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Aktualisiert: 31. Dez. 2024

Auch unter den Anglern gibt es also fiese Typen. Scharoun hat davon nichts erwähnt. Vielleicht wollte er mir nicht den Mut nehmen. Im Grunde wundert es mich nicht. Man spricht ja auch von Angeln als Sport. Und Sport heißt Konkurrenzkampf. Der Kerl hat sich nicht schlechter benommen als der Dicke im Parteivorstand. Kampf um die Vorherrschaft.

 

Zum Glück sind da die Jungens. „Guten Tag, die Herren“, ruft Adenauer.

 

Die Jungen drehen sich um. „Hermann Josef!“ ruft Jakob mit fröhlich strahlendem Gesicht. „Wir haben schon drei Barsche gefangen! Willst du mal sehen?“

 

„Du sollst nicht Du zu Erwachsenen sagen, sondern Sie“, ermahnt ihn Andreas. „Und Herr! Und Ihnen!“

 

„Jajaja“, grummelt Jakob beleidigt. „Guck mal, Herr Mann Josef!“

 

„Er kapiert es einfach nicht“, stellt Andreas resigniert fest.

 

„Hier bitte“, sagt Jakob und hebt stolz den Deckel vom gelben Plastikeimer.

 

„Donnerwetter“, sagt Adenauer anerkennend, nachdem er einen kurzen Blick auf die Ausbeute geworfen hat. „Ich hoffe, dass ihr noch ein paar Fische für mich übriggelassen habt.“

 

„Warum denn, Sie? Herr Mann Josef? Willst du etwa auch angeln?“

 

„Was glaubt ihr, warum ich hier bin? Schaut mal, was ich habe“, sagt Adenauer und öffnet seine Aktentasche.

 

„Angelzeug“, stellt Andreas mit einem kurzen Blick fest.

 

„Ich dachte, dass ihr mir vielleicht beim Zusammenbauen helfen könnt.“

 

„Klar. Halt mal“, sagt Andreas und drückt seinem Bruder die Rute in die Hand.

 

Adenauer reicht ihm den Inhalt der Tasche, den Andreas fachmännisch kommentiert: „Eine Rute, zerlegt, Aufwinder mit Schnur, drei Vorfächer, drei Schwimmer, ein Bleigewicht, Bleischrot, ein Vierer-, ein Sechser-, ein Achter-Haken.“

 

 „Und alles für 9 Mark 95!“, erklärt Adenauer.

 

„So teuer?“

 

„Dafür ist sie aber auch fast acht Meter lang. Also mit der Schnur zusammen. Damit kommt man doch ganz schön weit rein in den Rhein.“

 

„Rein in den Rhein“, wiederholt Jakob und hüpft, Andreas‘ Angel in der Hand, ein Stück Richtung Fluss. „Hahaha. Rein in den Rhein.“

 

Andreas steckt die drei Bambusstangen zusammen, wickelt ein Stück Schnur vom Aufwinder, zieht nach kurzer Überlegung den stabförmigen der drei Schwimmer auf und drückt, eine Handbreit unterhalb des rot und weiß gefärbten Korks, fünf von den kleinen, in der Mitte gespaltenen Bleikugeln in gleichmäßigem Abstand auf der Schnur fest zusammen. Dann nimmt er das Ende der Schnur und verbindet sie mit einem Vorfach. „Das macht man“, erklärt er, „damit man nicht die ganze Schnur verliert, wenn sie sich irgendwo verheddert. Das Vorfach ist dünner und reißt schneller. Wenn das passiert, ist nur der Haken futsch.“

 

Adenauer nickt anerkennend. „Das ist weitsichtige Politik. Das Risiko so klein wie möglich halten.“

 

Zum Schluss bindet Andreas sorgfältig den Sechserhaken ans Ende des Vorfachs, wickelt die restliche Schnur vom Aufwinder und befestigt das andere Ende an der Rutenspitze.

