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Als sein Telefon klingelte, war Professor Croqué gerade dabei, auf einem Schimpansenschädel mit dokumentenechter Ausziehtusche seinen privaten Besitzvermerk in Form eines Ziermonogramms anzubringen. Es war ein Moment, den er bereits 63 Mal genossen hatte und noch weitere 43 Mal genießen würde. Sein Signum ersetzte den ursprünglichen Besitzvermerk „Sammlung Russ/Reichsuniversität Straßburg“, den er bereits von jedem Stück der historischen Primatencrania-Sammlung, die der Zoologe Wilhelm Russ Ende des 19. Jahrhunderts der Universität gestiftet hatte, eigenhändig mit Zahntechniker-Spezialwerkzeug abgeschliffen hatte. In einem weiteren Arbeitsgang hatte er 107 Mal mit dem Flachpinsel eine neue Schriftunterlage aus schnelltrocknendem Zaponlack aufgetragen, und zuletzt würde eine Schicht aus Klarlack die Prozedur abschließen.


Croqué war mittlerweile im fünfundzwanzigsten Jahr Universitätsprofessor, und niemand, am wenigsten er selbst, zweifelte daran, dass er es auch noch weitere fünfundzwanzig Jahre sein würde. Sein Leben war wie ein abgeschossener Pfeil, der kraftvoll unterwegs war, und er selbst war der Schütze gewesen, er war Schütze, Bogen und Pfeil zugleich. Zu groß war sein Renommee, zu fest saß er im Sattel, zu wohl fühlte er sich hier im selbst gemachten Nest. Mit Gewieftheit und Raffinesse hatte er sich ein dehnbares, geschmeidiges Image geschaffen, das nicht nur groß genug war, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen, sondern auch dazu taugte, es mit dem Rest der Welt aufzunehmen.


Als die aufgrund einer Strukturreform neu gebildete Fakultät für Humanwissenschaften 1991 einen Paläoanthropologen suchte, der neben einer geringen Lehrverpflichtung von lediglich vier Wochenstunden das bestehende Humanbiologische Institut zu einem Institut für Biologische und Forensische Anthropologie ausbauen sollte, schlug Croqués große Stunde. Erfüllt von der Sicherheit, die ihm sein blendendes Aussehen gab, hatte er es glänzend verstanden, sich als weltgewandter Fachkundiger und charismatischer Draufgänger von aristokratischer Haltung und zugleich intellektueller Lässigkeit zu präsentieren. Das war der Fahrstuhl, der ihn nach oben trug. Keiner in der Berufungskommission erkannte ihn als den, der er in Wirklichkeit war: ein Blender und Scharlatan.


Seiner eigenen Einschätzung zufolge hatte sich Croqué viel zu lange schon von der mangelnden Bereitschaft der Welt, ihm die Chance der Teilnahme an einem fairen Wettbewerb zu gewähren, demütigen lassen – jenem Wettbewerb, der darin bestand, sich, wie sein Großvater es ausgedrückt hätte, vom dumpfen zoologischen Gattungswesen zu einem Mann des Ruhms zu erheben. Während er selbst nichts ohne äußerste Anstrengung erreichte, fiel anderen offensichtlich in den Schoß, was aufgrund ihrer Herkunft für sie vorgesehen war. Er kam sich vor wie ein Amateursportler, der gegen Profis antreten musste. Und weil das nicht fair war, wurde er zum Romancier seiner selbst. Croqué wusste, dass große Lügen aus kleinen Wahrheiten gemacht werden. Im handschriftlichen curriculum vitae, das seiner Bewerbung beilag, schmückte er die bescheidenen, jedoch nicht zu widerlegenden Fakten seines Lebens durch phantasiereiche Erfindungen aus und steigerte ihre Bedeutung so um ein Vielfaches.


