- Jan-Christoph Hauschild
- 20. Jan.
- 4 Min. Lesezeit
„Was soll ich machen?“ fragt Adenauer Andreas, der sich, den Kescher in der einen, den Plastikeimer in der anderen Hand, neben ihm und Jakob aufgebaut hat. „Der ergibt sich nicht so schnell. Der will nicht raus.“
„Raus mit Ihnen, Herr Fisch!“, brüllt Jakob in Richtung Wasseroberfläche. „Sofort!“
„Sei still“, keucht Adenauer und muss trotz der Anspannung ein Lachen unterdrücken. „Ich kannte wirklich mal einen Herrn Fisch“, erklärt er, ohne den Blick vom Schwimmer zu wenden. „Den wollten wir auch raushaben.“
Sofort ist Jakobs Neugier geweckt. „Wo denn? Hier bei uns oder in Amerika?“
„Erzähl ich Dir später“, sagt Adenauer, und kann doch nicht verhindern, dass sogleich das Bild des KPD-Abgeordneten Walter Fisch vor sein geistiges Auge tritt. Streng nach hinten gekämmtes Haar. Dickglasige Literatenbrille. Arrogantes Auftreten. Sah aus wie ein Politkommissar und hatte eine freche Schnauze, wie alle diese Brüder. „Konrad der Dynamische“ hat er mich einmal genannt. Wenn er auf meine Regierung zu sprechen kam, war er schnell mit dem Bonner Karneval bei der Hand. Ganz schwieriger Mensch. Wurde wegen ungehörigen Betragens für 30 Tage von den Sitzungen ausgeschlossen. Sommer 1950 war das.
Damals hatten wir andere Sorgen. Das FDJ-Treffen in Ostberlin. Ein Vorstoß der Roten Armee über den Rhein war im Bereich des Möglichen. Eine sowjetische Invasion, das hätte bedeutet Millionen Flüchtlinge im Westen… Die Deportation arbeitsfähiger Deutscher nach Sibirien... Wir lebten damals auf einem Vulkan. Die Lage war verteufelt ernst.
Der Plenarsaal, eine umgebaute Turnhalle. Von beiden Seiten fällt Tageslicht durch die hohen Fensterwände. An der Rückwand ein weißer Velourvorhang mit den Wappen der zwölf Länder, eingerahmt von gold-grünen Vorhängen für die Fensterverdunklung. Das weite Halbrund des Abgeordnetengestühls, 210 Doppelplätze, jeweils zwei schwarzlackierte Pulte mit beweglichem Deckel und zwei schwarzlackierte Klappsessel, die Armlehnen und Sitze grün gepolstert. Gegenüber die Präsidiumsbank, ihr zur Seite nach links und rechts, leicht ausgeschwungen, die Bänke für die Regierung und den Bundesrat. Alles in dunkler Eichenholztäfelung mit goldfarbenen Leisten und goldfarbenen Knöpfen. Davor, drei Stufen tiefer, oberhalb der Stenografen in ihrem halbkreisförmig abgeschrankten Bereich, KPD-Mann Fisch am Rednerpult, in einer Kakophonie von Spott und Hohn und der Glocke des Präsidenten. Als er sich einmal den Schweiß von der Stirn wischt, zittern seine Hände. Ein Märtyrer im Parteiauftrag. Jeden bösen Zwischenruf nimmt er dankbar als Nagel entgegen, der ihn an das unsichtbare Kreuz schlägt. Seine Partei hat ihn trotzdem abserviert. Abgehalftert.
An Adenauers Mantel wird gezupft, was ihn ein Stück in Schieflage bringt. „Herr Mann Josef?“ Es ist Jakob, der an ihm zerrt, und dessen Stimme das Bild auslöscht. Sofort ist er wieder zurück in der Gegenwart.
„Aufgepasst“, verkündet er entschlossen und hofft, dass die Jungen nicht merken, dass die Ermahnung lediglich ihm selbst gilt. „Jetzt geht es darum, sich auf diese Sache hier zu konzentrieren. Also, was mache ich? Ich habe Angst, die Aktion geht in die Binsen.“
„Aufpassen, dass die Schnur immer straff bleibt“, rät Andreas. „Vorsichtig ziehen, aber nicht zu stark. Und dann langsam zurückgehen.“
„Also nicht mit einem Ruck aus dem Wasser ziehen?“
„Nur wenn es ein kleiner Fisch ist.“
„Kleine Fische, das sind Bagatellen. Die interessieren uns nicht“, sagt Adenauer. „Wir kämpfen nur mit ernsthaften Gegnern. Und was ist mit dem Netz? Wofür ist das dann?“
„Erst muss sich der Fisch am Haken müde kämpfen. Dann zieht man ihn zu sich heran, bis man ihn mit dem Kescher aufnehmen kann.“
„Interessant“, sagt Adenauer. Genauso hat es auch der Fischer im Roman gemacht. Es kommt darauf an, den anderen kleinzukriegen. Er darf nicht dahinterkommen, wie schwach und unerfahren man selbst ist. Und wozu er imstande wäre, wenn er nicht aufgibt. Man muss ihn zermürben. Ihm scheinbar den Willen lassen, bis er ganz matt ist. Fix und fertig muss er sein.
Plötzlich spürt er Mitleid mit dem Fisch. Der Kampf ist nicht fair. Aber ich werde ihn trotzdem fangen, in seiner ganzen Kraft und Herrlichkeit. „Was du tust, das tue ganz!“ Hat mein Vater immer gesagt. Fisch, ich mag dich und ich habe großen Respekt vor dir. Aber ich werde dich besiegen, ehe dieser Tag zu Ende geht. Ich werde den Jungens beweisen, wozu ein alter Mann imstande ist.
Die Angel fest umklammernd, sie nun nicht mehr hebend, sondern mit ihr ziehend, geht er langsam rückwärts, sich dabei immer wieder umsehend, weil er auch auf die Beschaffenheit des Bodens achtgeben muss. Und der Fisch wehrt sich immer noch. Ab und zu steht er, doch immer, wenn er ihn dicht am Ufer zu haben scheint und heranzuziehen versucht, folgt ein wütendes Reißen und Rucken.
Ich glaube, ich bekomme ihn nicht.
Er lässt seinen Gehstock zu Boden fallen, klemmt die Rute zwischen die Beine, greift hoch bis zur Spitze, zieht mit beiden Händen die Schnur zu sich heran und geht dabei so behutsam zu Werke, als wenn er einen Speerfisch an der Angel hätte.
Speerfisch. So hieß der Fisch in dem Roman. Wenigstens gibt es hier keine Haie, die mir die Beute vor der Nase wegschnappen können. Und wie hieß der alte Mann? Etwa Conrado?