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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Mit Billigung seiner Ärztin kehrt Adenauer zwei Wochen später wieder zur Gewohnheit einer täglichen Promenade zurück. Für den ersten Spaziergang lässt er sich von seinem Chauffeur am Ende der Löwenburger Straße absetzen. Es drängt ihn, den Ort zu inspizieren, unter dessen Erde alle seine Liebsten ruhen und wo auch seine Lebensreise um ein Haar an ihr zeitliches Ende gelangt wäre.

 

Der Chauffeur heißt Scharoun, ist aber kein Verwandter, sondern nur ein Namensvetter des berühmten Architekten, der das kriegszerstörte Berlin vollständig abreißen und in eine von neuen Schnellstraßen kreuz und quer durchzogene Betonlandschaft verwandeln wollte. Ohne jeden Respekt gegenüber dem Gewachsenen und Gewordenen. Was sein Scharoun, hätte er je davon erfahren, aus verkehrstechnischer Perspektive zweifellos gutgeheißen hätte. Im Übrigen ist er ein zuverlässiger, erfreulich schweigsamer Mann, dessen dichtes, kurzgeschnittenes Haar mittlerweile, wo er dem Pensionsalter näher rückt, vom ursprünglichen dunklen Aschblond zu einem in Kombination mit seiner Livreejacke vornehm wirkenden Silbergrau gewechselt ist.

 

Scharoun zieht eine besorgte Miene, als sein Chef ihm beim Aussteigen erklärt, dass er seine Dienste heute nicht mehr benötige. Es ist noch nicht lange her, dass er Tag für Tag zwei Sauerstoffflaschen aus der Bonner Universitätsklinik geholt und durch den Hintereingang, ungesehen von der Meute der Fotografen, ins Haus geschmuggelt hat.

 

„Soll ich nicht lieber warten, Herr Bundeskanzler? Für alle Fälle?“

 

Adenauer schüttelt den Kopf. Der schwarze Mercedes kommt ihm mehr und mehr wie ein blankpolierter Sarg vor. „Nicht nötig. Ich will nur in aller Ruhe auf dem Gelände spazieren gehen. Und auf dem Rückweg werde ich mich schon nicht verlaufen. Na los. Ihre Frau wird sich freuen.“ Als der Wagen außer Sichtweite ist, stößt er einen Seufzer der Erleichterung aus.

 

Der Rhöndorfer Waldfriedhof liegt auf dem nach Süden zugewandten Abhang der Wolkenburg, wie der Nachbarhügel des Drachenfels heißt, auf dem sich einst die gleichnamige Burg befand. Kein melancholischer Ort, an dem einen schlimmstenfalls Depressionen überkommen. Vielmehr an schönen Tagen sogar so anziehend, dass man meinen könnte, der Tod sei hier fehl am Platz. Ortsfremde haben Schwierigkeiten, sich auf dem terrassierten Gelände zurecht zu finden, das in die Parklandschaft des hinteren Rhöndorfer Tals eingebettet ist und von einem Netz aus Brezelwegen in acht rundliche Grabfelder geteilt wird.

 

Im Rundfunk hatten sie mich schon für tot erklärt. Passiert auch nicht jedem. Vielleicht aus Vorfreude? Paul hat mir das erzählt. Auch, dass er mir schon die Sterbesakramente gespendet hatte. Monsignore Paul, mein Sohn und Seelsorger. Ihm zufolge befand er sich in einem derart moribunden Zustand, dass niemand aus seiner Umgebung noch ernsthaft Hoffnung hegte. Vor dem abgeschirmten Wohnhaus seien Dutzende Menschen versammelt gewesen, einige mit Ferngläsern, dazu Kamerateams und Fotoreporter mit kanonenförmigen Objektiven; die Familienmitglieder hätten bei jedem Besuch erst ein Spalier aus hochgereckten Hälsen und klickenden Kameras passieren müssen. Den Ärzten und Pflegern sei es nicht anders gegangen. Der Briefträger habe sogar von einem Bestechungsversuch durch die „Bild-Zeitung“ berichtet. Die Sensationspresse will auch alles verhackstücken. Bis zum letzten Schnaufer. Doch wie um das alte Sprichwort zu bestätigen, wonach Totgesagte länger leben, trat in jener Nacht, von der es hieß, es werde vermutlich seine letzte sein – Paul zufolge war das Fieber auf über vierzig Grad gestiegen, der Puls kaum noch fühlbar gewesen –, und alle mit seinem Ableben rechneten, die Wende ein. Der Herrgott muss es sich im allerletzten Moment anders überlegt haben. Ließ mich im Durcheinander des vermeintlich letzten Stündleins entwischen. Wir alle sind blind gegenüber seinen Absichten.

