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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Nächstes Heft. Vorne eine ganze Seite mit „Wienerwald“-Reklame. HEUTE BLEIBT DIE KÜCHE KALT – MIT HENDLN AUS DEM WIENERWALD. Das ist mal ein gescheiter Werbeslogan. Einprägsam wie „Vater, Mutter, Tochter, Sohn – alle wählen die Union“. Der Herr Jahn ist ja nicht nur ein guter Pilot, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sondern auch ein guter Unternehmer. Beim „Wienerwald“ kostet ein halbes Hähnchen nur 3 Mark 50. Wieder einmal ein praktisches Ergebnis unserer Politik seit 1949.


Erschütternder Bericht über einen Mann aus Siebenbürgen, jahrelang zu Unrecht in einer Irrenanstalt festgehalten: 13 JAHRE IN DER SCHLANGENGRUBE. Wäre die passende Überschrift für meine Zeit als Bundesparteivorsitzender. Bei mir waren es sogar sechzehn Jahre.

 

Seine Hände sind feucht. Ein paar Schweißtropfen gleiten von seiner Stirn auf das Heft. Fortsetzung der Reportage IST AUF DIE AMIS NOCH VERLASS? Nein, ist es nicht. In der Berlinkrise haben sie auch den Schwanz eingekniffen. Mir als Kanzler waren ja die Hände gebunden. Um so mehr riss Brandt das Maul auf, als Bürgermeister konnte er das. Für den war der Mauerbau das große Glück seines Lebens. Endlich konnte er einmal auftrumpfen. Außer einem bisschen Repräsentieren und Redenhalten hatte er als Regierender Bürgermeister bis dahin doch noch gar nichts geleistet.

 

Was Brandt angeht, sind wir viel zu zimperlich. Unter den Nazis hat der Herr Frahm, oder wie er sich sonst noch genannt hat, seinem Vaterland ganz schnell den Rücken gekehrt. Ich selbst war auch gefährdet, als ehemaliger hoher Amtsträger. Jedenfalls nicht ungefährdet. Hab trotzdem nie darüber nachgedacht, zu emigrieren. Anders der Herr Frahm. Den Krieg hat er als norwegischer Soldat mitgemacht, ist sogar in Gefangenschaft geraten, aber die Deutschen in ihrer Gutmütigkeit haben ihn wieder laufen lassen. Das Wahlvolk findet anscheinend nichts daran, dass er in fremder Uniform gegen die eigenen Landsleute gekämpft hat. Seinen Urlaub verbringt er auch immer in Norwegen. Angeblich, weil er auf dicke Fische aus ist und da ungestört angeln kann. Kann er ja machen. Am besten bliebe er ganz da. Erschütternd, dieser Mangel an Nationalgefühl.

 

An der Mauer war hauptsächlich die Presse schuld. Kein Wunder, dass der Flüchtlingsstrom kein Ende nahm, wenn in den Zeitungen des Herrn Springer ewig die Rede war vom geteilten Berlin und vom Staatsgefängnis Ostzone. In meinem Interesse war das nicht. Meine Regierung hat die Bewohner der SBZ niemals eingeladen, nach Westdeutschland überzusiedeln. Sollen gefälligst drübenbleiben. In der Mehrzahl verlorene Seelen, religiös wie politisch. Immer mehr Ostflüchtlinge, das bedeutet immer mehr alten preußischen Geist, den sie östlich von Saale und Elbe 500 Jahre lang haben einschlucken müssen mit der protestantischen Taufe. Und nicht zuletzt der preußische Untertanengeist ist schuld daran, dass das deutsche Volk damals abwärts geglitten ist in Diktatur und Gewalt. Berlin darf niemals wieder zum Nabel Deutschlands werden. Vom Osten ist auf lange Sicht nichts Gutes zu erwarten.