 

„Wenn Sie fertig sind, nachher“, sagt Andreas und drückt Adenauer den Aufwinder in die Hand, „haken Sie den Haken hier oben ein. Dann können Sie die ganze Schnur aufwickeln.“

 

„Mitsamt dem ganzen Gedöns?“

 

„Klar. Weil: Das Blei stört nicht. Und den Schwimmer können Sie ja verschieben, bis er genau an der richtigen Stelle sitzt. Den Aufwinder machen Sie mit einem Gummiband an das dünne Ende dran. Beim nächsten Mal geht es dann ruckzuck. – Und womit angeln Sie?“

 

„Wie bitte? Na, mit der Angel hier.“

 

Andreas lächelt. „Nein, welchen Köder haben Sie dabei?“

 

„Ach Gott. Weißt du was? Ich habe gar nicht an Köder gedacht. Der Verkäufer ging wahrscheinlich davon aus, dass ich die im Garten ausgrabe.“

 

„Wir können dir welche von unseren abgeben“, bietet Jakob an.

 

„Sie, Ihnen, Herr!“, verbessert ihn Andreas.

 

„Sie Ihnen abgeben, Herr Mann Josef“, wiederholt Jakob. „Wir haben Regenwürmer und Maden. Ganz eklige Maden, aus dem Mistbeet von Frau Rixen. Willst du die vielleicht mal sehen?“

 

„Ich kann mich beherrschen“, sagt Adenauer und schneidet eine Grimasse.

 

„Wir haben auch andere Köder“, erklärt Andreas. „Hier in dem Döschen sind Würmer. Da drin sind Fliegen.“

 

„Die sind aber nicht echt!“ schreit Jakob dazwischen.

 

„Nicht echt?“ wundert sich Adenauer.

 

„Nein“, bestätigt Andreas und öffnet das Döschen. „Die sind aus Plastik. Sehen Sie das kleine Loch? Da wird die Angelschnur befestigt. Dann kann man die Fliege durchs Wasser ziehen.“

 

„Manche Fische fallen darauf rein“, bestätigt Jakob. „Manche aber auch nicht. Das sind die Oberschlauen.“

 

„So, so. Und was macht man bei den Oberschlauen?“

 

„Für die nimmt man echte Fische.“

 

„Sardinen wahrscheinlich“, sagt Adenauer. „In dem Roman, den ich mal im Urlaub gelesen habe, hat ein alter Mann Sardinen als Köder genommen.“

 

Andreas bedenkt ihn mit einem mitleidigen Blick. „Sardinen gibt es nur im Meer. Wir nehmen kleine Weißfische.“

 

Das Balg hält mich für geistig zurückgeblieben, denkt Adenauer. Das habe ich jetzt davon, dass ich mit meiner Romanlektüre gestrunzt habe. „Na gut“, sagt er. „Und wie kommt ihr an die dran?“

 

„Wir fangen sie mit dem Netz“, erklärt Andreas.

 

„Das kann ich machen, Herr Mann Josef!“ schreit Jakob.

 

„Die werden auf den Haken gesteckt und dann lässt man sie einfach von der Strömung treiben. Darauf beißen die Großen. Hechte, Zander… Manchmal auch Barsche.“

 

„Und worauf soll ich angeln?“

 

„Ich würde sagen: auf Rotaugen.“

 

„Hmm. Rotaugen. Ob die bei mir anbeißen?“

 

„Bestimmt. Davon gibt es viele im Rhein.“

 

„Sind die groß?“

 

„So mittel.“

 

„Und mit welchem Köder?“

 

„Mit Wurm. Darauf beißen die meisten Fische.“

 

„Gut. Wurm ist mir am liebsten. Mit dem bin ich vertraut.“

 

„Wieso denn?“ fragt Jakob. „Essen Indianer Regenwürmer?“

 

„Nicht dass ich wüsste“, antwortet Adenauer. „Ich will damit nur sagen: Der Regenwurm ist unser Freund. Im Garten ist er sehr nützlich. Und man kann ihn gut anfassen. Er hat so gar nichts Ekliges.“

 

„Stimmt“, pflichtet ihm Jakob bei.

 

Andreas öffnet das Döschen und zieht mit zwei Fingern einen kleinen Wurm heraus, nimmt den Haken zwischen zwei Finger der anderen Hand und schiebt den Wurmkörper vorsichtig auf das goldgelb blinkende Metall.

 

„Das tut ihm bestimmt weh, oder?“, fragt Jakob, ohne den Blick vom Wurm zu wenden.