 

Langsam, aber zielsicher schreitet Adenauer den gewundenen Weg zum bergseitigen Rand im Norden des Areals hinauf. Was für eine großartige Idee der alten Ägypter, ihre Herrscher in Pyramiden von gewaltigen Ausmaßen beizusetzen. Sie dachten: Wenn man dem Vergessenwerden ein Schnippchen schlagen kann, dann mit diesem Ewigkeitsversprechen aus dichtgefügten Steinquadern. Dummerweise haben sie nicht Mnemosynes Fühllosigkeit bedacht, die den Mohn des Vergessens ohne Ansehen der Person streut. Nein, das Menschengedächtnis lässt keine Gerechtigkeit walten. Es sichert Ruhm wie Schande einen Platz. Wahrscheinlich ist in den Chroniken sogar häufiger von Spitzbuben die Rede als von Wohltätern der Menschheit. Zum Glück führt der liebe Gott ein eigenes Register.

 

Die meisten Grabsteine hier ziert neben der Inschrift nur ein schlichtes Kreuz, wenige sind kunstvoller gestaltet – mit einem Paar betender Hände, Weintrauben und Weinlaub, Tauben mit und ohne Ölzweig. Das eingemeißelte Fischsymbol ist oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Ein geflügelter Engel auf einem Pfeilerstumpf weist mit der linken Hand auf die Grabstätte der Winzerfamilie Broel, in der rechten hält er eine Tafel mit der Reliefaufschrift Auf Wiedersehen. Eine Hoffnung, die er teilt. Jesus ist auch wiedergekehrt. Kurz auferstanden, um sich zu zeigen. Wegen dem Augenschein. Der Mensch glaubt nur, was er sieht. Der Tod darf nicht das letzte Wort behalten. Wir gehen fort, um wiederzukommen. Daran glaub ich. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Seele mit dem Tod vernichtet wird. Irgendwie wird sie existent bleiben. Vielleicht als Sonderform der Materie, mit eigener Dimension. Bei Gott. Im Universum ist doch Platz genug. Wofür sonst gibt es diesen unendlichen Raum, der mit lauter Leere gefüllt ist? Die Wissenschaft ist allerdings darauf erpicht, das Gegenteil zu beweisen. Mit der Folge, dass immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Können ihre Lehren nicht mehr mit der Wissenschaft überein bringen. An dieser verfluchten Neugier und Wissbegier wird die Menschheit noch einmal zugrunde gehen. Man muss nicht in alles seine Nase stecken. Für Augustinus war das sogar eine schwere Sünde. Wissen soll uns zu Gott führen, nicht von ihm weg. Außerdem geschehen jeden Tag Dinge, die sich nicht erklären lassen. Zum Beispiel das Bestehen der Naturgesetze. Sie beschreiben und berechnen, das können wir. Das ja. Aber warum es sie überhaupt gibt und sie funktionieren... Das hat mir noch keiner erklären können.

 

Die erste Beerdigung auf dem Waldfriedhof hat 1921 stattgefunden. Bis dahin sind die Rhöndorfer in Honnef beigesetzt worden. Trotzdem findet sich unter den Grabmälern das eines 1840 verstorbenen Joseph Anton Steiger. Es wurde ebenso hierher verlegt wie die Adenauersche Familiengrabstätte. Ursprünglich befand sie sich auf dem Melaten-Friedhof in Köln, doch nach Gussies Tod hatte er Emmas sterbliche Überreste wie auch die seiner Eltern, seines Patenonkels und des kurz nach der Geburt gestorbenen Sohnes Ferdinand hierhin umbetten lassen, samt der für Emma errichteten Stele aus Muschelkalk, deren Relief als unübersehbares Zeichen des Glaubens den auferstandenen Christus mit einer Kreuzfahne und einem knienden Engel zu seiner Rechten zeigt.