Trotzdem ist es dummes Zeug, wenn die „Quick“ behauptet, ich hätte mich nicht nachdrücklich genug für die Niederwalzung der Mauer eingesetzt. Kein Wort von wahr. „Deutsche Einheit bringt auf Dauer nur ein Kanzler Adenauer“. Mit Hilfe Pauls und der Frauen ausgeklügelt, am nächsten Tag dem Vorstand vorgeschlagen. Fand keinen Anklang. Abgeschmettert. Kein Wunder, wenn dann aus einer Lüge eine Legende wird, ununterscheidbar von der Wahrheit. Und hochgefährlich, wenn sie sich in den Köpfen der Leute festsetzt. Und das ist wohl die Absicht. Die Rache des Holländers. Van Nouhuys? Van Nonsens.

 

Angewidert schlägt er das Heft zu. Genug geblättert. Umständlich hievt er sich aus dem Sessel und auf die Füße, schiebt sich wie in Trance an die Terrassentür und zieht den Vorhang zur Seite. Eine frühe Sonne beleuchtet das gegenüberliegende Rheinufer. Von der Existenz des Flusses zeugt nur ein kleiner blinkender Fleck, der vom windungsreichen Verlauf nichts ahnen lässt. Rolandswerth, Rolandseck, Oberwinter, dahinter Remagen. In der Ferne wölben sich die Berge der Voreifel aus dem Frühdunst. Was sich wohl im Garten tut?

 

Wenn man als Politiker von der Natur etwas lernen kann, dann Geduld und Beständigkeit der Arbeit. Ohne das erreicht man gar nichts. Gute Gärtner und gute Politiker wissen das. In der Natur läuft alles ohne Betrug, Falschheit und Verstellung ab. Alles wetteifert miteinander, wie um den Menschen vor Augen zu führen, dass Konkurrenz notwendig ist, wenn das Beste sich durchsetzen soll.

 

Das ist wirklich mit die Wurzel aller Unzufriedenheit: Dass die Leute gar nicht mehr ertragen können, wenn es dem Nachbarn besser geht. Unterschiede werden immer sein. Der eine wird ein besseres Gehirn haben als der andere, und der eine wird fleißiger sein als der andere, und wer fleißiger ist und ein besseres Gehirn hat, der wird naturgemäß in diesem Leben weiter kommen. Das muss sein im Interesse auch unseres ganzen Geschlechts. Denn die Faulheit und die Dummheit, meine Damen und Herren, wollen wir doch nicht prämieren.

 

In seinem Rücken wird die Zimmertür geöffnet. So unvollständig, wie er bekleidet ist, wagt er nicht, sich umzudrehen, schließt hastig die Knöpfe des Kittels, den vor ihm ein Arzt getragen hat oder auch eine Krankenschwester.

 

„Herr Dokter“, sagt eine Stimme, „Se han –“. Die Stimme stockt. Es ist die Stimme der Putzfrau, Maria Klefisch mit Namen. Seit über zwanzig Jahren steht sie in Diensten der Familie und wischt, fegt, poliert, wäscht, bügelt, stopft und näht. All das erledigt sie mit einer seinen Ansprüchen vollauf genügenden Pingeligkeit und bleibt dabei doch weitgehend unsichtbar.

 

Ein verwischtes Schniefen, dann ein neuer Ansatz: „Se han – en schon – fottjebraht.“

 

Es ist als Frage gemeint, klingt aber wie eine Feststellung. Offenbar hält sie ihn für einen der Ärzte, denen sie in diesen Tagen im Vorbeigehen häufig begegnet sein mag. Trotzdem. Wie beschränkt muss man sein, um den Hausherrn nicht zu erkennen. Ich bin doch kein Gespenst.

 

Der letzte Knopf ist geschlossen, er dreht sich zu ihr um. Da steht sie, halb noch im Türrahmen, eine füllige, stabil gebaute Frau in den Vierzigern in einem hellblauen Perlonkittel, um den Kopf ein Tuch gebunden.

 

„Frau, wat kreschs do? Wä söks do?“ will er in dem ihr vertrauten Idiom erwidern, denn Maria Klefisch ist eine waschechte Königswinterin, aber aus seinem Mund kommt nur ein Krächzen.

