- Jan-Christoph Hauschild

- 8. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Über Nacht hatte sich das Wetter geändert. Der Himmel hatte die düstere Farbe von ungebleichtem Umweltschutzpapier angenommen, und ein kalter Wind blies von Westen. Als sie das Hotel verließen, fing es an zu regnen. Alexander brachte Kim zum Bahnhof und begleitete sie bis auf den Bahnsteig. Ihr Abschiedskuss war leidenschaftlich. Sie schien es ihm tatsächlich nicht übel zu nehmen, dass er noch einen Tag länger blieb.
Anschließend stieg Alexander in eines der vor dem Bahnhof wartenden Taxis und ließ sich zum Rohan-Palast fahren, wo er sich geduldig in die Reihe der Wartenden vor dem Kassenhäuschen einreihte. Offensichtlich zog die Aussicht auf „Schöne Biester“.
12 Uhr, hatte Bouchon gesagt, aber Alexander hielt es für schlauer, bereits um 10 an Ort und Stelle zu sein. Für das, was ihn interessierte, brauchte er Bouchon nicht.
Der Saal mit den Schädelabnormitäten war unverändert. Seite an Seite standen da die Kleinköpfe, darunter ein hübscher Schiefkopf mit gerade einmal 16 Zähnen im Kiefer, und die Großköpfe, umgeben von einigen geöffneten Schädeln mit zahlreichen Varietäten akzessorischer Knochen in der Naht zwischen Scheitel- und Hinterhauptbein. Des Weiteren die Kurz-, die Dick-, die Schmal-, die Tief- und die Dünnköpfe und schließlich die Turmköpfe.
Auch DOMINIQUE war da, das Streitobjekt. Der Acryl-Aufsteller mit der Exponatbeschriftung war zwar verschwunden – vielleicht wurde er gerade überarbeitet –, aber auf dem ihm zugewandten Oberschenkelknochen entdeckte Alexander ein rechteckiges weißes Feld mit einer Beschriftung, die aus Buchstaben und Zahlen zu bestehen schien. Mit dem Zoom seines Telefons würde sie sich entziffern lassen.
Fast gleichzeitig mit Alexander war auch Professor Croqué vor Ort, um sich davon zu überzeugen, dass sein Auftrag ausgeführt worden war. Gemessenen Schrittes, leicht in den Knien federnd, bewegte er sich durch die Ausstellung. Seine Ausstellung. Wichtige Zeitzeugen standen oder lagen hier herum, nackt bis auf die Knochen gewissermaßen, Innereien, getrocknet oder in Spiritus eingelegt. Die Schau war, daran gab es nicht den geringsten Zweifel, ein Leckerbissen für Fachleute und ein Vergnügen für Laien. Vor allem aber war sie ein Aufbewahrungsort des Wissens, eine Schatzkammer, mit ihm als Wächter, ohne den die Vergangenheit weggespült werden würde wie vor ein paar Jahren ein Teil der Île d’Oléron. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er ohne Vergangenheit, ohne diese Sammlung, ebenfalls nicht existieren würde. Er bedurfte ihrer Existenz, wie sie der seinen. Beide waren sie vom Verlust bedroht. Doch er war gierig genug, um sich daran festzuklammern. Wenn es sein musste, würde er sich selbst in einen dieser Schaukästen, in eine dieser Vitrinen einschließen und zur Schau stellen.
Zielsicher steuerte er auf die Vitrine mit den Großköpfen zu, vor der gerade ein Besucher sein Telefon aus der Gesäßtasche zog. Hinter ihm ragte die bleiche Silhouette von DOMINIQUE auf. Den Wutschrei, der sich seiner Brust entringen wollte, konnte Croqué gerade noch unterdrücken.
Alexander war gerade dabei, auf die Beschriftung zu zoomen, als in seinem Rücken eine sonore Stimme sagte: „Sie wollen doch nicht etwa fotografieren?“
Alexander drehte sich um und sah sich einem großen, schlaksigen, Selbstzufriedenheit ausstrahlenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber. Croqué trug einen stahlblauen Kammgarnanzug, darunter ein eierschalfarbenes Hemd mit anthrazitfarbener Krawatte und dazu weiße Schuhe mit schwarzen Kappen. Sein Gesicht war sonnengebräunt, blasse Augen standen dicht neben einer fleischigen Nase. Der schmale Strich seines Schnurrbarts war viel röter als seine unter der Baseballkappe straff zurückgekämmten Haare.
„Nein, ich... ich erwarte einen Anruf“, sagte Alexander verlegen.
„Telefonieren ist hier ebenfalls verboten. Wir haben überall große Verbotsschilder aufgestellt, haben Sie die nicht gesehen?“ Croqué deutete auf eines.