 

Zwei Ehefrauen habe ich zu Grabe getragen. Von einem Tag auf den anderen sind sie aus meinem Leben verschwunden. Weg für immer. Beiden wäre vermutlich ein sehr viel längeres Leben beschieden gewesen, hätten sie auf das schwierige Leben an seiner Seite verzichtet. Die erste hatte ihm aufgrund ihrer Kölner Verwandtschaft den Weg in die Politik geebnet. Emma. Keine Schönheit auf den ersten Blick. Um die zu entdecken, musste man schon spitzfindig sein. Immer heimlich leidend, dabei zutiefst lebensbejahend. Kummer vermeidend, Fehler ignorierend, ein musisch-fröhlicher Charakter, der ihm in dem einen oder anderen seiner Enkelkinder manchmal wiederbegegnet. Gestorben nach zwölfjähriger Ehe an Nierenversagen nach einer banalen Pilzvergiftung. Der Rest der Familie hatte die Mahlzeit ohne größere Beschwerden überlebt, aber Emmas Nierenfunktion war durch eine Rückgratverkrümmung beeinträchtigt, drei Geburten hatten das Leiden noch verschlimmert. Die Kinder, die er mit ihr gezeugt hat, sind ihr Tod gewesen. Im Nachhinein ist man immer schlauer.

 

Der Rest des Jahres und auch das folgende waren erfüllt von körperlichem und geistigem Leid: Witwer mit drei kleinen Kindern, deren Erziehung er in fremde Hände geben musste, belastet durch ein Übermaß an Arbeit, die doch das einzig wirksame Narkotikum war für seinen Schmerz. Mit dem Verlust wirklich fertig zu werden – dabei half ihm auch die Vielzahl seiner Aufgaben nicht. Jeden Tag gab es Leerlauf, in dem die Gedanken auf ihn einstürmten. Und es gab die Nächte, dumpfe, leere, totenstille, qualvolle Nächte, in denen er sich, bevor die Wirkung der Tablette einsetzte, unruhig hin und her wälzte. War doch ein gesunder Mann, gerade Vierzig geworden, mit gewissen Bedürfnissen. Kann nicht leugnen, dass in den Nächten Dämonen mit weiblichen Körpern durch meine Träume geisterten, wie auf den Bildern vom Höllenbreughel. Wie Paul das wohl macht. Ein unchristlicher Lustegoist ist er wohl kaum. Klagt häufig über Kopfschmerzen, sicher deshalb. Ist jetzt fünfundvierzig. Glaube nicht, dass in seinem theologisch imprägnierten Gehirn noch Platz ist für erotische Phantasien. Oder dass er gewisse Häuser besucht. Hat sich meines Wissens nie interessiert für das unsaubere Ineinanderschlingen der Körper. Seine engelhafte Vorstellung von den Frauen lässt anderes nicht zu. Vielmehr von Kindesbeinen an fromm und gottesfürchtig. Hab ein ums andere Mal versucht, ihn von der Priesterschaft abzubringen. Ist mir nicht gelungen. Nicht einmal der Krieg hat seine religiöse Berufung geschwächt. Will selbst im Kanonendonner noch den Ruf Gottes gehört haben. Manche Menschen müssen anderen dabei helfen, ihre Seele zu retten, um ihre eigene zu retten. So einer ist Paul.

 

Wäre Gussie nicht gewesen, er wäre vielleicht längst nicht mehr am Leben. Was ihn schnurstracks zu ihr führte, der charmanten Nachbarstochter, war ein ungeheures Bedürfnis nach Trost, und sie war bereit, sich ihm zuzuwenden. Mit Warmherzigkeit und verschwenderischer Fürsorge machte sie ihm das Leben wieder lebenswert. Ihr Tod war in gewisser Weise ein Sühnetod. Sühne für eine Schuld, die sie meinte auf sich geladen zu haben, als er gegen Kriegsende untergetaucht war und sie im Gestapoverhör sein Versteck preisgegeben hatte. Danach wollte sie nicht mehr leben, hatte sich noch in der Haftzelle die Pulsadern aufgeschnitten und Schlaftabletten geschluckt. Aber sie überlebte. Unbeherrschbare Stimmungsschwankungen waren der Preis. Dreieinhalb Jahre später war sie an den Folgen der Medikamentenvergiftung qualvoll gestorben, und zum zweiten Mal musste er hilf- und machtlos zusehen, wie der Sarg mit den sterblichen Überresten seiner Ehefrau ins Grab gesenkt wurde.