 

„Na ja“, erwidert Adenauer. „Mit Speck fängt man Mäuse. Und aus Erfahrung kann ich sagen, dass Regenwürmer ziemlich robust sind. Wenn man beim Umgraben mal einen aus Versehen halbiert, werden daraus zwei neue.“

 

„Fertig“, verkündet Andreas und reicht Adenauer die Angelrute, die steil nach oben zeigt. „Vorsicht mit dem Haken! Sie müssen die Angel immer hochhalten, damit die Angelschnur nicht auf dem Boden schleift.“

 

„Danke sehr“ sagt Adenauer. Jakob und Andreas sehen ihm zu, wie er sich, den Spazierstock in der linken, die Rute in der rechten Hand, auf den Fluss zu bewegt; vor ihm in Kniehöhe pendelt das Vorfach mit dem Köder am Haken.

 

„Hoffentlich fange ich heute mehr als nur einen Wurm“, ruft er den Jungen über die Schulter zu.

 
 
 

Am Sonntagnachmittag lässt sich Adenauer von Scharoun hinunter zum Rhein fahren; um 18 Uhr soll er ihn an gleicher Stelle, vor dem Hotel Bellevue, wieder abholen. Er hat lange überlegt, was die passende Kleidung für seinen Angelausflug wäre, und sich dann für einen seiner ältesten Anzüge, den er nur noch bei der Gartenarbeit trägt, und den hellgrauen Staubmantel entschieden. Aus seiner abgeschabten Aktentasche ragt die zerlegte Angelrute, die er gestern in Bonn gekauft hat. „Ein Anfängermodell“, hat ihm der Verkäufer erklärt, „genau das Richtige. Damit können Sie sofort loslegen.“


Hoffentlich sind die beiden Jungen von neulich heute hier. Ohne die bin ich aufgeschmissen.

 

Den Strohhut aus Cadenabbia tief ins Gesicht gezogen, stapft er durch den Biergarten des Hotels, wo im Laubschatten alter Kastanienbäume Kaffeegäste an Metalltischen sitzen. Gut, dass sie einem alten Mann keine Beachtung schenken.

 

Am Treppenabgang bleibt Adenauer einen Moment stehen. Das ist also die Welt der Angler, die Scharoun so gepriesen hat. Unter dem sanft blauen Himmel glänzt der Fluss wie mattes Silber. Dicht hintereinander schieben sich vor dem Rodderberg drei Schiffe den Rhein hinauf, Schüttgutkähne im Konvoi, schwerbeladen, den Bug knapp über dem Wasser, das nach dem heftigen Regen der vergangenen Wochen jetzt schneller fließt und höher steht als üblich.

 

Die Buhnen, Aufschüttungen aus gebrochenem Säulenbasalt, die hier zum Uferschutz in unregelmäßigem Abstand bis zu hundert Meter tief in den Fluss ragen, sind anscheinend beliebte Angelplätze. Überall kauern Gestalten, einzeln oder in Zweiergruppen, halten lange Angelruten in der Hand oder haben sie neben sich im Boden verankert. Einige sitzen auf Klappstühlen, rauchen und starren müßig ins Wasser oder scheinen zu dösen. Selbst der Schwimmanleger ist mit zwei Anglern besetzt. Weiter hinten wandert einer langsam das Ufer herab und hantiert dabei mit seiner Angel wie ein Kutscher, der die Peitsche über seinem Gespann schwingt. Will der die Fische zu seinen Kollegen scheuchen? Oder hat er eine ganz spezielle Fangtechnik entwickelt? Und wo zum Teufel sind die Jungens?

 

Gottseidank, da sind sie. Etwa in der Mitte der Buhne starren die beiden angestrengt ins Wasser, der Große mit der Angelrute, der Kleine mit dem Netz bewaffnet.

 

Eine Hand am Geländer, tappt er langsam die Stufen zum Rheinufer hinunter. Er freut sich auf das Abenteuer. Vorhin hat er noch einmal die Stelle im Matthäus-Evangelium nachgelesen, wo Jesus das Himmelreich mit einem Fischernetz vergleicht, mit dem, wie es in der Jüngerbelehrung wörtlich heißt, Fische aller Art gefangen werden.