Dass er am 14. Januar 1962 in Saint-Denis geboren wurde, das Lycée André Gide seiner Heimatstadt besucht, anschließend einen zweijährigen Militärdienst absolviert und zehn Semester in den USA studiert hatte, entsprach der Wahrheit. Aber bereits die Behauptung, während der beiden letzten Jahre vor seinem Baccalauréat habe er mithilfe eines Hochbegabtenstipendiums die High School in Québec besuchen können, war reine Erfindung. In Wirklichkeit hatte er Saint-Denis nicht verlassen, nicht einmal in den Ferien. Trotzdem verwies er bis heute gern auf seine schöne Schulzeit in Kanada und die daraus resultierenden freundschaftlichen Kontakte. „Ich war auf derselben Schule wie Justin Trudeau“, lautete eine dieser Histörchen. „Er war ein paar Klassen unter mir und schon damals ein heller Kopf, aber stinkfaul und ohne Aussichten auf Versetzung. Sein Vater bat mich, ihm Nachhilfe in Französisch und Biologie zu geben. Und damit hat er es dann geschafft. Manchmal, wenn ich drüben bin, rufe ich ihn an und wir treffen uns auf ein Bier. Netter Bursche.“


Sechs Wochen nachdem er das Baccalauréat scientifique erworben hatte, wurde Croqué zum Militär einberufen. Hier unternahm er den entscheidenden Schritt, der ihn von seiner Vergangenheit befreite, indem er nämlich in sämtlichen Dokumenten, die seinen Namen trugen, den Schlussbuchstaben seines Nachnamens mit einem Accent aigu versah, wodurch er sich schlagartig aller Spötteleien und Anzüglichkeiten, die er während seiner Schulzeit hatte erleiden müssen, enthob. In Saint-Denis war Monsieur Croque! Croque-Monsieur! der Schlachtruf seiner Feinde auf dem Schulhof gewesen; in der Pause hatten sie unzählige Male zum Hohn die Abbildung eines Croque, von dem geschmolzener Käse herabtropfte, an die Tafel gemalt, und im Unterricht hatte die Erwähnung des Wortes Sandwich oder Toast genügt, um seine Mitschüler grinsend nach ihm schielen und ihn erröten zu lassen.


Pure Erfindung war ebenfalls die angeblich nach dem regulären Militärdienst erfolgte zweijährige Delegierung zur Air Intelligence Agency, dem Geheimdienst der Air Force. Sie diente lediglich dazu, eine Lücke in seiner Biographie zu füllen. Als der Soziologieprofessor Loupp, ein älteres Mitglied der Berufungskommission, der 1968 zu den führenden Köpfen der Studentenbewegung gehört und seitdem Einreiseverbot in die USA hatte, ihn beim Kandidatenkolloquium auf diesen Punkt ansprach, machte Croqué ein ernstes Gesicht und erklärte, er habe sich seinerzeit verpflichten müssen, über seine Tätigkeit für die AIA allzeit Stillschweigen zu bewahren. Damit erübrigten sich weitere Nachfragen. Niemand kam auf die Idee, es handle sich um pure Aufschneiderei. Tatsächlich hatte er in den zwei Jahren für eine Servicefirma gejobbt, die das Kohlekraftwerk in Le Havre wartete. Erst das in dieser Zeit angesparte Geld ermöglichte ihm die Immatrikulation an der Universität von Kalifornien in Monterey, wo er Chemie, Geologie, Anthropologie und Evolutionsbiologie studierte.