 

Das Kreuz eines Doppelwitwers zu tragen ist weniger leicht, als die Leute meinen. Wieder eine neue Qualität von Leid, die jedes andere Leid, das er vorher durchlitten hatte, als bloßes Leid-Zitat erscheinen ließ. Eine ganze Woche lang blieb er unsichtbar, unsichtbar sogar für seine Familie. Verkroch sich in sein Arbeitszimmer, aß kaum, hörte eine Schubert-Schallplatte nach der anderen, zermarterte sich den Kopf über den Sinn all dessen, zweifelte sich gründlich aus, wie andere Leute eine Krankheit ausschwitzen, und fand am Ende zum Glauben zurück. Gott ist kein Hirngespinst. Nicht die Vernunft hat die Tür meines Gestapo-Gefängnisses geöffnet. Das war gottgewollt. Gottgewollt auch das Leiden. Es sind die Prüfungen, aus denen Stärke erwächst.

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Nächstes Heft. Vorne eine ganze Seite mit „Wienerwald“-Reklame. HEUTE BLEIBT DIE KÜCHE KALT – MIT HENDLN AUS DEM WIENERWALD. Das ist mal ein gescheiter Werbeslogan. Einprägsam wie „Vater, Mutter, Tochter, Sohn – alle wählen die Union“. Der Herr Jahn ist ja nicht nur ein guter Pilot, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, sondern auch ein guter Unternehmer. Beim „Wienerwald“ kostet ein halbes Hähnchen nur 3 Mark 50. Wieder einmal ein praktisches Ergebnis unserer Politik seit 1949.


Erschütternder Bericht über einen Mann aus Siebenbürgen, jahrelang zu Unrecht in einer Irrenanstalt festgehalten: 13 JAHRE IN DER SCHLANGENGRUBE. Wäre die passende Überschrift für meine Zeit als Bundesparteivorsitzender. Bei mir waren es sogar sechzehn Jahre.

 

Seine Hände sind feucht. Ein paar Schweißtropfen gleiten von seiner Stirn auf das Heft. Fortsetzung der Reportage IST AUF DIE AMIS NOCH VERLASS? Nein, ist es nicht. In der Berlinkrise haben sie auch den Schwanz eingekniffen. Mir als Kanzler waren ja die Hände gebunden. Um so mehr riss Brandt das Maul auf, als Bürgermeister konnte er das. Für den war der Mauerbau das große Glück seines Lebens. Endlich konnte er einmal auftrumpfen. Außer einem bisschen Repräsentieren und Redenhalten hatte er als Regierender Bürgermeister bis dahin doch noch gar nichts geleistet.

 

Was Brandt angeht, sind wir viel zu zimperlich. Unter den Nazis hat der Herr Frahm, oder wie er sich sonst noch genannt hat, seinem Vaterland ganz schnell den Rücken gekehrt. Ich selbst war auch gefährdet, als ehemaliger hoher Amtsträger. Jedenfalls nicht ungefährdet. Hab trotzdem nie darüber nachgedacht, zu emigrieren. Anders der Herr Frahm. Den Krieg hat er als norwegischer Soldat mitgemacht, ist sogar in Gefangenschaft geraten, aber die Deutschen in ihrer Gutmütigkeit haben ihn wieder laufen lassen. Das Wahlvolk findet anscheinend nichts daran, dass er in fremder Uniform gegen die eigenen Landsleute gekämpft hat. Seinen Urlaub verbringt er auch immer in Norwegen. Angeblich, weil er auf dicke Fische aus ist und da ungestört angeln kann. Kann er ja machen. Am besten bliebe er ganz da. Erschütternd, dieser Mangel an Nationalgefühl.