 

Mit einer Hand den Türgriff umklammernd, sucht Maria mit der anderen Halt an der Wand, und bevor sie erneut sprechen kann, muss sie tief Luft holen. Erschüttert zeigt sie auf das leere Bett. „Wohin“, fährt sie mit halberstickter Stimme fort, „han se en jebraht?“

 

Obwohl sie sich gegenüberstehen, scheint sie ihn immer noch nicht zu erkennen. Vielleicht, weil sie ihn bisher nie anders als im Gesellschaftsanzug mit den rasiermesserscharfen Bügelfalten gesehen hat. Vielleicht auch, weil er vor dem hellen Fenster steht oder ihr Blick durch dicke Tränen getrübt ist. Vielleicht auch wegen all dem zusammen. Mit Zungenschnalzen und Kopfschütteln bekundet er sein Missfallen. Die Putzfrau starrt ihn an.

 

„Maria!“ sagt er laut und erschrickt über seine brüchige Stimme.

 

Jetzt endlich erkennt sie ihn. „Herr Bundeskanzler!“ ruft sie, wischt, während sie auf ihn zugeht, mit dem Handrücken über ihre tränenverschmierten Wangen und streckt in ihrer Wiedererkennungsfreude die Hand nach ihm aus. Erschrocken weicht er zurück, hebt abwehrend den Arm und fährt sie, heftiger als eigentlich beabsichtigt, mit fremd klingender Stimme an: „Do moots mich nit fasshalde! Ich bin noh nit zo Jottvatter eropjejange!“

 

Woraufhin die Klefisch, sonst von durchaus robuster Natur, laut schluchzend, jetzt aber vor Freude, aus dem Zimmer stürzt, um überall im Haus zu verkünden, sie habe „den Herrn – den Herrn Bundeskanzler gesehen!“

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Mit bewegten Bildern können die Illustrierten nicht aufwarten. Daher locken sie mit Nackedeis in Farbe und fetten Schlagzeilen. Hier auch wieder. Blondine im Bikini, schätzungsweise sogar minderjährig. Schulterlanges verstrubbeltes Haar, die Hände herausfordernd in die nackten Hüften gestemmt. Mehr als nur ein Hauch von Verruchtheit. Die „Quick“; typisch. Ist noch nicht lange her, da hat mich der Chefredakteur, ein Holländer namens van Nouhuys, um ein Interview gebeten. „Kein politisches“, man denke eher an ganz allgemeine, menschliche Fragen, etwa: „Welche Gesellschaft bevorzugen Sie? Die einer schönen oder die einer intelligenten Frau?“ Ließ natürlich dankend ablehnen, woraufhin van Nouhuys meinte, mich mit dem Versprechen umstimmen zu können, dass ich dafür auch aufs Titelblatt käme. Da wäre ich dann seit langem der erste gewesen, der was anhat. Glaubte wohl, ich würde jetzt alles mitmachen, bloß weil sie letztes Jahr dem verdrehten Kokoschka 200 000 Mark hingeblättert haben, damit er mich in Öl porträtiert. 200 000 Mark, und die Augen sitzen nicht mal an der richtigen Stelle. Hängt jetzt in der Ruhehalle vom Bundestag, der Ölschinken. Ruhehalle, nicht Ruhmeshalle. Mit Schildchen dran, damit es keiner vergisst: „Kokoschka: Adenauer – Gestiftet von ‚Quick‘ 1966“. Ob in hundert Jahren noch jemand weiß, wer oder was „Quick“ war? Nicht mal mehr in dreißig Jahren.

 

Er knipst die Stehlampe an, die von ihrem angestammten Platz zwischen Bett und Nachttisch hierher gewandert ist. Ihre Verbindung zur Steckdose ist durch eine Zeitschaltuhr unterbrochen. Eigene Erfindung, vom Elektriker in Honnef ausgeführt. Stelle ich vor dem Schlafengehen auf 30 Minuten ein. Funktioniert bestens.