Croqués Abhandlung, mit der er in Monterey das Philosophical Doctorate erwarb, beschäftigte sich mit Quantitative Computed Tomography of Gorilla Cartilage from Cameroon. Laut eigener Aussage war Francis Clark Howell, von dem er behauptete, er habe als Gastdozent in Monterey gelehrt, sein Doktorvater gewesen, mit dem ihn seitdem eine väterliche Freundschaft verbinde. Als Betreuer seiner Dissertation war allerdings ein gewisser Jared Bracke angegeben. Darauf angesprochen, bezeichnete Croqué ihn als „berühmten Forensiker“ und „Nestor der amerikanischen Paläoanthropologie“. Bei amerikanischen Kollegen hätte er mit dieser Bemerkung spöttische Blicke, mindestens aber Achselzucken und Kopfschütteln geerntet, denn Bracke hatte das fünfte Lebensjahrzehnt noch nicht vollendet und war erst mit einer einzigen Fachveröffentlichung hervorgetreten, Diagenetic Analysis of Gorilla Cartilage from Cameroon. Doch woher sollten Loupp und die anderen Mitglieder der Kommission, der Erziehungswissenschaftler Brèthes, die Humanbiologin Villetard, der Psychologe Geisser und die Heilpädagogin Bemba, das wissen? Croqués großes Lügenmärchen war so erfolgreich, weil es mit lauter kleinen hieb- und stichfesten Wahrheiten durchmischt war.

 

 
 
 

Das Institut für Biologische und Forensische Anthropologie an der Straßburger Université Sébastien Brant war zusammen mit einigen anderen Instituten der Humanwissenschaftlichen Fakultät in einem mehrstöckigen, nüchternen Zweckbau aus den 60er Jahren in der Rue Goethe untergebracht. Die Umgebung immerhin war beschaulich, denn die Fenster auf der Südwestseite schauten auf den Botanischen Garten der Universität, eine grüne Oase im Herzen der Stadt mit romantisch verschlungenen Parkwegen, einem Seerosenteich und alten, tief eingesunkenen Parkbänken unter hohen, schattenspendenden Pekannuss- und Riesenmammutbäumen.


Das Sekretariat des Instituts befand sich im fünften Stock. Marine Loisy, die Institutssekretärin, hantierte gerade an ihrer Kaffeemaschine, als Alexander bei ihr klopfte und war daher über die Störung nicht sonderlich erbaut. Sie war Anfang dreißig, hatte langes blondes Haar und machte den Eindruck, als würde sie sich zwischendurch gerne mal einen ordentlichen Happen genehmigen. Eine Kaffeepause war sicherlich so ein Moment. Marine war es gewohnt, nicht angemessen wahrgenommen zu werden, obgleich sie ihren Hintern für ganz passabel, wenn nicht sogar hervorragend hielt und ihre birnenförmige Figur unter luftiger Kleidung verbarg. Sie schenkte Alexander ein einstudiertes Lächeln, an dem ihre Augen keinen Anteil hatten, und nahm sich nicht mehr als das nötige Mindestmaß an Zeit, um ihn anzuhören, wobei sie gedankenverloren eine Haarsträhne über den Zeigefinger drehte. Dann erklärte sie ihm, dass an diesem Tag keiner der leitenden Mitarbeiter im Hause sei. Und um ihn schnellstmöglich loszuwerden fügte sie hinzu, dass er sein Anliegen Dr. Bouchon vortragen könne, dem Chefassistenten von Professor Croqué: 6. Stock, vom Aufzug aus rechts, immer geradeaus, durch zwei Glastüren, Zimmer 655.


Alexander fuhr eine Etage nach oben. Auf seinem Weg durch den langen Korridor begegnete ihm niemand, auch waren hinter den geschlossenen Türen keinerlei Geräusche zu hören. Das ganze Institut schien wie ausgestorben, von allem Lebendigen entleert. Dann ging weiter hinten eine Tür auf und eine Gestalt in einem weißen Laborkittel blieb im offenen Türrahmen stehen. Alexander ging darauf zu. Es war ein blassgesichtiger Mann unbestimmbaren Alters mit gekrümmten Schultern und dünnem, gelblichem Haar.


„Dr. Bouchon?“


„Ganz recht.“


„Mein Name ist Fairchild“, sagte Alexander und streckte ihm seine Hand entgegen. „Ich habe eine Forschungsprofessur für Physische Anthropologie am Nationalmuseum für Naturgeschichte in Washington.“


Bouchons Hand war so weich, dass Alexander es nicht wagte, sie auf mehr als behutsame Weise zu schütteln.