 

An der Mauer war hauptsächlich die Presse schuld. Kein Wunder, dass der Flüchtlingsstrom kein Ende nahm, wenn in den Zeitungen des Herrn Springer ewig die Rede war vom geteilten Berlin und vom Staatsgefängnis Ostzone. In meinem Interesse war das nicht. Meine Regierung hat die Bewohner der SBZ niemals eingeladen, nach Westdeutschland überzusiedeln. Sollen gefälligst drübenbleiben. In der Mehrzahl verlorene Seelen, religiös wie politisch. Immer mehr Ostflüchtlinge, das bedeutet immer mehr alten preußischen Geist, den sie östlich von Saale und Elbe 500 Jahre lang haben einschlucken müssen mit der protestantischen Taufe. Und nicht zuletzt der preußische Untertanengeist ist schuld daran, dass das deutsche Volk damals abwärts geglitten ist in Diktatur und Gewalt. Berlin darf niemals wieder zum Nabel Deutschlands werden. Vom Osten ist auf lange Sicht nichts Gutes zu erwarten.


Trotzdem ist es dummes Zeug, wenn die „Quick“ behauptet, ich hätte mich nicht nachdrücklich genug für die Niederwalzung der Mauer eingesetzt. Kein Wort von wahr. „Deutsche Einheit bringt auf Dauer nur ein Kanzler Adenauer“. Mit Hilfe Pauls und der Frauen ausgeklügelt, am nächsten Tag dem Vorstand vorgeschlagen. Fand keinen Anklang. Abgeschmettert. Kein Wunder, wenn dann aus einer Lüge eine Legende wird, ununterscheidbar von der Wahrheit. Und hochgefährlich, wenn sie sich in den Köpfen der Leute festsetzt. Und das ist wohl die Absicht. Die Rache des Holländers. Van Nouhuys? Van Nonsens.

 

Angewidert schlägt er das Heft zu. Genug geblättert. Umständlich hievt er sich aus dem Sessel und auf die Füße, schiebt sich wie in Trance an die Terrassentür und zieht den Vorhang zur Seite. Eine frühe Sonne beleuchtet das gegenüberliegende Rheinufer. Von der Existenz des Flusses zeugt nur ein kleiner blinkender Fleck, der vom windungsreichen Verlauf nichts ahnen lässt. Rolandswerth, Rolandseck, Oberwinter, dahinter Remagen. In der Ferne wölben sich die Berge der Voreifel aus dem Frühdunst. Was sich wohl im Garten tut?

 

Wenn man als Politiker von der Natur etwas lernen kann, dann Geduld und Beständigkeit der Arbeit. Ohne das erreicht man gar nichts. Gute Gärtner und gute Politiker wissen das. In der Natur läuft alles ohne Betrug, Falschheit und Verstellung ab. Alles wetteifert miteinander, wie um den Menschen vor Augen zu führen, dass Konkurrenz notwendig ist, wenn das Beste sich durchsetzen soll.

 

Das ist wirklich mit die Wurzel aller Unzufriedenheit: Dass die Leute gar nicht mehr ertragen können, wenn es dem Nachbarn besser geht. Unterschiede werden immer sein. Der eine wird ein besseres Gehirn haben als der andere, und der eine wird fleißiger sein als der andere, und wer fleißiger ist und ein besseres Gehirn hat, der wird naturgemäß in diesem Leben weiter kommen. Das muss sein im Interesse auch unseres ganzen Geschlechts. Denn die Faulheit und die Dummheit, meine Damen und Herren, wollen wir doch nicht prämieren.

 

In seinem Rücken wird die Zimmertür geöffnet. So unvollständig, wie er bekleidet ist, wagt er nicht, sich umzudrehen, schließt hastig die Knöpfe des Kittels, den vor ihm ein Arzt getragen hat oder auch eine Krankenschwester.