 

Adenauer zieht ein Heft aus dem Zeitschriftendurcheinander, lässt seine Finger darin blättern. Fliegende Untertassen gesichtet. Über solchen Quatsch wird berichtet, nicht aber über die Gefahr durch chinesische Interkontinentalraketen. Deutsche Findelkinder, in Russland aufgewachsen, suchen ihre Eltern. Hätten sich mal früher melden sollen, dann hätte ich sie 1955 mit nach Hause gebracht. Eine brennende Frau ist in New York aus einem Hotel gestürzt, ein Geologe in Sibirien von einem Bären überfallen worden; alles mit Bildern. Was denken die Leute, die sowas lesen? Sie müssen denken, die Welt ist ein Tollhaus, mindestens aber ein Zirkus. Menschen, Tiere, Sensationen. Bei uns wird der Direktor von Kiesinger gespielt.

 

Ein neuer Aufschwung rückt heran. Sag bloß. Den haben wir der Konzertierten Aktion zu verdanken. Konzertierte Aktion. Hohles Zeug, aber die „Quick“ liefert den Echoraum, damit sich das Schlagwort einprägt. Konzertierte Aktion, da ist Musik drin, hat es bei der Vorstellung des Konzepts wahrscheinlich geheißen, und sicherlich hat irgendeine Werbeagentur ihre Hand im Spiel gehabt. Wenn politische Entscheidungen neuerdings den beteiligten Akteuren anvertraut werden, können Strauß und Schiller ihre Ministerien ja gleich dicht machen. Armes Deutschland. Das ist der Scherbenhaufen, den der Dicke hinterlassen hat. Hab noch immer eine Mordswut im Bauch. Allein schon dessen Zigarrenraucherei, Pendant zu seiner wolkigen Ausdrucksweise. Die entsetzliche Luft bei den gemeinsamen Besprechungen... Die drei Jahre von Erhards Kanzlerschaft haben mich mindestens doppelt so viele Lebensjahre gekostet.

 

Ein Speichelfaden rinnt ihm aus dem Mund und tropft unbemerkt auf die aufgeschlagene Seite. Der große Quick-Fortsetzungsroman. Ausnahmsweise mal keine Schießereien in Chicago. Tatort Bundesrepublik, Minister statt Mafia. Ist angeblich ein Schlüsselroman: IN BONN KENNT JEDER DIE HAUPTFIGUREN. Der Verfasser bleibt anonym. Am Ende hat der Böll den Blödsinn geschrieben. Sähe ihm ähnlich. Ein gefährlicher Mensch, der alles madig macht. Zweifelt an der Christlichkeit der Union. Hält sich für den besseren Katholiken von uns beiden. Nun ja. Der Schoß der Kirche gibt auch verwirrten Seelen Obdach.

 

Nächstes Heft. Brünette Löwenmähne in aufreizendem Strickkleid, offen vom Brustbein bis unter den Nabel, lila mit weißen Querstreifen. Anmutung von Sträflingsdrillich. Als Aufmacher eine Dokumentation über die Berlin-Krise: IST AUF DIE AMIS NOCH VERLASS? Genau das frage ich mich auch. Seit Kennedy hat es von denen nichts als leere Versprechungen gegeben. Überall in der Welt machen sie schlechte und fehlerhafte Politik. Vietnam ist nur ein Beispiel unter vielen. Ein völlig sinnloser Krieg. Die Amerikaner werden ihn nicht gewinnen. Eine kluge Regierung würde versuchen, die Sache mit Anstand zu beenden. Es bleibt Ihnen ja gar nichts anderes übrig, wenn sie nicht als Geschlagene nach Hause gehen wollen. Aber sie sind nicht klug.

 

Guck an, Kennedy beim Segeln. Ja, davon verstand er etwas. Von Politik hat er keinen blassen Schimmer gehabt. Viele, ich selbst eingeschlossen, glaubten, er werde spätestens nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit wieder in der Versenkung verschwinden, genau wie Truman und Eisenhower vor ihm auch. Manche Beobachter bezweifelten sogar, dass es überhaupt zu einer zweiten Amtszeit kommen würde. Sie sollten recht behalten, wenn auch aus anderen Gründen als gedacht.