„Sehr erfreut, Herr Professor.“ Bouchon lächelte mechanisch und lud ihn mit einer Handbewegung ein, näher zu treten. Die Tür ließ er offen.


Das Büro war nicht sehr groß und annähernd quadratisch, mit einem niedrigen, vergitterten Fenster, das auf den Innenhof der Universität zeigte. Davor stand ein altmodischer Schreibtisch mit einem modernen Drehstuhl. Die Wände waren mit Regalen und Bücherschränken zugestellt, aber es war nicht auszumachen, ob hinter den Glastüren auch anatomische Präparate aufbewahrt wurden. Es roch nach Staub und Pfefferminzöl und nach irgendetwas anderem, doch fiel Alexander nicht ein, was es sein könnte.


Bouchon klemmte sich hinter seinen Schreibtisch. „Ich kann Ihnen leider keinen Sitzplatz anbieten. Üblicherweise bin ich hier immer allein.“


„Das macht gar nichts. Man sitzt sowieso schon zu viel.“


„Was kann ich für Sie tun?“ Bouchon stützte den linken Ellbogen auf die Tischplatte und ließ sein Kinn auf der Hand ruhen.


„Ich war am Sonntag mit meiner Frau in ihrer Ausstellung im Rohan-Palast.“


Bouchon verlagerte beide Hände auf seine Oberschenkel. „Hat sie ihnen gefallen?“


„Ungemein. Wir waren regelrecht fasziniert.“


„Tatsächlich. Ja, die Abweichungen vom Normalen, die Difformitäten und Abnormitäten sind immer interessant.“ Bouchon verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.


„Sehr beeindruckend die verschiedenen Formen der Megalocephali.“


Bouchon nickte. „Ja, wir sind recht gut ausgestattet. Unser Bestand umfasst etwa 13.000 Objekte und geht auf das 17. Jahrhundert zurück… Da sind schon einige Hochkaräter dabei.“ Inzwischen war sein linker Fuß auf dem rechten Knie zur Ruhe gekommen.


„Die Brachycephali, Oxycephali, Sphenocephali...“


„So, die haben es Ihnen also angetan. Und ich dachte, Sie hätten besonders an unseren herausragenden Lungen- und Leberpräparaten Gefallen gefunden. Haben Sie denn wenigstens den Situs inversus gesehen? Männlich, 42 Jahre, etwa 1750?“


„Ich bin mir nicht sicher.“


„Ein Trockenpräparat auf einem eisernen Dreifußständer. Sämtliche Eingeweide in verkehrter Lage!“


„Ah, das bunte Ding? Ich habe die Beschriftung nicht gelesen.“


„Die Trachea in Gelb, Ösophagus und Magen in Grün, Herz und die großen Arterien in Rot. Magen und Darm aufgeblasen und teilweise ausgestopft. So ein Totalis kommt alle 100 Jahre vor.“

Bouchon fingerte an der Mechanik seines Stuhls herum. Offenbar wusste er nicht, wohin mit seinen Händen, wenn er nicht gerade präparierte. „Und was genau –“


Alexander ignorierte die Aufforderung. Er hielt es nicht für klug, gleich die Karten auf den Tisch zu legen – zu bekennen, dass er einzig und allein wegen des Turricephalus gekommen war.


„Ich habe mich an den Makrocephali festgesehen. Besonders beeindruckend war der mit spina bifida bis zum 7. Brustwirbel hinauf. So etwas habe ich noch nie gesehen.“


In Bouchons bis dahin schlaffe Gesichtszüge kam Bewegung. Seine Hände ruhten jetzt gefaltet in seinem Schoß, aber die Daumen schlugen erregt gegeneinander. „Das Gegenstück ist der Anencephalus mit kompletter Hydrorrhachis. Haben Sie den auch bemerkt?“


„Wie hätte ich den Anencephalus übersehen können“, antwortete Alexander ruhig. „Sehr merkwürdig, die Diviation an ein und derselben Stelle bei beiden Präparaten. Erstaunlich, dass das Brustsegment der Wirbelsäule trotz des mangelhaften Verschlusses seiner Wirbelbögen seine Stellung beibehalten konnte.“


Diese Beobachtung erhob ihn für Bouchon endgültig in den Rang eines Connaisseurs.