 

Was für eine schöne, anschauliche Erzählung. Um sie nachvollziehen zu können, muss man nicht extra aufs Meer hinausgefahren sein. Sowas kann sich auch hier am Rhein zutragen. Als das Netz voll war, zogen sie es heraus an das Ufer, setzten sich und lasen die guten in Gefäße zusammen, aber die schlechten warfen sie weg. Die nach Karbol schmeckten. Wenn es damals schon Karbol gab. Wird am Rhein überhaupt noch mit Netzen gefischt? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht mit Harpunen. Dieser kleine Klugscheißer. Wie hießen die beiden noch? Der Kater hieß Konni, aber die Jungens? Ich habs vergessen. Wer zwei Dutzend Enkel in allen Preislagen hat, kann sich nicht jeden Namen merken.

 

Als kleine Kinder hatten wir mal die Idee, an den Rhein zu gehen und zu angeln. August kann nicht älter als sieben gewesen sein. Da war ich also drei. Mutter hat es uns aber verboten. Sie hatte Angst, wir würden ins Wasser fallen. Mutter war eine ängstliche Frau. Jedenfalls nicht unängstlich. Wenn ein Gewitter drohte, schloss sie sofort alle Fensterläden, damit der Blitz nicht im Zimmer einschlug. „Ihr könnt zum Fenster raus angeln“, sagte sie. Konnte ja nicht ahnen, dass wir sie beim Wort nehmen würden. Unsere Angeln bestanden aus je einem Besenstiel, einem Stück Schnur und einer Sicherheitsnadel. Die hielten wir dann so zum Fenster raus, dass die Nadelspitzen knapp über den Köpfen der Passanten unten auf dem Bürgersteig schwebten. Dauerte nicht lange, da klingelte es und Schnäuzekowski trat auf den Plan, unser Polizeiwachtmeister. „Frau Adenauer“, sagte Schnäuzekowski, „dat jeht nit“. Und damit war das Angelabenteuer beendet.

 

Auf dem Uferstreifen macht sich zwischen Schwemmsand und Kieseln wilder Bewuchs breit: Erlen, Weidengebüsch, Wolfsmilch, Bärenklau, Blutweiderich; letzterer eingehüllt in eine summende Wolke winziger Mücken. Ihre Wurzeln sind in den pflasterartigen Basaltbelag eingedrungen und haben überall Fugen aufgesprengt. Dazwischen Totholz, Muschelschalen, Vogelfedern. Rostige Dosen und Flaschenscherben liegen verstreut um schwarze, niedergebrannte Feuerstellen. Dazu der typische Flussgeruch und das Geräusch der Wellen.

 

Unbequemes Terrain, diese Buhnen. Veralgte Steinquader, einige von der Gewalt der Wassermassen aus dem Mosaikverbund gelöst, die Löcher verfüllt mit Treibgut, zwischendurch Inseln aus dürrem, vertrocknetem Gras. Vorsichtig einen Fuß vor den andern setzend, nähert er sich den ersten beiden Anglern. Der eine hockt auf den Fersen, dreht ihm halb den Rücken zu und ist dabei, einen zappelnden glänzenden Fisch vom Haken zu lösen; der andere, in einer grünen Armeejacke, hat gerade die Schnur eingeholt und kontrolliert das blinkende Ende in seiner Hand.

 

„Guten Tag!“ begrüßt ihn Adenauer und stützt sich dabei auf seinen Gehstock.

 

Der Mann wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. Seine farblosen Augen sind überwildert von ergrauten Brauen, Bartstoppeln lassen sein verkniffenes Gesicht düster erscheinen. „Tag!“ erwidert er mürrisch, bevor er sich wieder auf seine Angel konzentriert.

 

„Und“, erkundigt sich Adenauer, „von Erfolg gekrönt?“

 

„Wat?“

 

„Ich meine: Fangen Sie was?“

 

„Geht so“, murmelt der Mann. „Nicht so wichtig.“

 

„Ist auch ein schönes Plätzchen“, stellt Adenauer fest.

 

„Wegen dem bin ich ja hier.“

 

„So friedlich“, ergänzt Adenauer.