 

Meine Sympathie für Kennedy war hauptsächlich aus zwei Gründen so gering. Erstens, weil er so schrecklich jung war, viel zu jung für einen Staatsmann. Wir hatten in Deutschland auch mal zwei Vierundvierzigjährige als Reichskanzler. Und was ist dabei herausgekommen? Not und Elend und Krieg und Diktatur. Zweitens, weil er Amerikaner war, und die Amerikaner mag ich nicht leiden, weil sie den Indianern so übel mitgespielt haben und es immer noch tun.

 

Was waren das für großartige Krieger. Apachen, Schoschonen, Komantschen, Kiowa, Mescalero, Pawnee, Cheyenne, Sioux. Nicht einmal ihre Stammeshäuptlinge wurden mit dem gebührenden Respekt behandelt, der gewählten Führern zukommt. Spotted Tail, Sitting Bull: von der Indianerpolizei erschossen. Crazy Horse: von einem Wachsoldaten erstochen. Mangas Coloradas: in der Haft von Soldaten gefoltert und ermordet. Santana: Selbstmord im Gefängnis. Chief Joseph: in der Verbannung an gebrochenem Herzen gestorben.

 

Und das Land mag ich sowieso nicht. Zehnmal war ich in USA, zuerst noch mit dem Schiff, und immer war es eine Enttäuschung. Tankstellen und Auto-Motor-Hotels dicht an dicht, Rund-um-die-Uhr-Läden, Babylonische Bürotürme, sogar in Texas. Besser davon träumen als dort hinfahren.

 

Ach nee, ein großes Foto vom Herrn Brandt. Dass der bei den Amis gut angeschrieben ist, wissen wir ja. In Washington gibt es Kräfte, die ihn als Kanzler wollen. Haben sich das ein hübsches Sümmchen kosten lassen. Man sucht nach Verständigung mit Moskau, da ist die Union im Wege. Von einem Tauschgeschäft Berlin gegen Kuba ist die Rede. Alles ist möglich, wenn dieser Mann ans Ruder kommt. Angeblich soll er nicht mehr ganz so viel trinken wie früher, dafür aber um so mehr arbeiten. Wer‘s glaubt.

 

Was noch? ICH HABE GETÖTET, Tatsachenbericht. Ehemaliger Zonenflüchtling erschießt Familienvater. Also noch besser aufpassen, wer von drüben bei uns einsickert. Nächste Woche dann: DREI GENERATIONEN VON MÖRDERN. Der Großvater erschießt einen Arbeiter, der Vater ersticht seine Freundin, der Sohn erwürgt beinahe seine Verlobte. Also nur Beinahe-Mörder. Wieder übertrieben. Die Familie soll im Rheinland wohnen. Halte ich für möglich. Jedenfalls nicht für unmöglich.

 

In der Ausbeutung von Sensationsmeldungen ist die Presse unermüdlich. Das Papier, das mit der Zuschaustellung menschlichen Schmutzes vergeudet wird, sollte besser zur Aufklärung des Volkes verwendet werden. Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.

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Irgendetwas hat ihn geweckt, vielleicht ein Geräusch im Haus. Aber jetzt ist es still, totenstill. Oder hat ihn ein Lichtstrahl gekitzelt? Seine Augen sind verklebt und geben nur einen schmalen Spalt frei, aber der Helligkeit vor dem Fenster nach muss es früher Morgen sein. Er atmet tief ein, hört das Rasseln seiner Lungen und nimmt ebenso verwundert wie erleichtert zur Kenntnis, dass da kein Schmerz ist. Zeit ist vergangen, Stunden oder Tage, aber er kann sich in kein Verhältnis dazu bringen.