„Ich kann es mir nur so erklären“, erwiderte er eifrig, „dass die Wirbelkörper an den Bögen, die den Thorax bilden, eine hinreichende Stütze fanden. Der 1. Lendenwirbel war dadurch gewissermaßen freigestellt, und über diesem Wirbel hat sich der bewegliche obere Teil der Wirbelsäule verschoben. Sie müssen diese Auffassung nicht teilen“, fügte er hinzu, „es bleibt eine Mutmaßung.“


Alexander schüttelte den Kopf. „Nein nein“, sagte er schnell, „für mich klingt es völlig plausibel.“


„Ich kam darauf durch Analogieschluss“, erklärte Bouchon. „In der Sammlung Schroeder van der Kolk in Utrecht gibt es eine Schiebung des letzten Lendenwirbels. Daraus hat sich eine Horizontalstellung des Kreuzbeins entwickelt, das mit der Lendenwirbelsäule beinahe einen rechten Winkel bildet. So bin ich darauf gekommen.“


„Ich bewundere Ihren Scharfsinn. Denn was nutzt die schönste Sammlung, wenn sie nicht von gewissenhaften Kuratoren erschlossen wird.“


„Oh, ich bin nicht der Kurator“, wehrte Bouchon ab. „Ich bin nur der persönliche Assistent von Professor Croqué und als solcher auch mit der weiteren Erschließung der Bestände befasst.“


„Es muss eine wunderbare Aufgabe sein, sich Tag für Tag mit dieser exquisiten Sammlung befassen zu dürfen. Ich würde gern mit Ihnen tauschen.“


Die Andeutung eines Lächelns huschte über Bouchons blasses Gesicht. „Das ist nicht ihr Ernst, oder?“


„Doch, das ist es. Eine wunderbare Sammlung an einem wunderbaren Ort. Und jede Menge sensationelle Präparate. Den kleinen Turricephalus aus dem 18. Jahrhundert zähle ich auch dazu. Einfach fabelhaft.“


„Da weiß ich im Moment nicht genau, welchen Sie meinen.“


„Er soll aus Waldbach stammen.“

Alexander sah Bouchon fest an, aber in dessen Augen veränderte sich nichts. Vielleicht spannten sich seine Wangen ein bisschen, aber das mochte Einbildung sein.


„Ach, DOMINIQUE.“


„DOMINIQUE?“


„Wir nennen ihn DOMINIQUE, weil wir uns über das Geschlecht nicht sicher sind.“


„Ist es wirklich ein Präparat aus dem 18. Jahrhundert aus Frankreich?“


Bouchon lächelte schmallippig. „Wenn es so deklariert ist... Oder was denken Sie?“


„Es ist alles so makellos. Ich kann an den Knochen gar keine Furchen erkennen, auf denen die Sehnen liegen könnten, keine Leisten, an denen die Bänder sitzen könnten.“


„Die Reflektion des Raumlichts auf dem Glas wird Sie geblendet haben. Seien Sie versichert, alles was Sie vermissen, ist vorhanden.“


„Nicht mal Durchtrittslöcher für Nerven und Gefäße an der Schädelbasis scheint es zu geben.“


„Man könnte meinen, Sie hätten den Schädel bereits exploriert.“


„Das nicht, aber wenn man mir die Gelegenheit gäbe, würde ich sicherlich nicht nein sagen.“


Bouchon versteifte sich. „Das allerdings kann ich definitiv ausschließen, Mr. Fairbanks“, erwiderte er frostig.


