Öffnen einer Tabakdose. Vorsichtig ließ er seine Fingerspitzen über die Gefäße des Markbalkens zwischen den Hemisphären gleiten.


„Hirnwindungen an den Kuppen erheblich abgeplattet... Windungstäler weitgehend verstrichen... Kleinhirnmandeln sehr deutlich hervorspringend...“


Er griff nach einem scherenartigen Instrument und löste das Gehirn aus seinen zahlreichen Befestigungen. Dann reichte er es Berndt, der es auf die Waage legte.


„Vierdreiviertel Pfund, Herr Professor.“


Himly griff erneut nach dem Skalpell. Diesmal setzte es in der Mitte des Halses, knapp unter dem Kinn an. Mit einer fließenden Bewegung zog er es über die Brust, der Bauchlinie entlang, am Nabel vorbei bis zum Schambein. Unterhalb des Nabels führte er einen zweiten Schnitt aus. Mit zwei Wundhaken zog er das aufgetrennte Gewebe beiseite. Dann verloren sich seine Hände in den Tiefen des Körpers, der aufgeschlagen vor ihm lag wie ein Buch.

 
 
 

 

 

Vorgeschichte

 

Champ du Feu (Elsass), 19. November 1788

 

JUKV3XTX6WJ7BS7VSXHRWA00000000000 Ein dünner Faden Blut rann aus seinem Mund das Kinn entlang. Vor seinen halbgeschlossenen Augen tauchte ein seltsames Bild auf: Es sah sich selbst. Es sah sich zu, von irgendwo weiter oben und mit einer seltsamen Gelassenheit, wie es die Beine anzog und seinen Körper mit einer mühsamen Drehung von der Rücken- in die Seitenlage brachte, sah, wie es da eine Weile kauerte, schmerzgekrümmt, sah, wie es sich dann nach vorn fallen ließ, so dass die Luft pfeifend aus seiner Brust entwich.


XTB1J2RLBLX7XK7635RW17XHRKRF000000000 Auf allen Vieren kroch es stöhnend weiter, dorthin, wo in der Dunkelheit ein Lichtpunkt glomm. Sein letzter Auftrag war die Selbstzerstörung. Es war keine Strafe, es war eine Regel, und sie besagte: Wir hinterlassen keine Spuren.


Das Herz sprang ihm in den Hals, Schwäche kam über seine Knie und ein blutiger Nebel schob sich vor seine Augen. Ihm war, als würden Flammen auf seiner Stirn tanzen.


VTUGF4R4GZYCGXG4XUGCLYLSZYP7B34WSVGPST31RR271RG4X1V2SGTRJULZ6W0000000000000000000000 Dann erlosch mit einem Mal alles Licht. Es hatte aufgehört zu leben.

 

Waldersbach (Elsass), 21. November 1788

 

Ein hochrädriger Ochsenkarren hielt unter dem Kastanienbaum, dessen ausladende Krone im Sommer das kleine Pfarrhaus überwölbte. Der Lenker, ein Bauer namens René Regenass aus dem benachbarten Belmont, der regelmäßig Hand- und Spanndienste für die Pfarrei verrichtete, zog die Feststellbremse und stieg vom Kutschbock. Mit zwei kräftigen Fausthieben löste er die Verriegelungen und zog einen grob gezimmerten Fichtensarg von seinem Karren.


Im gleichen Augenblick trat eine hochgewachsene Gestalt aus der Haustür. Ein Paar blauer Augen sprang aus seinem ernsten Gesicht heraus wie zwei Vogesenseen aus nächtlichem Nebel. Es war Johann Friedrich Oberlin, der Pastor des Steintals, ein Mann von festen Prinzipien und tadellosem Charakter. Sein silbergraues Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, trug er nach hinten gekämmt, was seinem Gesicht einen Anflug von Strenge verlieh.


„So warte doch, René“, rief er dem Bauern zu. „Ein jeder Mensch soll den Ort seiner letzten Bestimmung mit der gebotenen Würde erreichen. Ich werde Joseph Bescheid geben, dass er Dir hilft.“ Joseph Conseurant versah in der Gemeinde den Dienst des Küsters und Totengräbers.

René schüttelte den Kopf. „Der Herrgott wird das arme Wurm nicht darum ansehen, ob es stehend oder liegend zur ewigen Ruhe getragen wird.“


Mit diesen Worten schob er den Sarg auf die rechte Schulter, brachte ihn mit zwei kurzen Bewegungen in die richtige Position und ging mit gleichgültiger Miene an Oberlin vorbei den schmalen, zu beiden Seiten von Trockenmauern eingefassten Weg hinauf, der durch einen kleinen Fichtenwald zum Kirchhof führte.


