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Mama scheint zu glauben, ich sei immer noch das Bürschlein, dem sie schnell mal eine kleben kann, wenn ihr die Argumente ausgehen. Da hat sie sich aber getäuscht. Der Anlass war läppisch. Weil Paul nicht da war, habe ich den Leguan aus seinem goldenen Käfig geholt und für ein paar Minuten zu den Vögeln in die Voliere gesteckt, die mir Papa letztes Jahr aus einem alten Küchenbuffet gebastelt, das er, wie schon so manches gute Stück, bei Rud van Endert in Neuß gefunden hat, mitten in einem Labyrinth aus Sesseln, Esstischen, Sofas, Wohnzimmerschränken, Stehlampen und anderem Plunder. Die Lieferung war genauso teuer wie das Möbel, das jetzt gegenüber von meinem Bett steht, und dafür musste ich meine Sitzecke mit dem Cafétisch aus Vögisheim opfern, der jetzt auf den Balkon bzw. die Loggia gewandert ist, wo er ja eigentlich auch hingehört. Ich wollte mal sehen, wie sie auf ihren Kameraden aus der gemeinsamen australischen Heimat reagieren. Sie haben aber die Panik gekriegt und sich am Gitter festgekrallt, außer Pürie. Entweder ist er zu dick für solche Aktionen, weil er den andern zu viele Mehlwürmer weggefressen hat, oder er sieht nicht mehr richtig.


Dem Leguan war auch unwohl. Vor Aufregung hat er das vollgekackte Zeitungspapier zerfetzt, den Vogelsand aufgewirbelt und die Futterschale umgeworfen. Damit war das Experiment beendet.


Bevor ich den Leguan wieder zurücksetzte, dachte ich, dass es schlau wäre, seinen Käfig mal zu desinfizieren. Schließlich hausten da vor nicht allzu langer Zeit noch Vögel drin, die bekanntlich Parasitenträger sind. Die Mühe hatte sich Paul bestimmt nicht gemacht. Also trug ich den Käfig auf den Balkon und sprühte ihn rundum mit Milbenspray ein. Genau in dem Moment tauchte Mama auf und wollte wissen, wo der Leguan ist. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte das Vieh irgendwo ausgesetzt, um Paul zu ärgern. Puterrot im Gesicht, die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand sie vor mir. Gestaltgewordene Entrüstung. Wahrscheinlich hat sie das beim BDM gelernt.


Weil ich ihr nichts von dem Experiment erzählen wollte, lautete meine Antwort, die Eidechse sei auf Urlaub, was sie in ihrem Verdacht, ich führe irgendwas gegen meinen Bruder im Schilde, nur bestärkte. Kruzitürken, fauchte sie mich an und holte zur Backpfeife aus, aber bevor ihre Hand mein Gesicht erreichen konnte, hatte ich sie schon am Arm gepackt und schrie ihr ins Gesicht, dass ich gerade den milbenverseuchten Käfig desinfizierte, damit der Leguan nicht an Parasitose verrecke, wofür sie mir dankbar sein könne, und wenn sie unbedingt gewalttätig werden müsse, solle sie sich gefälligst bei ihren Viertklässlern abreagieren, die das vielleicht noch mit sich machen ließen.


Da blieb ihr tatsächlich die Spucke weg. Dass ich mich gegen sie wehren würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Wann wird sie endlich kapieren, dass ich nicht mehr der kleine Junge bin, der ich vor unendlich langer Zeit mal war?


Das wars mit der körperlichen Züchtigung, und zwar für immer. Längst bin ich nicht nur größer als sie, ich bin auch stärker. Und jeden Tag etwas mehr.


Für den Leguan ist die Geschichte leider nicht gut ausgegangen. Eine Woche später ist er elendiglich krepiert. Paul sagt, Iguana hätte tagelang nicht gefressen und auch das Wasser nicht angerührt. Die Diagnose lautet also auf Selbstmord, was ich sehr viel beruhigender finde als Vergiftung durch Milbenspray. Möglich wäre es, weil es gegen Kaltblüter wirkt. Mein Ruf als Tierfreund wäre endgültig ruiniert, wenn ich zusätzlich zu fünf toten Prachtfinken nun auch noch dieses Tier auf dem Gewissen hätte.