„Fairchild, Alexander Fairchild.“


„Pardon. Bis auf weiteres ist die gesamte Sammlung für die Benutzung gesperrt.“


„Weshalb?“


Bouchon setzte zur Antwort an, aber dann wurden seine Augen hart. „Anordnung der Direktion.“


„Verzeihen Sie, aber das ist keine Begründung.“


Wieder verschränkte Bouchon die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.“


„Jetzt machen Sie mich erst recht neugierig.“


„Sprechen Sie mit dem Institutsdirektor, Professor Croqué. Tragen Sie ihm ihre Zweifel vor.“


„So förmlich wollte ich es eigentlich gar nicht angehen“, erwiderte Alexander gleichmütig. „Ich bin lediglich interessiert, sagen wir: auf spezielle Weise.“


Hinter seinem Schreibtisch verbarrikadiert, starrte Bouchon den Störenfried aus Washington feindselig an.


„Wissen Sie, Mr. Fairchild, wir haben zurzeit jede Menge Leute hier, die lediglich interessiert sind, und in Wahrheit sind sie Teil einer Kampagne.“


„Ich bin sicher kein Teil einer Kampagne, Herr Doktor. Wogegen richtet sie sich?“


„Es handelt sich um eine Schmutzkampagne gegen unser Institut, und damit auch gegen unsere Förderer und Unterstützer. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Und was ihr Objekt der Begierde angeht: Sie können es sich im Rohan-Palast ab Dienstag wieder anschauen.“


„Wir wollten eigentlich morgen früh nach Paris weiterfahren“, sagte Alexander.


„Tja, da müssen Sie sich wohl entscheiden. Ich kann Ihnen nur anbieten, es morgen zu versuchen. Ich werde ab 12 Uhr vor Ort sein. Vielleicht schaut auch Professor Croqué vorbei. Dann können Sie alle Ihre Fragen stellen.“


Nach diesen Worten wand sich Bouchon wieder hinter seinem Schreibtisch hervor und Alexander trat in die offene Tür, wo er stehen blieb, um sich zu verabschieden. Danach drehte er sich um, und Bouchon schloss hinter ihm die Tür.


Nach ein paar Schritten blieb Alexander lauschend stehen. Dann kehrte er auf Zehenspitzen zurück und legte sein Ohr an die Tür. Er konnte hören, dass Bouchon telefonierte, aber zu verstehen war nichts. Erst auf dem Korridor fiel ihm ein, wonach es in Bouchons Büro gerochen hatte: Es war Babypuder, eindeutig.

 

 
 
 

Das Restaurant war trotz der frühen Nachmittagsstunde gut gefüllt. In den zum Fluss gelegenen Räumen hatten sich mehrere Touristengruppen breitgemacht, aber in einer Nische entdeckte Kim einen freien Zweiertisch. Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, zog Kim ihren kleinen Straßburgprospekt aus der Handtasche und faltete ihn so, dass die Seite mit den Museen oben lag. Sie tippte auf die Informationen zum Museum für zeitgenössische Kunst und schob ihn zu Alexander hinüber.


„Da. Da wäre ich lieber hingegangen.“


Alexander warf einen flüchtigen Blick auf die Seite. „Dann hättest Du eben doch Michael Brendon heiraten müssen. Dann hättest Du die Kunstschätze gleich im eigenen Haus gehabt.“


Kim legte den Kopf schräg und fixierte ihn. „Ich hätte Mike niemals geheiratet, Alex.“


Alexander grinste. „Wie ich gehört habe, wart ihr aber nah dran.“


Vom Tisch gegenüber, an dem ein halbes Dutzend junger Frauen saß, kam schallendes Gelächter herüber.


