1
Irgendetwas hat ihn geweckt, vielleicht ein Geräusch im Haus. Aber jetzt ist es still, totenstill. Oder hat ihn ein Lichtstrahl gekitzelt? Seine Augen sind verklebt und geben nur einen schmalen Spalt frei, aber der Helligkeit vor dem Fenster nach muss es früher Morgen sein. Er atmet tief ein, hört das Rasseln seiner Lungen und nimmt ebenso verwundert wie erleichtert zur Kenntnis, dass da kein Schmerz ist. Zeit ist vergangen, Stunden oder Tage, aber er kann sich in kein Verhältnis dazu bringen.
Er blinzelt zur Decke. Das Lid reibt auf dem Augapfel wie Sandpapier. Ihm ist nicht klar, ob das, was er sieht oder zu sehen meint, real ist. Denn der sechsarmige Kronleuchter mit den leinenbezogenen Schirmen dürfte dort nicht sein. Ist es überhaupt sein Schlafzimmer? In der Luft hängt Krankenhausgeruch. Doch ja, es ist sein Bett, eindeutig. Obwohl es nicht wie gewohnt in der Ecke steht, sondern mitten im Raum, umgeben von angsteinflößenden Apparaturen, die das Zimmer seiner Annehmlichkeit berauben: Schwenkbarer Infusionsständer. Beatmungsgerät. EKG-Apparat mit Elektrokardioskop.
Wie mager seine Finger sind. Er bewegt eine Hand, hebt sie über Kopfhöhe und fühlt ein lebendiges Prickeln, das sich im ganzen Arm ausbreitet bis in die Schulter. Eine Nadel steckt im fleckigen Handrücken, gesichert mit einem Streifen Heftpflaster. Aber der Schlauch, der die Kanüle mit dem Infusionsgerät verbindet, ist abgezogen. Schalten sie die Apparate ab. Der Patient hat keine Überlebenschancen.
Vielleicht ist Totsein ja wie Träumen. Man ist tot und weiß es. So wie man auch träumen und gleichzeitig wissen kann, dass man träumt. Leben nach dem Tod, aber im Diesseits.
Das letzte, woran er sich erinnert, ist das vertrauliche Gespräch mit Frau Dr. Klepper, am Abend des Tags von Kiesingers Besuch bei ihm. Wegen seiner gereizten Bronchien konnte er nur mit gedämpfter Stimme sprechen. Ganz direkt hatte er die Ärztin gefragt: „Sagen Sie mal, Frau Doktor... Steht es wirklich so schlimm um mich, wie alle behaupten?“
Die ehrliche Antwort, auf der er bestanden hatte, erhielt er nicht. Stattdessen räumte die Ärztin ausweichend ein, er sei sehr krank gewesen, aber jetzt gehe es besser. Woraufhin er von ihr wissen wollte, ob sie damit meine, dass es für ihn an der Zeit sei, sein Testament zu machen. Es war scherzhaft gemeint. Ein Testament ist doch eine Sache, die ausschließlich für Todgeweihte von Nutzen ist. Wie oft wird es geändert und umgeschrieben, wenn sich die Einschätzung als Irrtum erweist. Doch auch diese simple Frage beantwortete die Frau Doktor nicht mit Ja oder Nein. „Jedermann ist gut beraten, wenn er das tut“, sagte sie zögernd. Da begriff er, dass sie ihn in Wahrheit für todgeweiht hielt. Sie und Professor Dyx mussten ihn zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschrieben haben.
Trotz seiner Erschütterung, die er sich nicht anmerken ließ, versprach er, die Sache schnellstmöglich in Angriff zu nehmen; gleich morgen werde er mit seinem Sohn Paul darüber sprechen. Warum auch nicht. Ein Testament aufzusetzen bedeutet, sich einer Situation zu stellen. Also gewissermaßen vorausschauende Politik. Hab mein Leben lang nichts anderes gemacht.