 

Er blinzelt zur Decke. Das Lid reibt auf dem Augapfel wie Sandpapier. Ihm ist nicht klar, ob das, was er sieht oder zu sehen meint, real ist. Denn der sechsarmige Kronleuchter mit den leinenbezogenen Schirmen dürfte dort nicht sein. Ist es überhaupt sein Schlafzimmer? In der Luft hängt Krankenhausgeruch. Doch ja, es ist sein Bett, eindeutig. Obwohl es nicht wie gewohnt in der Ecke steht, sondern mitten im Raum, umgeben von angsteinflößenden Apparaturen, die das Zimmer seiner Annehmlichkeit berauben: Schwenkbarer Infusionsständer. Beatmungsgerät. EKG-Apparat mit Elektrokardioskop.

 

Wie mager seine Finger sind. Er bewegt eine Hand, hebt sie über Kopfhöhe und fühlt ein lebendiges Prickeln, das sich im ganzen Arm ausbreitet bis in die Schulter. Eine Nadel steckt im fleckigen Handrücken, gesichert mit einem Streifen Heftpflaster. Aber der Schlauch, der die Kanüle mit dem Infusionsgerät verbindet, ist abgezogen. Schalten sie die Apparate ab. Der Patient hat keine Überlebenschancen.

 

Vielleicht ist Totsein ja wie Träumen. Man ist tot und weiß es. So wie man auch träumen und gleichzeitig wissen kann, dass man träumt. Leben nach dem Tod, aber im Diesseits.

 

Das letzte, woran er sich erinnert, ist das vertrauliche Gespräch mit Frau Dr. Klepper, am Abend des Tags von Kiesingers Besuch bei ihm. Wegen seiner gereizten Bronchien konnte er nur mit gedämpfter Stimme sprechen. Ganz direkt hatte er die Ärztin gefragt: „Sagen Sie mal, Frau Doktor... Steht es wirklich so schlimm um mich, wie alle behaupten?“

 

Die ehrliche Antwort, auf der er bestanden hatte, erhielt er nicht. Stattdessen räumte die Ärztin ausweichend ein, er sei sehr krank gewesen, aber jetzt gehe es besser. Woraufhin er von ihr wissen wollte, ob sie damit meine, dass es für ihn an der Zeit sei, sein Testament zu machen. Es war scherzhaft gemeint. Ein Testament ist doch eine Sache, die ausschließlich für Todgeweihte von Nutzen ist. Wie oft wird es geändert und umgeschrieben, wenn sich die Einschätzung als Irrtum erweist. Doch auch diese simple Frage beantwortete die Frau Doktor nicht mit Ja oder Nein. „Jedermann ist gut beraten, wenn er das tut“, sagte sie zögernd. Da begriff er, dass sie ihn in Wahrheit für todgeweiht hielt. Sie und Professor Dyx mussten ihn zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschrieben haben.

 

Trotz seiner Erschütterung, die er sich nicht anmerken ließ, versprach er, die Sache schnellstmöglich in Angriff zu nehmen; gleich morgen werde er mit seinem Sohn Paul darüber sprechen. Warum auch nicht. Ein Testament aufzusetzen bedeutet, sich einer Situation zu stellen. Also gewissermaßen vorausschauende Politik. Hab mein Leben lang nichts anderes gemacht.

 

Und dieses Versprechen ist das letzte, an das er sich klar und deutlich erinnern kann. Alles, was danach passierte, verschwimmt in der Rückschau zu einem wilden, traumartigen Durcheinander, einer Zeit ohne Zeit, in der der Schmerz kam und ging. In seinen Wachphasen nahm er Lichtmuster und Bewegungen um sich herum wahr, dann und wann auch, wie unter einem Glassturz, ein verzerrtes Gesicht, das durch sein Blickfeld glitt. Immer wieder hörte er Stimmen, konnte Worte unterscheiden, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich ausgesprochen wurden oder ob es nur seine auf Abwege geratenen Gedanken waren. Einmal meinte er, die Glocken von St. Mariä Heimsuchung zu hören, die vierstimmig zum Gottesdienst riefen, dumpf-melancholisches Stahlglocken-Gedröhne, Geschenk des Bochumer Vereins für Gussstahlfabrikation zu seinem achtzigsten Geburtstag.