„Ich hätte Mike niemals geheiratet und damit basta“, fauchte Kim und griff nach dem Straßburgprospekt, um ihn wieder einzustecken. Im selben Moment brachte einer der Kellner ein Tablett mit einem großen Kronenbourg für Alexander und einem Perrier für Kim. Kim schenkte sich ein und hob ihr Glas.


„Auf die Paläoanthropologie!“


„Auf die Kunst“, sagte Alexander. Ein Gefühl von Besitzerstolz veranlasste ihn, über den Tisch zu greifen und ihre Hand zu nehmen.


„Stattdessen bist Du in meine Fänge geraten, und nun wirst Du von mir von einem archäologischen Museum zum nächsten geschleppt. Aber weißt Du auch, dass ich Dir, also euch beiden, dadurch einen Gewaltmarsch ans andere Ende der Stadt erspart habe?“


Er schlug die Seite mit dem Plan der Innenstadt auf, auf dem eine Handvoll Sehenswürdigkeiten dick umkringelt waren. „Hier ist der Kardinalspalast…Hier sind wir jetzt… Und hier ist das MAMCS.“


Er zeigte auf einen Punkt am linken Rand des Stadtplans.


„Dafür hätten wir zweimal den Fluss überqueren müssen... Das wären fast zwei Kilometer gewesen.“


Ein Kellner tauchte auf, flink und geräuschlos wie eine Katze auf Velour, und setzte ihre Vorspeisen vor ihnen ab, die er auf Anhieb richtig zuordnete.


„Ich kann nicht ganz verstehen, warum Dich der Knochenzwerg so fasziniert hat“, sagte Kim, während sie ihre Gabel in die geraspelten Möhren stieß. „Oder war es am Ende eine Knochenzwergin?“


„Um das Geschlecht bestimmen zu können, müsste man die Proportionen genauer untersuchen“, antwortete Alexander, der damit begonnen hatte, die Scheiben aus Schweineschnauze in Aspik in mundgerechte Stücke zu teilen. „Ich glaube, in der Ausstellung haben sie das bewusst offen gelassen.“


Der Kellner stellte ein Körbchen mit Baguettescheiben auf ihren Tisch.


„Muss ich mir Sorgen um Dich machen, Alex? Bist Du vielleicht heimlich nekrophil?“


„Weil ich dieses Exemplar atemberaubend schön finde?“


„Du hast doch sicher schon Hunderte solcher Wasserköpfigen gesehen.“


„Turricephali, Turmschädel. Sagen wir Dutzende. Aber dieser war der schönste von allen.“


Kim legte ihre Gabel beiseite und sah Alex herausfordernd an. „Ich weiß gar nicht, wie man ein Gerippe als schön bezeichnen kann. Dazu ist es doch viel zu – eindimensional. Ja, genau. Es ist einfach nur... starr. Aufrecht und starr. Es fehlt die Breite. Der Umfang. Bewegung. Es kann ja nicht mal von alleine stehen!“


„Okay. Du vermisst den Eindruck von Lebendigkeit. Ja, dafür braucht es Fleisch und Muskeln. Aber das Ebenmaß der Körperteile wird durch den Knochenbau festgelegt. Versuch Dir mal vorzustellen, wie dieses bewegungslose Skelett, ohne wahrnehmbares Lebenszeichen, mit Fleisch bekleidet ausgesehen hat.“


Lustlos stocherte Kim in ihrem Salat herum. „Wenn ich versuche, mir das vorzustellen, überkommt mich große Traurigkeit. Memento mori-Traurigkeit. Also lass ich es lieber bleiben.“


„Der Eindruck muss umwerfend gewesen sein. Aber das Bemerkenswerteste daran ist etwas ganz anderes.“


Alexander schaute Kim aufmerksam an, als ob er die Antwort von ihr erwartete. Offenbar schien er sie gerade mit einer Teilnehmerin aus seinem Doktorandenkolloquium zu verwechseln. Kim versuchte, möglichst gelangweilt zu blicken und trank ihr Glas leer. In die lange Pause fiel das Lachen der jungen Frauen vom Nachbartisch.