 

„Jetzt nicht mehr“, erwidert der Mann trocken, dreht sich ein Stück zu Seite und spuckt in den Fluss.

 

„Na, Sie sind aber einer“, empört sich Adenauer.

 

„Ja, wat?“ sagt der Angler und hebt lauernd das Kinn. „Wat bin ich?“

 

Ein ungehobelter Kerl, ohne Manieren und ohne blassen Schimmer, wer da vor Ihnen steht, möchte Adenauer antworten. Stattdessen sagt er: „Ich wollte Ihnen gerade Gelegenheit geben, ihre ganze Fischfanggelehrsamkeit zu entfalten. Und stattdessen –“

 

„Moment, Männeken… Fischfangwat… Wie, entfalten? Wat wolln Se?“

 

„Ach, vergessen Sie‘s einfach“, erwidert Adenauer, stößt wütend seinen Spazierstock in den buckligen Untergrund und schreitet, ohne eine Entgegnung abzuwarten, eilig weiter.

 
 
 

Die Dollendorfer Fähre ist erreicht. Kaum ist die Limousine an Bord gerollt, werden die Taue eingezogen und das Signal zur Abfahrt ertönt, obwohl noch nicht alle Plätze belegt sind. Die Fährleute wissen Bescheid.

 

Früher kam es nach dem Ablegen häufig zu einer Begegnung zwischen Adenauer und den Fährpassagieren. Viele lösten ihr Ticket überhaupt nur mit der Absicht, während der fünfminütigen Überfahrt ein Autogramm zu ergattern. Manche hatten sogar ein konkretes persönliches Anliegen. Beide Parteien kamen öfter auf ihre Kosten: Den Autogrammjägern kritzelte er seinen Namenszug auf die durchs Wagenfenster gereichten Unterlagen, die Bittsteller bekamen entweder die Auskunft, an wen sie sich in ihrer Angelegenheit zu wenden hatten oder wurden kurz und verbindlich mit der Zusicherung beschieden: „Wir werden der Sache nachgehen“. Manchmal passierte es auch, dass plötzlich jemand hervortrat, nach seiner Hand griff, sie festhielt und irgendeinen Dank stammelte, Dank für etwas, das er für uns Deutsche getan habe. Noch häufiger aber blieb das Wagenfenster verschlossen, weil er in die Lektüre von Zeitungen oder Dokumenten vertieft war oder zumindest so tat.

 

Mittlerweile sind solche Zufallsbegegnungen mit dem Wahlvolk selten geworden. Wie gut tat es ihm, als ihn einmal auf der Fähre ein Herr ansprach, sich als Textilkaufmann aus Gelsenkirchen vorstellte, sich kurz nach seinem Befinden erkundigte und dann sofort loswetterte: „Herr Bundeskanzler, wissen Sie was, die machen uns alles kaputt in Bonn. Die zerschlagen alles, was von Ihnen so mühsam aufgebaut worden ist. Es ist eine Schande, dass ein Genie, wie Professor Erhard es sein soll, so schlecht beraten wird. Ohne Sie ist der Laden nicht mehr das, was er mal war.“

 

Heute aber interessiert sich niemand für den Insassen des auffälligen Fahrzeugs. Auch nicht der Kassierer, der inzwischen mit seinem Rundgang begonnen hat.

 

Adenauer lässt die Seitenscheibe herunter. Der Fahrer des Sportwagens vor ihm ist für die kurze Überfahrt ausgestiegen, lehnt mit dem Rücken gegen sein Cabrio und lässt sich von der Vormittagssonne bescheinen. Angezogen wie ein Italiener. Zerknitterter Leinenanzug, darunter ein dunkelblaues Hemd, zweifarbige Sommerschuhe und die Sonnenbrille im dunklen, nach hinten gekämmten Haar. Ein Tourist auf Rheintour? Eher ein Gigolo, auf Eroberung aus. Oder ein Restaurantbesitzer aus Bonn. Der Kassierer händigt ihm zusammen mit dem Wechselgeld seinen Fahrschein aus und ist schon unterwegs zum nächsten Fahrzeug, als der Gigolo ihm hinterherruft: „Wissen wie geht Cancelliere?“