 

Er schlägt die Bettdecke zurück und stellt fest, dass sein schönes dunkelblaues Nachthemd gegen ein kurzes Pflegehemd vertauscht wurde. Und eine Schutzhose hat man ihm angelegt. Alt-Bundeskanzler? Dass ich nicht lache. Sogar der letzte Respekt ist vor die Hunde gegangen.

 

Er richtet sich halb auf, trotz der dumpfen Schmerzen in Brust und Rücken. Das Laken fühlt sich kühl und glatt an, poliertem Marmor nicht unähnlich. Langsam schiebt er seine Beine über den Bettrand, knochige, papierbleiche Beine mit einem Muster aus violetten Adern. Seine Füße baumeln in der Luft, an den Sohlen schrundige, verhornte Haut, aber die Nägel sind sauber geschnitten. Darauf wurde geachtet. Er rutscht noch ein Stück nach vorn, tastet mit den Zehen nach seinen Lederpantoffeln, aber da ist nichts. Weggeräumt. Keine Überlebenschancen.

 

Auch seine übrigen Anziehsachen kann er nirgendwo entdecken. Über dem Fußteil seines Bettes hängt ein weißer Medizinerkittel. Vielleicht hat ihn Professor Dyx nach der letzten Untersuchung liegenlassen. Oder er gehört einer Pflegekraft, einem dieser fremden Menschen, die das Zimmer mit ihm geteilt, die Nächte bei ihm verbracht haben. Er stützt sich mit beiden Armen auf die Bettkante, stemmt sich vorsichtig hoch und steht. Merkwürdig formlos fühlen sich seine Beine an. Für einen kurzen Moment hat er das angenehme Gefühl, nicht der Schwerkraft zu unterliegen. Dann ein seltsames Prickeln in den Füßen, Nadelstiche an den Schläfen und ein helles Summen in den Ohren; die Perspektive kippt, und er muss sich schnell wieder hinsetzen.

 

Es dauert einen Moment, bis sich die Zimmerecken wieder gradlinig zusammenfügen. Als das Schwindelgefühl vorüber ist, kommandiert er sich zu einem zweiten Versuch und erhebt sich. Zögernd schlüpft er in den weißen Kittel; erst mit dem einen, dann, etwas mühsamer, mit dem anderen Arm. In dieser Aufmachung fühlt er sich ein ganzes Stück sicherer. Zitternd vor Anstrengung und gleichzeitig erleichtert, sie bewältigt zu haben, steht er da und wischt sich mit dem steifen Ärmel den Schweiß von der Stirn.

 

Schwankend nähert er sich dem Biedermeiertisch, der von der Zimmermitte in die Ecke, in der bis dahin sein Bett gestanden hat, verschoben worden ist, und lässt sich in den Polsterstuhl fallen. Erschöpfung macht sich in ihm breit. Gleichwohl registriert er mit Missfallen, dass auf dem Tisch ein Stapel Illustrierte liegt. Hätten sich die Nachtwachen die Zeit nicht mit dem im Haus vorhandenen reichen Bücherangebot vertreiben können? Nebenan im kleinen Zimmerchen stehen drei Meter Kriminalromane. Außerdem habe ich schon vor Jahren extra den Fernseher anschaffen lassen. Gegen die Langeweile. Die Frauen kommen sonst womöglich auf dumme Gedanken. Gehen in die Stadt, besuchen Wirtschaften, legen sich Verehrer zu. Vor Jahren hat es doch eine geschafft, unten mit einem der Beamten von der Sonderwache anzubandeln; hastenichtgesehen war sie verheiratet und fort. Nein, die Weiber sollen abends hübsch zuhause bleiben. Das Gerät steht im Vorraum der Küche; selten setzt er sich, wenn die Frauen mit ihrer Arbeit fertig sind und sich vor dem Gerät versammeln, für ein paar Minuten dazu.