Und dieses Versprechen ist das letzte, an das er sich klar und deutlich erinnern kann. Alles, was danach passierte, verschwimmt in der Rückschau zu einem wilden, traumartigen Durcheinander, einer Zeit ohne Zeit, in der der Schmerz kam und ging. In seinen Wachphasen nahm er Lichtmuster und Bewegungen um sich herum wahr, dann und wann auch, wie unter einem Glassturz, ein verzerrtes Gesicht, das durch sein Blickfeld glitt. Immer wieder hörte er Stimmen, konnte Worte unterscheiden, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich ausgesprochen wurden oder ob es nur seine auf Abwege geratenen Gedanken waren. Einmal meinte er, die Glocken von St. Mariä Heimsuchung zu hören, die vierstimmig zum Gottesdienst riefen, dumpf-melancholisches Stahlglocken-Gedröhne, Geschenk des Bochumer Vereins für Gussstahlfabrikation zu seinem achtzigsten Geburtstag.
Er schlägt die Bettdecke zurück und stellt fest, dass sein schönes dunkelblaues Nachthemd gegen ein kurzes Pflegehemd vertauscht wurde. Und eine Schutzhose hat man ihm angelegt. Alt-Bundeskanzler? Dass ich nicht lache. Sogar der letzte Respekt ist vor die Hunde gegangen.
Er richtet sich halb auf, trotz der dumpfen Schmerzen in Brust und Rücken. Das Laken fühlt sich kühl und glatt an, poliertem Marmor nicht unähnlich. Langsam schiebt er seine Beine über den Bettrand, knochige, papierbleiche Beine mit einem Muster aus violetten Adern. Seine Füße baumeln in der Luft, an den Sohlen schrundige, verhornte Haut, aber die Nägel sind sauber geschnitten. Darauf wurde geachtet. Er rutscht noch ein Stück nach vorn, tastet mit den Zehen nach seinen Lederpantoffeln, aber da ist nichts. Weggeräumt. Keine Überlebenschancen.
Auch seine übrigen Anziehsachen kann er nirgendwo entdecken. Über dem Fußteil seines Bettes hängt ein weißer Medizinerkittel. Vielleicht hat ihn Professor Dyx nach der letzten Untersuchung liegenlassen. Oder er gehört einer Pflegekraft, einem dieser fremden Menschen, die das Zimmer mit ihm geteilt, die Nächte bei ihm verbracht haben. Er stützt sich mit beiden Armen auf die Bettkante, stemmt sich vorsichtig hoch und steht. Merkwürdig formlos fühlen sich seine Beine an. Für einen kurzen Moment hat er das angenehme Gefühl, nicht der Schwerkraft zu unterliegen. Dann ein seltsames Prickeln in den Füßen, Nadelstiche an den Schläfen und ein helles Summen in den Ohren; die Perspektive kippt, und er muss sich schnell wieder hinsetzen.
Es dauert einen Moment, bis sich die Zimmerecken wieder gradlinig zusammenfügen. Als das Schwindelgefühl vorüber ist, kommandiert er sich zu einem zweiten Versuch und erhebt sich. Zögernd schlüpft er in den weißen Kittel; erst mit dem einen, dann, etwas mühsamer, mit dem anderen Arm. In dieser Aufmachung fühlt er sich ein ganzes Stück sicherer. Zitternd vor Anstrengung und gleichzeitig erleichtert, sie bewältigt zu haben, steht er da und wischt sich mit dem steifen Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Schwankend nähert er sich dem Biedermeiertisch, der von der Zimmermitte in die Ecke, in der bis dahin sein Bett gestanden hat, verschoben worden ist, und lässt sich in den Polsterstuhl fallen. Erschöpfung macht sich in ihm breit. Gleichwohl registriert er mit Missfallen, dass auf dem Tisch ein Stapel Illustrierte liegt. Hätten sich die Nachtwachen die Zeit nicht mit dem im Haus vorhandenen reichen Bücherangebot vertreiben können? Nebenan im kleinen Zimmerchen stehen drei Meter Kriminalromane. Außerdem habe ich schon vor Jahren extra den Fernseher anschaffen lassen. Gegen die Langeweile. Die Frauen kommen sonst womöglich auf dumme Gedanken. Gehen in die Stadt, besuchen Wirtschaften, legen sich Verehrer zu. Vor Jahren hat es doch eine geschafft, unten mit einem der Beamten von der Sonderwache anzubandeln; hastenichtgesehen war sie verheiratet und fort. Nein, die Weiber sollen abends hübsch zuhause bleiben. Das Gerät steht im Vorraum der Küche; selten setzt er sich, wenn die Frauen mit ihrer Arbeit fertig sind und sich vor dem Gerät versammeln, für ein paar Minuten dazu.