„Mir stellen sich zwei Fragen“, fuhr Alexander fort. „Erstens: Wenn es ein Turricephalus ist, wieso gibt es keine Anzeichen für Kraniosynostose?“


„Kraniowas?“


„Vorzeitige Verknöcherung einer oder mehrerer Schädelnähte. Denn wenn keine Anzeichen für einen gestörten Wachstumsprozess zu erkennen sind, muss man von künstlichen Eingriffen während des Wachstums ausgehen. In Mittel- und Südamerika scheint diese Sitte ziemlich verbreitet gewesen zu sein. Und in einigen Regionen Afrikas bis vor einigen Jahrzehnten auch. Aber in Europa sind solche künstlich hervorgerufenen Schädeldeformationen seit der Spätantike nicht mehr vorgekommen. Und damit stellt sich die zweite Frage: Stammt das Skelett tatsächlich, wie angegeben, aus Frankreich und ist nur runde 200 Jahre alt? Das wäre eine Sensation.“

Kim fuhr mit dem Fingernagel die Umrisse eines Soßenflecks auf der ansonsten makellos weißen Tischdecke ab. „Wenn es keine Rarität wäre, hätten sie es doch nicht auszustellen brauchen.“


Alexander leerte seinen Humpen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Das wäre mehr als eine Rarität, eine Raritas raritatum.“


„Dann stammen die Gebeine eben aus der Spätantike.“


„Gebeine... „Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein so makelloses und zugleich perfekt konstruiertes Skelett gesehen! Wie aus einem 3-D-Drucker. Ein homo perfectus. So perfekt, dass man fast zweifeln könnte –“


Alexander führte den Satz nicht zu Ende, sondern bedankte sich mit einem stummen Kopfnicken bei dem Kellner, der ihre leeren Teller abgeräumt und durch neue, größere ersetzt hatte.


„Dass es echt ist“, ergänzte Kim. „Verstehe. Vielleicht ist es ja eine Fälschung, eine Montage aus mehreren Skeletten. Oder es ist künstlich erzeugt, ein Homunkulus, und Du hast ihn entdeckt! Oder –“


Sie sah Alexander tief in die Augen. „Oder die Leute vom Anthropologischen Institut der Universität haben sich mit der Bestimmung vertan. Zwei Knochenmänner miteinander verwechselt. Ganz simpel. Wirst Du ihnen einen Brief schreiben?“


Alexander lehnte sich zurück und sah zum Nachbartisch hinüber. „Nein, ich glaube, ich schaue mir das nochmal an.“


„Nochmal zu den Biestern?“ stöhnte Kim. „Ohne mich, Alex.“


„Na ja, ich dachte, vielleicht morgen.“


„Morgen ist Montag, mein Lieber, da haben die garantiert zu. Und übermorgen um kurz nach Neun geht unser Zug. Keine Chance, um Deinen Wissensdurst zu stillen.“


„Ich könnte zum Institut gehen, aus dessen Beständen die Ausstellung stammt, und mit einem der beteiligten Wissenschaftler reden. Wenn ich mich als Kollege vorstelle, lassen sie mich vielleicht sogar am Schließtag ins Museum.“


Ein Kellner, der sie bisher noch nicht bedient hatte, trug auf seinem Unterarm die Teller mit den Hauptgerichten an ihren Tisch. „Les quenelles?“


Alexander stieß den Zeigefinger in die Luft, und sofort schwenkte der Kellner hinüber zu Kim. „Tarte flambée traditionnelle avec crème, oignons et lardons“, flötete er beflissen, bevor er sich von seiner ersten Last befreite. Dann bekam Alexander seinen Teller vorgesetzt. „Et pour Monsieur“, verkündete der Kellner mit feierlicher Stimme, „Les quenelles de brochet gratinées à l’alsacienne avec spaetzle maison sautés au beurre. Bon appetit.“

 

 
 
 
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