 

„Herr Dokter“, sagt eine Stimme, „Se han –“. Die Stimme stockt. Es ist die Stimme der Putzfrau, Maria Klefisch mit Namen. Seit über zwanzig Jahren steht sie in Diensten der Familie und wischt, fegt, poliert, wäscht, bügelt, stopft und näht. All das erledigt sie mit einer seinen Ansprüchen vollauf genügenden Pingeligkeit und bleibt dabei doch weitgehend unsichtbar.

 

Ein verwischtes Schniefen, dann ein neuer Ansatz: „Se han – en schon – fottjebraht.“

 

Es ist als Frage gemeint, klingt aber wie eine Feststellung. Offenbar hält sie ihn für einen der Ärzte, denen sie in diesen Tagen im Vorbeigehen häufig begegnet sein mag. Trotzdem. Wie beschränkt muss man sein, um den Hausherrn nicht zu erkennen. Ich bin doch kein Gespenst.

 

Der letzte Knopf ist geschlossen, er dreht sich zu ihr um. Da steht sie, halb noch im Türrahmen, eine füllige, stabil gebaute Frau in den Vierzigern in einem hellblauen Perlonkittel, um den Kopf ein Tuch gebunden.

 

„Frau, wat kreschs do? Wä söks do?“ will er in dem ihr vertrauten Idiom erwidern, denn Maria Klefisch ist eine waschechte Königswinterin, aber aus seinem Mund kommt nur ein Krächzen.

 

Mit einer Hand den Türgriff umklammernd, sucht Maria mit der anderen Halt an der Wand, und bevor sie erneut sprechen kann, muss sie tief Luft holen. Erschüttert zeigt sie auf das leere Bett. „Wohin“, fährt sie mit halberstickter Stimme fort, „han se en jebraht?“

 

Obwohl sie sich gegenüberstehen, scheint sie ihn immer noch nicht zu erkennen. Vielleicht, weil sie ihn bisher nie anders als im Gesellschaftsanzug mit den rasiermesserscharfen Bügelfalten gesehen hat. Vielleicht auch, weil er vor dem hellen Fenster steht oder ihr Blick durch dicke Tränen getrübt ist. Vielleicht auch wegen all dem zusammen. Mit Zungenschnalzen und Kopfschütteln bekundet er sein Missfallen. Die Putzfrau starrt ihn an.

 

„Maria!“ sagt er laut und erschrickt über seine brüchige Stimme.

 

Jetzt endlich erkennt sie ihn. „Herr Bundeskanzler!“ ruft sie, wischt, während sie auf ihn zugeht, mit dem Handrücken über ihre tränenverschmierten Wangen und streckt in ihrer Wiedererkennungsfreude die Hand nach ihm aus. Erschrocken weicht er zurück, hebt abwehrend den Arm und fährt sie, heftiger als eigentlich beabsichtigt, mit fremd klingender Stimme an: „Do moots mich nit fasshalde! Ich bin noh nit zo Jottvatter eropjejange!“

 

Woraufhin die Klefisch, sonst von durchaus robuster Natur, laut schluchzend, jetzt aber vor Freude, aus dem Zimmer stürzt, um überall im Haus zu verkünden, sie habe „den Herrn – den Herrn Bundeskanzler gesehen!“

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AutorenbildJan-Christoph Hauschild

Mit bewegten Bildern können die Illustrierten nicht aufwarten. Daher locken sie mit Nackedeis in Farbe und fetten Schlagzeilen. Hier auch wieder. Blondine im Bikini, schätzungsweise sogar minderjährig. Schulterlanges verstrubbeltes Haar, die Hände herausfordernd in die nackten Hüften gestemmt. Mehr als nur ein Hauch von Verruchtheit. Die „Quick“; typisch. Ist noch nicht lange her, da hat mich der Chefredakteur, ein Holländer namens van Nouhuys, um ein Interview gebeten. „Kein politisches“, man denke eher an ganz allgemeine, menschliche Fragen, etwa: „Welche Gesellschaft bevorzugen Sie? Die einer schönen oder die einer intelligenten Frau?“ Ließ natürlich dankend ablehnen, woraufhin van Nouhuys meinte, mich mit dem Versprechen umstimmen zu können, dass ich dafür auch aufs Titelblatt käme. Da wäre ich dann seit langem der erste gewesen, der was anhat. Glaubte wohl, ich würde jetzt alles mitmachen, bloß weil sie letztes Jahr dem verdrehten Kokoschka 200 000 Mark hingeblättert haben, damit er mich in Öl porträtiert. 200 000 Mark, und die Augen sitzen nicht mal an der richtigen Stelle. Hängt jetzt in der Ruhehalle vom Bundestag, der Ölschinken. Ruhehalle, nicht Ruhmeshalle. Mit Schildchen dran, damit es keiner vergisst: „Kokoschka: Adenauer – Gestiftet von ‚Quick‘ 1966“. Ob in hundert Jahren noch jemand weiß, wer oder was „Quick“ war? Nicht mal mehr in dreißig Jahren.