Den Kadaver hat Paul auf meine Empfehlung im Garten unter den Rosensträuchern verbuddelt, weil der Boden dort locker und krümelig ist. Vorher durfte ich ihn mir noch einmal ansehen, Paul hatte ihn pietätlos in eine Zeitung gewickelt. WIEDER SCHIESSEREI MIT BAADER-BANDE – POLIZEIBEAMTER UND GRASHOF SCHWER VERLETZT. Da lag er, die grüne schuppige Haut trocken wie Pergament, die Augen geschlossen, die Gliedmaßen nach hinten gestreckt, als hätte er sich schlafen gelegt. Die lange Stachelreihe auf dem Rücken ließ ihn immer noch abwehrbereit erscheinen, dabei war er schon seit Stunden tot und steif.


Es dauerte aber keine Woche, bis Iguanas goldener Käfig wieder neue Mieter bekam. Jetzt sitzt da ein Pärchen afrikanische Goldbrüstchen drin, das sich ängstlich aneinanderschmiegt. Hübsche Kerlchen sind das, zierlich klein, die ganze Unterseite goldgelb, mit einem knallroten Schnabel und einem gleichfarbigen Augenstreif. Besser aufgehoben, nämlich unter Freunden, wären sie in meiner Voliere, wo sie sogar ein bisschen herumfliegen könnten, denn es ist eine ziemlich große Voliere. Aber anscheinend erträgt es Paul nicht, dass nur ich in meinem Zimmer Tiere halte. Wenn ich gewusst hätte, dass er so scharf darauf ist, wäre ich bereit gewesen, meine Vögel komplett an ihn abzugeben, im Tausch gegen ein paar Schallplatten, und mit Ausnahme von Pürie natürlich.

Im Moment mache ich mir nichts aus Vögeln. Seit ich aus Berlin zurück bin, suche ich Stille und Einsamkeit. Ich höre Simon & Garfunkel und spiele die Lieder auf der Gitarre nach. Je sanfter der Song, umso besser. Eigentlich will ich gar nichts anderes mehr machen als zuhause hinter geschlossenen Vorhängen Musik hören und an Karin denken. Auf meinen Brief mit dem Geständnis, dass ich mich in sie verliebt habe, hat sie sehr nett geantwortet.


Lieber Jakob!

Heute habe ich Deinen Brief erhalten und fühle mich verpflichtet Dir sofort zu antworten. O je, Dich muss es ja ganzschön erwischt haben! – (Ich habe Deinen Brief ziemlich oft gelesen!) Ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut, aber sind das nicht falsche Illusionen? Ich finde Dich auch ganz toll, aber die Umstände.....!

Überings bist Du mein Typ! (nur zu Deiner Information) Ich gehe nicht nur nach dem Aussehen und moderner Kleidung usw., sondern auch nach dem Charakter. Bei Dir wäre alles tadellos, aber was haben wir davon, wenn wir uns einmal im Jahr sehen? Ist das nicht ein bisschen wenig? Wenn die verfluchte Grenze nicht wäre, ständen die Dinge ganz anders!

Die Massen aus meiner Klasse dachten, ich hätte mich über Sonnabend-Sonntag verlobt! (Der Grund war der Ring von Dir) Toll was? Jetzt steht Dir aber auch ein Wunsch offen. Leider machst Du nie Gebrauch davon. An Deiner Stelle wäre ich nicht so schüchtern!

Zum Friseur war ich bis jetzt noch nicht, denn ich hatte keine Zeit. Ein Glück, dass ich noch nicht hin war!! Ich habe es mir überlegt. Wenn Du lange Haare gut findest bleiben sie dran. (Ein miserables Zeichen der Liebe aber besser als gar nichts.)

Viele Grüße. Ich hoffe, dass Du auch zwischen den Zeilen lesen kannst!