 

Für Alleinstehende, die sich anders nicht beschäftigen können, mag das Fernsehen noch angehen. Für Familien ist es pures Gift. Statt geselligem Miteinander nur noch stummes Nebeneinander. Einschalten, um abzuschalten. Unterhaltung frei Haus, wie Strom und Gas.

 

Hab von Anfang an einen gewissen Argwohn gegenüber dem Fernsehen gehabt. Nicht bloß, weil es auf Kosten von Buch und Theater geht. Und auch das Radio an Attraktivität verliert. Dieses graublaue Geflimmer, und dann das Wechselnde da drin, das ist nicht gut. Zum einen Auge rein, zum andern raus – das funktioniert ja leider nicht. Die Nachbilder kreiseln einem noch die ganze Nacht im Kopf, und das Gehirn wird dadurch kolossal überanstrengt. Ein Buch kann man mal langsamer, mal schneller lesen, das ist ganz in das eigene Belieben gestellt. Wer das Fernsehen mit Aufmerksamkeit verfolgen will, wird automatisch in ein gewisses Tempo eingespannt. Das ist eine viel größere geistige Inanspruchnahme als zwei Stunden lang in einem Buch zu lesen. Der Brando, wie der das erste Mal den Fernsehapparat in Funktion erlebte, hat er bloß mal am Gerät geschnüffelt, ist einmal herum gegangen, hat kurz auf der Rückseite geschnüffelt und sich wieder hingelegt. Würdigt den Apparat seitdem keines Blickes mehr. Kluger Hund. Scharf und klug.

 

Vor kurzem brachte das Erste eine Sendung über Wisente. War einigermaßen interessant. Jedenfalls nicht uninteressant. Der Wisent ist in Europa das, was in Amerika der Indianerbüffel war. Als Zootier kann er sehr alt werden und dann, genau wie ein Mensch, erblinden und seine Zähne verlieren. So ein Zootier ist aber kein bisschen zahmer als ein wildlebendes. Selbst ein in Gefangenschaft geborener Wisent verliert nie sein Misstrauen, bleibt störrisch und unlenksam. In freier Wildbahn scheinen diese Urviecher ein friedliches Leben zu führen; in der Brunftzeit können sie wild und jähzornig werden, besonders die alten Stiere, und von diesen wiederum besonders die einsiedlerisch lebenden. Es heißt sogar, dass ihre Wildheit im Alter noch zunimmt. Bei jeder Abänderung ihrer Lage und Gewohnheiten kippt ihre an sich friedfertige Gesinnung sofort ins Gegenteil. Grelle Farben mögen sie nicht. Rot soll regelrechte Wut bei ihnen erregen. Die Natur weiß schon, was richtig ist.

 

Am Vorabend von Kiesingers Besuch lief eine neue Folge der „Unverbesserlichen“. Die erste halbe Stunde habe ich mitgeguckt. Befremdlicher als mit den Komantschen auf Büffeljagd zu ziehen. Dramatisiertes Berliner Familienleben in sozialdemokratischem Milieu. Die Meysel sympathisiert ja öffentlich mit der SPD. Moderne Menschen, diese Unverbesserlichen. Gehen nie zur Kirche, dafür auf den Fußballplatz. Scheidung, Geldnot, Wohnungsmangel, Arbeitslosigkeit, Glücksspiel. Das Normale interessiert nicht, nur die Abweichung. Unverbesserlich, das klingt so wohlwollend. Ach, ihr seid einfach unverbesserlich! Sind sie nicht! Im Gegenteil, sie sind äußerst verbesserungsbedürftig. Unverbesserlich ist jemand wie Don Camillo. Den sollte man mal für das deutsche Fernsehen adaptieren. Schlitzohriger katholischer Priester in einer rheinischen Kleinstadt im ständigen Streit mit dem Bürgermeister, evangelisch und SPD. In der Titelrolle unser Jupp Schmitz. Das wär mal was für die ganze Familie.


 

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