„Meister Scheppler mag einen Kindersarg gezimmert haben“, rief ihm Oberlin hinterher, „aber heute Nachmittag beerdigen wir einen Bruder in Christo!“


Und murmelnd fügte er hinzu: „Auch wenn er ohne Sterbesakramente zu Gott eingegangen ist.“

Zwei Stunden später standen drei Männer am frisch ausgehobenen Grab: Pastor Oberlin, jetzt in seinem dunkelgrauen Amtskleid mit der weißen Halsbinde, René und Joseph.


Schlechtes Wetter war aus Nordwesten aufgezogen. Ein feiner Regen, der immer dichter wurde, hüllte den Kirchhofhügel in einen grauen Schleier. Eine Schaufel und ein Spaten lehnten an dem Aushub, davor lagen die beiden Seile, mit denen der Bauer und der Totengräber den Sarg in die Grube gesenkt hatten und die soeben schnurrend unter dem Sarg weg- und wieder heraufgeschnellt waren.


Oberlin las aus einem Buch, das er dicht vor die Augen hielt.


„Großer Gott im Himmel, barmherziger Vater! Dank für unsern lieben roten Bruder aus der Luft, den Du uns gegeben hast, mit seiner Freude und seinem Leid. Halte uns nun in unserem Leid fest bei Dir; erinnere uns daran, dass Du durch Tod und Auferstehung Deines Sohnes unsere Schmerzen getragen und uns zu einer lebendigen Hoffnung erneuert hast. In diesem Glauben übergeben wir Leib und Seele dieses Fremden in Deine Hände und bitten Dich: Bewahre ihn für eine fröhliche Auferstehung am Jüngsten Tag. Sende uns Deine Hilfe, damit der Verlust gelindert werden kann. Stärke uns in der Hoffnung auf Dein kommendes Reich, wo Du alle Deine Kinder heim zu Dir führst, damit sie Dich preisen und Dir danken in Ewigkeit.“


Nachdem Oberlin die rituelle Aussegnung mit dem Amen beendet und über dem Grab dreimal das Kreuz gezeichnet hatte, schloss er sein Buch und blickte noch einige Sekunden lang stumm in das offene Grab, wo der Sarg ein wenig schräg in der notdürftigen Grube stand, weil Joseph wegen des schlechten Wetters recht eilig zu Werke gegangen war. Dann nahm er einen Klumpen nasser Erde entgegen, den dieser ihm auf dem Spatenblatt reichte, und ließ ihn in die Tiefe fallen, wo er mit einem dumpfen Schollern zerplatzte. Wieder verharrte er einige Sekunden, ehe er, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, den Weg zum Pfarrhaus hinabging. René folgte ihm, schwankend, weil der Regen den lehmigen Boden an der Oberfläche erweicht und das Gehen unsicher gemacht hatte. Eine Windbö hob Oberlins schweres nasses Habit in die Höhe, und für einen Augenblick konnte der Bauer sehen, dass die dunkelbraune Hose des Pastors mit rosa Wolle gestopft war.


Joseph, ein trockner Charakter mit etwas verzogenen, durch die Anpassung an seinen Beruf eigentümlich entleerten Gesichtszügen, wie es sich vielleicht mit Notwendigkeit entwickeln muss, wo ein solcher Beruf vom Vater auf den Sohn vererbt wird, blickte den beiden nach, bis sie hinter der letzten Wegbiegung verschwunden waren. Mit hängenden Schultern lauschte er dem Tritt ihrer Schuhe nach, bis alles überdeckt wurde vom gleichmäßigen Rauschen des Regens und dem Gezwitscher der Vögel. Dann nahm er die Schaufel und setzte sie am Fuß des kegelförmigen Erdhaufens an. Schon nach wenigen Stößen hielt er inne. Sorgfältig blickte er sich nach allen Seiten um. Aber er war allein. Er bückte sich und zog eine hölzerne Klappleiter unter dem Aushub hervor.


„Es ist eine Sünde“, stieß er zwischen den Zähnen hervor, während er sich die Erde von den Handflächen rieb, „aber sie ist klein, so klein wie das da unten. Ich habe schon größere Sünden wider den Heiligen Geist begangen. Das da ist tot, und ich lebe.“


Er nahm die Leiter in die eine, den Spaten in die andere Hand und trat an den Rand der Grube. Schon morgen würde sein Schwippschwager in Straßburg einen frischen Leichnam bekommen. Und er würde um zehn Francs reicher sein.


„Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!“

 

 
 
 
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