Karin


Klar kann ich zwischen den Zeilen lesen. Sie empfindet genau wie ich, sie kann es nur nicht so klar ausdrücken, denn unsere Briefe werden überprüft und sie will nicht in Schwierigkeiten kommen, weil sie heimlich einen Jungen aus dem kapitalistischen Westen liebt. Wie hat sie in der Eisdiele gemeint? Das Verbotene sei für sie immer das schönste. Da ist was dran.


Ohne die verfluchte Grenze wäre natürlich alles ganz anders. Aber vielleicht gibt es auch trotz Grenze eine Lösung. Wenn wir zum Beispiel in Eberswalde heimlich kirchlich heiraten, darf sie vielleicht zu mir nach Westdeutschland ziehen. Mein Ring kommt ihr jedenfalls schon wie ein Verlobungsring vor. Und als Zeichen ihrer Liebe will sie sich die Haare wachsen lassen.


Ich soll aber nicht so schüchtern sein. Okay, wenn die Draufgängertour besser bei ihr zieht... Ich bin bereit, mich zu ändern. Schon allein, um ihrem Eindruck von meinem tadellosen Charakter gerecht zu werden. Meine Nervosität und Ungeschicklichkeit werde ich wahrscheinlich nicht von heute auf morgen ablegen können, und ein paar Geheimnisse behalte ich einstweilen lieber für mich. Aber ein paar schlechte Angewohnheiten will ich mir noch abgewöhnen, ihr zuliebe. Ich will nicht mehr auf Teufel komm raus fernsehen, auch wenn nur ein ödes Testprogramm läuft. Ich will nicht mehr heimlich Rabattmarkenhefte einlösen, um mir damit Kirmesbesuche zu finanzieren. Ich will auch nicht mehr die Freistunden in der Gaststätte am Hamtor verbringen, um am Flipper oder am Spielautomaten mein Taschengeld zu verprassen. Man kann nicht früh genug damit anfangen, sich auf ein Leben zu zweit vorbereiten.



Gestern war Samstag und Disco im Gemeindehaus. Den Tag habe ich im Kalender mit einem passenden Symbol versehen, weil es der Tag meines ersten Zungenkusses war. Die andere Zunge war die von Steffi Groß. Sommersprossen sprenkeln ihre Stupsnase. Dazu Augen, grün wie Spinat, und orangefarbenes Haar. Auf der Herbstfreizeit in Winterscheid gehörte sie zu denen, die meinen Gitarrenkünsten lauschten, und im Sommer in Döbriach kam sie im Bikini in unser Zelt, quetschte sich neben mich auf meine knallrote Luftmatratze und schäkerte mit uns rum, obwohl ich meine Gitarre gar nicht dabei hatte. Im Sitzen warf ihr Bauch kleine Knitterfalten und man sah, wo am Körper sie noch Sommersprossen hat.


Auf keinen Fall kam sie wegen Peers Weltempfänger, und weil ich ihm das in schonungsloser Offenheit beibrachte, wollte Peer unbedingt, dass wir darum kämpfen, wer mit ihr gehen darf. Leichtsinnigerweise schlug er Minigolf vor, weil er das letzte Mal knapp gegen mich gewinnen konnte. Er ahnte nicht, dass ich da bloß einen schlechten Tag gehabt hatte. Diesmal aber ging es um die Wurst, nämlich um Steffi, und deshalb legte ich mich ordentlich ins Zeug. Als wir vor der letzten Bahn unsere Punkte zusammenzählten, lagen wir gleichauf. Nr. 18 war Gelegenheit für ein As, denn hier musste der Ball bloß einen steilen Berg rauf. Zu schwach darf man nicht schlagen, weil der Ball es sonst nicht bis nach oben ins Loch schafft und gemütlich zurückkullert. Zu stark darf man aber auch nicht schlagen, weil der Ball sonst oben auf dem Plateau eine Runde ums Loch dreht und postwendend zurückkommt. Voraussetzung ist, dass man die handbreite Rinne trifft. Peer war vor mir dran und schaffte es mit dem vierten Schlag: Neid – Leid – Leib – Weib. Schon dachte Peer, er hätte gewonnen. Aber ich brauchte nur drei: Dieb – Sieb – Sieg. Trotzdem bot ich ihm großmütig an, zu seinen Gunsten auf Steffi zu verzichten, was der Feigling aber ablehnte, angeblich, weil es gegen den Sportsgeist verstoßen würde.