 

Der Kassierer dreht sich kurz um und starrt sein Gegenüber verständnislos an. Der wiederholt die Frage, diesmal zugespitzt: „Isse kaputt, Adenauer?“

 

Der Kassierer zuckt mit den Achseln und widmet sich dem nächsten Tauschgeschäft; der Gigolo macht eine wegwerfende Handbewegung und dreht sich auf dem Absatz herum. Im selben Moment ruft der Fahrer des blauen Opel Rekord rechts vor ihnen, dessen ausgestreckter Arm mit dem Fahrschein zwischen den Fingern lässig in der Fensteröffnung liegt, in Richtung des Italieners: „Was sagen Sie? Der Adenauer ist gestorben?“

 

Als Adenauer bemerkt, wie Scharoun den Blick hebt, um durch den Rückspiegel Kontakt mit ihm aufzunehmen, bringt er ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. Gebannt beobachtet er, wie der Kassierer aus der Hand des Mannes im Opel den Fahrschein entgegennimmt, einen prüfenden Blick darauf wirft, ein Loch hineinknipst und ihn wieder zurückreicht, bevor er um das Fahrzeug herumgeht und aus seinem Blickfeld verschwindet.

 

„Habe gehört“, ruft der Gigolo heckwärts in Richtung des Opelfahrers, „Adenauer letzte Jahr sehr kranke. Vielleicht kaputt! Wissen was?“

 

Der Andere beugt sich aus dem Fenster. Ein Mann auf dem Weg zum Dicksein, mit dem Ansatz eines Doppelkinns und beginnender Glatze. Zu seinem hellgrauen Jackett trägt er einen flammendroten Schlips.

 

„Nee, ich weiß nichts“, antwortet er. „Komm gerade erst vom Flughafen. Letztes Jahr soll er Lungenentzündung gehabt haben. Stand in allen Zeitungen.“

 

Scharoun hat bis dahin nervös auf dem Lenkrad herumgetippt. Jetzt dreht er sich entschlossen um. „Herr Bundeskanzler“, sagt er mit bittendem Blick, „soll ich nicht –“

 

„Wieso denn?“, unterbricht ihn Adenauer. „Vox populi, vox Rindvieh.“

 

„Aber es ist respektlos, in der Öffentlichkeit so über Sie zu reden“, rechtfertigt sich Scharoun. „Und außerdem ist es gefährlich, wenn derartige Gerüchte verbreitet werden.“

 

„Gefährlich?“ Adenauer setzt ein verschwörerisches Lächeln auf. „Um so wichtiger ist es, Zeuge der Entstehung solcher Gerüchte zu sein.“

 

„Ganz wie Sie meinen, Herr Bundeskanzler“.

 

Der Italiener macht ein paar Schritte auf den Opel zu. „Mein Schwester in Rhöndorf sage, Adenauer lange nicht mehr in Messe. Ist alte Mann, Cancelliere. Novanta anni e più. Für so alte Mann kann kommen Tod ganze schnell.“

 

„Sicher“, ruft der Opelfahrer und presst beide Hände aufs Lenkrad, wie wenn er es kaum abwarten könne, weiterzufahren. „Vorletztes Jahr hat er seinen Neunzigsten gefeiert. Trotzdem hätte ich dem alten Herrn noch ein paar Jährchen gegönnt.“

 

Wie nett, denkt Adenauer. Die beiden tun geradeso, als würde ich nur noch eine Scheinexistenz führen. „Bleiben Sie sitzen“, sagt er zu Scharoun, betätigt den Türöffner, setzt draußen erst das eine, dann das andere Bein auf die Erde, und richtet sich neben der Wagentür auf.

 

„Meine Herren“, ruft er, und sein Mund verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen. „Was reden sie denn da?“

 

Der Opelfahrer sieht über die Schulter in seine Richtung, aber weil Adenauer außerhalb seines Blickfeldes steht, bleibt er die gewünschte Antwort schuldig.