„Oh, entschuldigen Sie. Ich werde nach draußen gehen.“
„Aber wenn Sie wollen, dürfen Sie beides. Ich erlaube es Ihnen. Sie sind der Mann aus Washington, stimmts?“
„Ja. Und Sie sind –“
„Guy Croqué, Professor an der hiesigen Universität, Institutsdirektor und Kurator dieser Ausstellung.“
Sie reichten sich die Hände. Croqués Hand war groß und gepflegt, mit rötlichen Haaren auf dem Rücken und einem großen Siegelring am Mittelfinger.
„Alexander Fairchild, aus Washington.“
„Ich weiß, ich weiß, vom Nationalmuseum für Naturgeschichte“, sagte Croqué mit dem Lächeln eines Mannes, der von Berufswegen jederzeit seine Überlegenheit zeigen muss. „Sehr erfreut, Herr Kollege. Also, bitte sehr. Fotografieren Sie, was und wen Sie wollen. Es ist meine Ausstellung. Ich habe nichts zu verbergen.“
Alexander richtete sein Telefon erneut ein und fotografierte das Skelett, die Beschriftung in der Vitrine und die alte Beschriftung auf dem Oberschenkel. Croqué stand lächelnd neben ihm, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt.
„Okay.“ Alexander nickte ein paar Mal, um zu signalisieren, dass er mit seiner Arbeit fertig war. „Vielen Dank.“
„Sonst noch etwas?“ fragte Croqué und spähte dabei in das Gesicht seines Gegenüber.
„Nein, ich war ja schon am Sonntag mit meiner Frau hier. Wir hatten ausreichend Gelegenheit, Ihre exquisite Ausstellung zu bewundern.“
„Gut, dann begleite ich Sie noch zum Ausgang. Gleich kommen nämlich zwei Herren von der Nationaluniversität in Taipeh. Sie heißen beide Chen, sind aber nicht miteinander verwandt. Na ja, so ist das bei denen halt. Sie brauchen meinen Rat in Sachen Radiokarbon. In Taiwan steht man mit Kohlenstoff-Isotopen und der Kunst der C-14-Kalibrierung anscheinend noch auf dem Kriegsfuß. Erstaunlich eigentlich. In Rotchina ist man schon weiter. Na, mir soll‘s recht sein. Konkurrenz belebt das Geschäft. Wahrscheinlich zieht sich das bis in den Abend. Hier entlang bitte.“
Anlass für Croqués Zusammenkunft mit den Herren Chen aus Taipeh war keineswegs ein Fachgespräch über Altersbestimmungen nach der Radiokarbonmethode. In Wahrheit waren seine Gesprächspartner Geschäftsführer von Formosa Siliconware, einem mittelständischen Unternehmen, das seit 45 Jahren auf die Produktion von Anatomischen Lehrmodellen spezialisiert war und mit dem Slogan warb: „Bǐ dà zìrán gēng xiángxì / More detailed than nature“. Croqués Idee war, aus den über den ganzen Globus verteilten Neandertaler-Fragmenten ein komplettes Skelett, wie es bisher noch nie geborgen werden konnte, in Kunststoff zu rekonstruieren und mit Hilfe von Formosa Siliconware als Gelenkskelett, das durch einen Elektromotor in fließende Bewegung versetzt werden konnte, auf den Markt zu bringen. Deshalb hatte er sich auf internationalen Kongressen bei den abendlichen Zusammenkünften gern von seiner spendablen Seite gezeigt und mit vielen Kollegen Brüderschaft getrunken. Zahlreiche Forscher und Museumsleute hatten daraufhin seinen Herzenswunsch erfüllt und ihm leihweise die Sicherheitskopien ihrer Neandertaler-Fossilien überlassen: Die Dordogne und Kroatien stellten Abgüsse von Schädeln und Extremitäten zur Verfügung, Museen in Spanien, Israel und der Türkei von Brustkorb und Becken, Kollegen aus Gibraltar von Fingern und Zehen. Von allen hatte er heimlich Kopien gemacht und so nach und nach die weltweit größte Sammlung von Neandertalerfossilabgüssen aufgebaut.
Angst vor einem Skandal hatte er nicht. Sollten seine „Freunde“ protestieren, würde er dagegenhalten, dass das Ganze stets mehr sei als die Summe seiner Teile und damit außerhalb kleinlicher Besitzansprüche stehe. Zudem würde er auf den Erkenntnisgewinn seiner Rekonstruktion verweisen, auch wenn er noch nicht wusste, worin er bestehen könnte. Vielleicht stellte sich heraus, dass der Rumpf des Neandertalers nicht, wie bisher angenommen, die Form einer Tonne hatte, sondern eher mit einer Glocke zu vergleichen war. Vielleicht auch ließ sich behaupten, dass die Frühmenschen nicht nur kräftig und untersetzt, sondern deutlich kleiner als bisher vermutet waren. In der Fachwelt mochte sein Mixskelett vielleicht umstritten sein. So what? Glänzend verkaufen würde es sich auf jeden Fall.