Die Initiative gestern ging auch nicht von mir aus. Steffi war es, die mich bei „Nights in White Satin“ zum Tanz aufforderte. Lichtblitze durchzuckten den Raum, in dem sonst der Konfirmationsunterricht und die Gemeindeversammlungen stattfinden. Weil es ein langsames Lied war, legte ich die eine Hand an ihre Hüfte und die andere an ihren Rücken, wobei ich versuchte, nicht den Verschluss ihres Büstenhalters zu berühren, den ich unter ihrer Bluse fühlen konnte. Sie legte beide Arme um meine Schultern und drückte mich an sich, sodass ich ihren Busen spüren konnte, der an meiner Brust leicht hin und her wogte. Ein blumiger Duft stieg aus der Region unter ihren Armen auf. Dann nahmen ihre Schenkel mein Bein in die Zange. Bestimmt konnte sie die Beule in meiner Hose spüren. Dem Gefühl nach mindestens 17 Zentimeter, die sich zu entfalten drohten. Von anderen Paaren eingekeilt, bewegten wir uns in winzigen Schritten im Gleichklang der Musik. Gern hätte ich die Augen geschlossen und den Moment genossen, aber das ging nicht, weil die Leute um uns herum nicht stillstanden wie Kühe auf der Weide, sondern im selben sanften Rhythmus wie wir durch den Ozean aus Menschenleibern pflügten. Bei „’Cause I love you“ presste Steffi plötzlich ihr Gesicht auf meins, steckte die Zunge zwischen meine Lippen und kurvte damit in meinem Mund herum, in dem sich daraufhin der Geschmack ihres Kaugummis breit machte. Im ersten Moment fühlte sich ihre Zunge an wie eine Nacktschnecke, die sich in Todesangst hin und windet, aber dann tat ich es ihr einfach nach. Wir standen still und knutschten so lange rum, bis der Song zu Ende war, wodurch es die andern mitbekamen, von denen einige meinten, dazu unbedingt Uiii und Oooh grölen zu müssen. Dass Joe als nächstes „Je t’aime“ auflegte, war natürlich alles andere als Zufall, und wenn ich meinen Ständer nicht durch die Hosentasche unauffällig in Richtung Bauchnabel gezerrt hätte, wäre es mit dem Tanzen ganz aus gewesen.


Und seitdem gehen wir miteinander, obwohl ich ja schon in Karin verliebt bin. Oder war. Der große Unterschied ist, dass die eine bei Berlin wohnt, Fahrzeit acht Stunden, die andere in Büttgen, Fahrzeit vierzig Minuten. Karin als Freundin zu haben, ist sowieso ziemlich unrealistisch. Wer weiß, ob ich bei ihr jemals so weit komme wie bei Steffi. Steffi darf ich anfassen, Steffi darf ich küssen, und inzwischen macht es mir auch nichts mehr aus, den Verschluss von ihrem BH zu berühren, wenn ich sie umarme, denn das passiert ständig, weil wir ständig miteinander rumknutschen. Als wir zusammen in „Love Story“ waren, haben wir auf unserem Logenplatz vor lauter Knutschen von der Handlung praktisch nichts mitgekriegt. Bloß dass die Frau am Ende an Krebs stirbt, war nicht zu überhören.


Noch habe ich Steffi nicht erzählt, dass ich eine Brieffreundin in der DDR habe, die ich Ostern vielleicht besuchen werde. Und Karin werde ich auch nicht schreiben, dass ich zurzeit mit Steffi gehe, weil sie sonst vielleicht ihre Einladung wieder zurücknimmt und bei Roy Black Trost sucht.

Beklagen soll sie sich jedenfalls nicht über mich, und deshalb bekommt sie zu Weihnachten genau die Nylon-Windjacke, die sie sich wünscht, Größe 38, hellblau oder beige. Bei ihnen gibt es nämlich gerade keine, stand in ihrem Brief, außer in Kindergrößen, und dass die Blousons für Herren viel zu teuer sind.


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