 

Der Italiener dreht sich zu ihm, schaut aber gegen die Sonne. Verunsichert, weil er den Sprecher nicht erkennen kann, weicht er auf eine Gegenfrage aus: „Sai qualcosa del dottor Adenauer?“, woraufhin sich der Opelfahrer erneut angesprochen glaubt: „Vielleicht ist das Gerede von Krankheit nur eine Intrige. Von seiner eigenen Partei, um ihn endgültig aufs Altenteil zu schicken. So eine Art Stubenarrest. Ich denke, der ist denen immer noch zu mächtig.“

 

„Era un profeta per l'Europa“, ruft der Italiener. „Avevamo sperato nel suo potere. Ma i capi lo fecero crocifiggere.“

 

Profeta und crocifiggere hat Adenauer verstanden. Der Mann meint es gut mit ihm. „Mein lieber Herr“, ruft er, „so ist das eben.“

 

Den Gedanken weiter auszuführen, gelingt ihm nicht, denn im selben Moment erreicht die Fähre das Ufer in Bad Godesberg. Die Dieselmotoren dröhnen stoßartig auf, die Schiffsschrauben verwirbeln kräftig das Wasser, und die Heckklappe der Fähre schiebt sich langsam auf die Betonrampe. Adenauers Gesprächspartner verzichten auf eine Erwiderung. Der Opelfahrer betätigt den Anlasser, der Italiener steigt wieder in seinen Sportwagen und tut es ihm nach, Adenauer nimmt wieder hinter Scharoun Platz. Der Kassierer und ein weiterer Mann springen an Land und machen die Taue fest. Dann rollen die ersten Wagen ins Freie.

 

Der Rhein hat jetzt die Farbe von geschmolzenem Blei, große Ölflecken glänzen in Regenbogenfarben. Am Ufer hat das Wasser kleine, mit dichtem Gebüsch gesäumte Buchten geformt und mit Sand und Schlamm gefüllt. Treibholz, verrostete Blechdosen und Flaschen liegen an ihren Rändern.

 

Wie bedauerlich, dass der Fluss nicht nur das Licht des Himmels, sondern auf seinem langen Weg auch allen Schmutz seiner Anlieger einzusammeln scheint. Überall Niedergang und Verfall. Überall Erinnerung an das Vergangene, Verlorene, Zugrundegerichtete.

 

Wenige Augenblicke später fährt die Limousine an der Rückseite der Villa Hammerschmidt, dann an der Front des Kanzlerbungalows vorbei. Posten bewachen die freie Einfahrt, dahinter Gewächshäuser, Rasenflächen, üppig bepflanzte Beete und Rabatten. Sollen wohl Ruhe und Frieden vorgaukeln. Palais Schaumbad hat der Volksmund das Ding getauft. Wegen dem eingebauten Swimmingpool. Mit seiner Rundumverglasung unter dem Flachdach sieht der Kasten ja auch aus wie ein Schwimmbad. Zwei Millionen soll der Spaß gekostet haben. Das haben die Steuerzahler der Repräsentationssucht des Dicken zu verdanken. Teuer bezahlte drei Amtsjahre. Scheußlich und unbehaglich. Wenns nach mir ginge, müsste der Architekt dafür mit drei Jahren Gefängnis büßen. Solche Leute gehören aus dem Verkehr gezogen und durch Baumeister mit wahrem Augenmaß ersetzt.

 

Geradeaus erhebt sich der Turm von St. Cyprian, der Kirche der Altkatholiken. Kein Deut besser. Im Hässlichkeitswettbewerb der neueren Sakralbauten sticht der Betonklotz sämtliche Rivalen aus. Sogar St. Mariä Heimsuchung in Rhöndorf, und das will was heißen. Wieso überhaupt Altkatholiken? Neuprotestanten wäre der angemessene Name. Kein Papst, kein Zölibat, kein Latein. Wie weit soll der Reformirrsinn eigentlich noch gehen?

 

Hier biegt Scharoun links ab, um nach weiteren anderthalb Kilometern unweit des Hauptbahnhofs vor einem schmalen vierstöckigen Wohnhaus mit verspielter Gründerzeitfassade zu halten. Im Erdgeschoss befindet sich ein Ladengeschäft, dessen Schaufenster von einer Markise und einem breiten Rahmen eingefasst ist. ANGELGERÄTE ACKERMANN steht in großen Antiquabuchstaben über der Eingangstür.

 
 
 
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