Für Alleinstehende, die sich anders nicht beschäftigen können, mag das Fernsehen noch angehen. Für Familien ist es pures Gift. Statt geselligem Miteinander nur noch stummes Nebeneinander. Einschalten, um abzuschalten. Unterhaltung frei Haus, wie Strom und Gas.
Hab von Anfang an einen gewissen Argwohn gegenüber dem Fernsehen gehabt. Nicht bloß, weil es auf Kosten von Buch und Theater geht. Und auch das Radio an Attraktivität verliert. Dieses graublaue Geflimmer, und dann das Wechselnde da drin, das ist nicht gut. Zum einen Auge rein, zum andern raus – das funktioniert ja leider nicht. Die Nachbilder kreiseln einem noch die ganze Nacht im Kopf, und das Gehirn wird dadurch kolossal überanstrengt. Ein Buch kann man mal langsamer, mal schneller lesen, das ist ganz in das eigene Belieben gestellt. Wer das Fernsehen mit Aufmerksamkeit verfolgen will, wird automatisch in ein gewisses Tempo eingespannt. Das ist eine viel größere geistige Inanspruchnahme als zwei Stunden lang in einem Buch zu lesen. Der Brando, wie der das erste Mal den Fernsehapparat in Funktion erlebte, hat er bloß mal am Gerät geschnüffelt, ist einmal herum gegangen, hat kurz auf der Rückseite geschnüffelt und sich wieder hingelegt. Würdigt den Apparat seitdem keines Blickes mehr. Kluger Hund. Scharf und klug.
Vor kurzem brachte das Erste eine Sendung über Wisente. War einigermaßen interessant. Jedenfalls nicht uninteressant. Der Wisent ist in Europa das, was in Amerika der Indianerbüffel war. Als Zootier kann er sehr alt werden und dann, genau wie ein Mensch, erblinden und seine Zähne verlieren. So ein Zootier ist aber kein bisschen zahmer als ein wildlebendes. Selbst ein in Gefangenschaft geborener Wisent verliert nie sein Misstrauen, bleibt störrisch und unlenksam. In freier Wildbahn scheinen diese Urviecher ein friedliches Leben zu führen; in der Brunftzeit können sie wild und jähzornig werden, besonders die alten Stiere, und von diesen wiederum besonders die einsiedlerisch lebenden. Es heißt sogar, dass ihre Wildheit im Alter noch zunimmt. Bei jeder Abänderung ihrer Lage und Gewohnheiten kippt ihre an sich friedfertige Gesinnung sofort ins Gegenteil. Grelle Farben mögen sie nicht. Rot soll regelrechte Wut bei ihnen erregen. Die Natur weiß schon, was richtig ist.
Am Vorabend von Kiesingers Besuch lief eine neue Folge der „Unverbesserlichen“. Die erste halbe Stunde habe ich mitgeguckt. Befremdlicher als mit den Komantschen auf Büffeljagd zu ziehen. Dramatisiertes Berliner Familienleben in sozialdemokratischem Milieu. Die Meysel sympathisiert ja öffentlich mit der SPD. Moderne Menschen, diese Unverbesserlichen. Gehen nie zur Kirche, dafür auf den Fußballplatz. Scheidung, Geldnot, Wohnungsmangel, Arbeitslosigkeit, Glücksspiel. Das Normale interessiert nicht, nur die Abweichung. Unverbesserlich, das klingt so wohlwollend. Ach, ihr seid einfach unverbesserlich! Sind sie nicht! Im Gegenteil, sie sind äußerst verbesserungsbedürftig. Unverbesserlich ist jemand wie Don Camillo. Den sollte man mal für das deutsche Fernsehen adaptieren. Schlitzohriger katholischer Priester in einer rheinischen Kleinstadt im ständigen Streit mit dem Bürgermeister, evangelisch und SPD. In der Titelrolle unser Jupp Schmitz. Das wär mal was für die ganze Familie.
Comments