 

Er knipst die Stehlampe an, die von ihrem angestammten Platz zwischen Bett und Nachttisch hierher gewandert ist. Ihre Verbindung zur Steckdose ist durch eine Zeitschaltuhr unterbrochen. Eigene Erfindung, vom Elektriker in Honnef ausgeführt. Stelle ich vor dem Schlafengehen auf 30 Minuten ein. Funktioniert bestens.

 

Adenauer zieht ein Heft aus dem Zeitschriftendurcheinander, lässt seine Finger darin blättern. Fliegende Untertassen gesichtet. Über solchen Quatsch wird berichtet, nicht aber über die Gefahr durch chinesische Interkontinentalraketen. Deutsche Findelkinder, in Russland aufgewachsen, suchen ihre Eltern. Hätten sich mal früher melden sollen, dann hätte ich sie 1955 mit nach Hause gebracht. Eine brennende Frau ist in New York aus einem Hotel gestürzt, ein Geologe in Sibirien von einem Bären überfallen worden; alles mit Bildern. Was denken die Leute, die sowas lesen? Sie müssen denken, die Welt ist ein Tollhaus, mindestens aber ein Zirkus. Menschen, Tiere, Sensationen. Bei uns wird der Direktor von Kiesinger gespielt.

 

Ein neuer Aufschwung rückt heran. Sag bloß. Den haben wir der Konzertierten Aktion zu verdanken. Konzertierte Aktion. Hohles Zeug, aber die „Quick“ liefert den Echoraum, damit sich das Schlagwort einprägt. Konzertierte Aktion, da ist Musik drin, hat es bei der Vorstellung des Konzepts wahrscheinlich geheißen, und sicherlich hat irgendeine Werbeagentur ihre Hand im Spiel gehabt. Wenn politische Entscheidungen neuerdings den beteiligten Akteuren anvertraut werden, können Strauß und Schiller ihre Ministerien ja gleich dicht machen. Armes Deutschland. Das ist der Scherbenhaufen, den der Dicke hinterlassen hat. Hab noch immer eine Mordswut im Bauch. Allein schon dessen Zigarrenraucherei, Pendant zu seiner wolkigen Ausdrucksweise. Die entsetzliche Luft bei den gemeinsamen Besprechungen... Die drei Jahre von Erhards Kanzlerschaft haben mich mindestens doppelt so viele Lebensjahre gekostet.

 

Ein Speichelfaden rinnt ihm aus dem Mund und tropft unbemerkt auf die aufgeschlagene Seite. Der große Quick-Fortsetzungsroman. Ausnahmsweise mal keine Schießereien in Chicago. Tatort Bundesrepublik, Minister statt Mafia. Ist angeblich ein Schlüsselroman: IN BONN KENNT JEDER DIE HAUPTFIGUREN. Der Verfasser bleibt anonym. Am Ende hat der Böll den Blödsinn geschrieben. Sähe ihm ähnlich. Ein gefährlicher Mensch, der alles madig macht. Zweifelt an der Christlichkeit der Union. Hält sich für den besseren Katholiken von uns beiden. Nun ja. Der Schoß der Kirche gibt auch verwirrten Seelen Obdach.

 

Nächstes Heft. Brünette Löwenmähne in aufreizendem Strickkleid, offen vom Brustbein bis unter den Nabel, lila mit weißen Querstreifen. Anmutung von Sträflingsdrillich. Als Aufmacher eine Dokumentation über die Berlin-Krise: IST AUF DIE AMIS NOCH VERLASS? Genau das frage ich mich auch. Seit Kennedy hat es von denen nichts als leere Versprechungen gegeben. Überall in der Welt machen sie schlechte und fehlerhafte Politik. Vietnam ist nur ein Beispiel unter vielen. Ein völlig sinnloser Krieg. Die Amerikaner werden ihn nicht gewinnen. Eine kluge Regierung würde versuchen, die Sache mit Anstand zu beenden. Es bleibt Ihnen ja gar nichts anderes übrig, wenn sie nicht als Geschlagene nach Hause gehen wollen. Aber sie sind nicht klug.

 

Guck an, Kennedy beim Segeln. Ja, davon verstand er etwas. Von Politik hat er keinen blassen Schimmer gehabt. Viele, ich selbst eingeschlossen, glaubten, er werde spätestens nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit wieder in der Versenkung verschwinden, genau wie Truman und Eisenhower vor ihm auch. Manche Beobachter bezweifelten sogar, dass es überhaupt zu einer zweiten Amtszeit kommen würde. Sie sollten recht behalten, wenn auch aus anderen Gründen als gedacht.

 

Meine Sympathie für Kennedy war hauptsächlich aus zwei Gründen so gering. Erstens, weil er so schrecklich jung war, viel zu jung für einen Staatsmann. Wir hatten in Deutschland auch mal zwei Vierundvierzigjährige als Reichskanzler. Und was ist dabei herausgekommen? Not und Elend und Krieg und Diktatur. Zweitens, weil er Amerikaner war, und die Amerikaner mag ich nicht leiden, weil sie den Indianern so übel mitgespielt haben und es immer noch tun.

 

Was waren das für großartige Krieger. Apachen, Schoschonen, Komantschen, Kiowa, Mescalero, Pawnee, Cheyenne, Sioux. Nicht einmal ihre Stammeshäuptlinge wurden mit dem gebührenden Respekt behandelt, der gewählten Führern zukommt. Spotted Tail, Sitting Bull: von der Indianerpolizei erschossen. Crazy Horse: von einem Wachsoldaten erstochen. Mangas Coloradas: in der Haft von Soldaten gefoltert und ermordet. Santana: Selbstmord im Gefängnis. Chief Joseph: in der Verbannung an gebrochenem Herzen gestorben.

 

Und das Land mag ich sowieso nicht. Zehnmal war ich in USA, zuerst noch mit dem Schiff, und immer war es eine Enttäuschung. Tankstellen und Auto-Motor-Hotels dicht an dicht, Rund-um-die-Uhr-Läden, Babylonische Bürotürme, sogar in Texas. Besser davon träumen als dort hinfahren.

 

Ach nee, ein großes Foto vom Herrn Brandt. Dass der bei den Amis gut angeschrieben ist, wissen wir ja. In Washington gibt es Kräfte, die ihn als Kanzler wollen. Haben sich das ein hübsches Sümmchen kosten lassen. Man sucht nach Verständigung mit Moskau, da ist die Union im Wege. Von einem Tauschgeschäft Berlin gegen Kuba ist die Rede. Alles ist möglich, wenn dieser Mann ans Ruder kommt. Angeblich soll er nicht mehr ganz so viel trinken wie früher, dafür aber um so mehr arbeiten. Wer‘s glaubt.

 

Was noch? ICH HABE GETÖTET, Tatsachenbericht. Ehemaliger Zonenflüchtling erschießt Familienvater. Also noch besser aufpassen, wer von drüben bei uns einsickert. Nächste Woche dann: DREI GENERATIONEN VON MÖRDERN. Der Großvater erschießt einen Arbeiter, der Vater ersticht seine Freundin, der Sohn erwürgt beinahe seine Verlobte. Also nur Beinahe-Mörder. Wieder übertrieben. Die Familie soll im Rheinland wohnen. Halte ich für möglich. Jedenfalls nicht für unmöglich.

 

In der Ausbeutung von Sensationsmeldungen ist die Presse unermüdlich. Das Papier, das mit der Zuschaustellung menschlichen Schmutzes vergeudet wird, sollte besser zur Aufklärung des Volkes verwendet werden. Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.

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